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Arm in einer reichen Stadt

Arm in einer reichen Stadt
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Wo jeder reich ist, geht Armut unter – Luxuskaufhäuser, Autokonzerne und Werbeplakate sind perfekte Scheuklappen. Betroffene sehen die Stadt aber mit anderen Augen. Auch, weil sie selbst oft übersehen werden. In Stuttgart sind mehr als 90 000 Menschen armutsgefährdet.

Stuttgart kontrast-reich. Foto: Martin Storz

Alexandra Mahnke ist arm, und schuld ist ihre große Liebe – die Kunst. Die 35-Jährige mit dem roten Bubikopf nippt in einer Szenekneipe an einem Milchkaffee und saugt mit ihren braunen Augen förmlich die Atmosphäre auf. Hier fällt sie nicht auf in ihrem langen schwarzen Mantel und den grauen Schlupfstiefeln aus weichem Leder. Ob die Leute ahnen, dass die Tasse Kaffee für sie ein Luxus ist? Dass sie einen Lagerraum als Wohnung nutzt, um Geld zu sparen? Dass ihre Mutter alte Kleidung umnäht, wenn sie Lust auf etwas Neues hat, aber das Geld mal wieder fehlt? Dass sie ein Abonnement kündigen musste, weil sogar die Monatszeitschrift zu teuer ist?

Für Alexandra Mahnke ist das alles seit acht Jahren ganz normal. "Wenn ich den Menschen von meiner Situation erzähle, sind sie meist total überrascht", sagt die Choreografin. Ihre Situation, das ist ein Einkommen von 700 Euro im Monat. Oft weniger. Trotz Diplom, Fleiß und Talent.

Tänzerin Alexandra Mahnke, arm aus Liebe zum Beruf. Foto: Ana-Marija BilandzijaWie Mahnke sind über 90 000 Menschen in Stuttgart armutsgefährdet. Sie verdienen weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens in Deutschland (1772 Euro), also unter 1063 Euro im Monat. Hierbei spricht man von relativer Armut. Diese Zahlen sind nachzulesen im <link http: www.boeckler.de _blank external-link-new-window>WSI-Report, den das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der Hans-Böckler-Stiftung im November 2012 veröffentlicht hat. Neben den klassischen Risikogruppen, Alleinerziehenden und kinderreichen Familien, sind immer mehr Menschen betroffen, die man früher zum "Mittelstand" zählte: Menschen in prekären Beschäftigungsverhältnissen, Freiberufler etwa, oder Zeitarbeiter. Und das in der Metropolregion Stuttgart, in der bundesweit am meisten verdient wird, nämlich durchschnittlich 2834 Euro im Monat brutto - weit über dem Bundesdurchschnitt. 

Nimmt man das mittlere Einkommen der einzelnen Großstädte als Grundlage für die Berechnung der Armutsgrenze, so sind 20,8 Prozent der Bevölkerung in Stuttgart von Armut bedroht - das ist die höchste Armutsgefährdungsquote unter allen deutschen Großstädten. Dr. Bernd Eggen vom Statistischen Landesamt Baden-Württemberg hat sich mit den Zahlen auseinandergesetzt. "In einer reichen Stadt wie Stuttgart, wo hohe Löhne bezahlt werden, fällt man schneller unter die städtische Armutsgrenze", erklärt er.

Eggen vermutet, dass die Ursachen oft bei den Arbeitgebern liegen: "Das könnten Nachwehen der Kurzarbeitswelle sein. Es kommen aber auch immer mehr Menschen hinzu, die früher nicht gefährdet waren."

Freischaffende Künstler wie Alexandra Mahnke waren zwar schon immer gefährdet, doch zu Zeiten des Kulturbooms verschließt die Gesellschaft davor die Augen. Stuttgart, die Spießerstadt, die Schwabenmetropole, mausert sich zum Kulturhotspot. In keiner anderen deutschen Großstadt gab es 2012 – umgerechnet auf die Einwohner – mehr <link http: www.hwwi.org publikationen partnerpublikationen berenberg-und-hwwi kultur-staedteranking-2012 gesamtpraesentation.html _blank external-link-new-window>Kulturangebote. Das klingt nach Glanz und Gloria. Doch viele Stuttgarter Künstler krebsen am Existenzminimum herum. Armut hat viele Gesichter. Doch wo Werbeplakate und Großkonzerne hell leuchten, schaut keiner in die dunklen Ecken.

Seit acht Jahren tänzelt Alexandra Mahnke, mehr schlecht als recht, auf zwei Standbeinen durchs Leben. "Fast niemand kann in Stuttgart nur von der Kunst leben", sagt die 35-Jährige. An der Akademie wurde das Thema Geld totgeschwiegen. Mahnke schließt mit einer guten Note ihr Diplom ab und fällt in eine Krise. "Da dachte ich mir: Okay, du bist jetzt diplomierte Tänzerin. Was nun?" Sie hangelt sich von Projekt zu Projekt, arbeitet viele Stunden am Tag für wenig Anerkennung. Sie erzählt: "Es gibt Phasen, in denen ich nachdenklich werde, weil ich keinen anderen Beruf gelernt habe."

Die zierliche Frau mit den wachen Augen hat Glück, denn sie findet eine Stelle bei der Volkshochschule. Immerhin. Die Miete ist gedeckt. Mit Pilates- und Fitnesskursen verdient sie das Geld, um sich den Tanz leisten zu können. "Es kam vor, dass ich meine Rechnungen nicht begleichen konnte", sagt sie. Im Notfall klopft sie bei ihren Eltern an. Sie rührt im Milchschaum ihres Kaffees. Große Schaumblasen steigen auf. "Bei meinen Freunden könnte ich mir kein Geld leihen, die haben selbst nichts."

Geld macht blind, Armut macht unsichtbar

Sie weiß, dass man ihr die Armut nicht ansieht. Und dass sich kaum jemand dafür interessiert. "Das deckt sich nicht mit der romantischen Vorstellung, die alle von Künstlern haben", sagt sie und schnauft.

Das durchschnittliche Jahreseinkommen von Künstlern liegt in Deutschland bei 13 743 Euro. Sie können sich die eigenen Werke nicht leisten, wohnen in Industriegebieten und beuten sich selbst aus. Einkaufszentren und große Theaterbühnen sehen sie selten von innen. Die Königstraße erinnert die Choreografin Mahnke daran, dass es "den meisten hier besser geht", sagt sie. "Geld macht blind." Sie fühlt sich unsichtbar: "Ich schwebe in einer Zwischenwelt, könnte morgen schon entweder zu denen da oben gehören oder ganz abstürzen." Ihre Taktik: Sie arbeitet den ganzen Tag, dann sieht sie nicht, was sie verpasst. Die glänzenden Einkaufszeilen verschwinden hinter den grauen Mauern ihres Alltags. "Und wenn all deine Freunde Künstler sind, vergisst du schnell, wie schlecht es dir geht."

In einem Gemeinschaftsbüro um die Ecke blättert Peter Gorges in einem dicken Aktenordner. Ohne die Buchhaltung würde auch er wohl vergessen, wie schlecht es manchmal aussieht. Der Kabarettist lehnt locker in seinem Schreibtischstuhl, seine Worte sind so frech wie die abstehenden Ohren. Der 44-Jährige stand in letzter Zeit öfter vor der Zahlungsunfähigkeit. Dann hilft ihm seine Frau aus, die eine Buchbinderei betreibt. Reine Glückssache: "Bisher konnten wir immer füreinander einspringen. Und der Kitaplatz für unseren Sohn war ein Lottogewinn. 230 Euro im Monat, inklusive Essen", sagt der zweifache Vater.

Peter Gorges: Es gibt so viele Dünnbrettbohrer, die sich eine goldene Nase verdienen. Foto: Ana-Marija Bilandzija

Er macht fast alles: Als Clown bespaßt er Messebesucher, wühlt Familienfeten auf und malt den Mitarbeitern auf tristen Betriebsfeiern ein Lachen ins Gesicht. Als Lehrer bringt er seinen Schützlingen die Sprechkunst bei; auch als Schauspieler hat er sich versucht. Irgendwie ist er immer durchgekommen, auch wenn sein Einkommen stark schwankt – "von 12 000 bis 30 000 Euro war alles dabei."

Er klopft mit seinen braunen Lederschuhen gegen den Tisch. "Was mich rasend macht, ist, dass die Verantwortlichen komplett den Blick für das wirkliche Leben verloren haben", sagt er. Die Verantwortlichen, das sind für ihn die Entscheider aus Politik und Wirtschaft. "Es gibt so viele Dünnbrettbohrer, die sich eine goldene Nase verdienen."Wenn Gorges an den Stundensatz eines Rechtsanwalts denkt, wird er sauer. Bevor Gorges Spracherziehung studierte, machte er eine Schreinerausbildung. Er hat einen pragmatischen Vorschlag: "Politiker oder Wirtschaftsbosse sollten eine Woche lang bei Bäcker Frank Brötchen verkaufen oder als Tankwart arbeiten", sagt er, sein Ton wird schärfer. "Auf dem Arbeitsamt wurde ich einmal gefragt, wie ich von so wenig Geld leben könnte." Er fasst sich an den kahlen Kopf. "Dass das Beamten ein Mysterium ist, kann ich mir schon denken."

Er hat sich sein Bild von "den Reichen" gemacht, die ihn manchmal für Veranstaltungen buchen. "Je goldener die Nase, desto knauseriger sind die Leute", sagt Gorges. Abstoßend finde er das. Genauso wie die Konsumgeilheit in der Landeshauptstadt. "Für die Armen gibt es Zara und für die Reichen Gucci. Mittlerweile kann man nicht mal mehr unterscheiden, ob man sich in der Innenstadt von Avignon, Åhus oder Stuttgart befindet." Marketing ist ihm zuwider, aber um aus den Schwankungen herauszukommen, geht er jetzt in die Werbeoffensive.

Konsumgeilheit würde Natalia Gulde es wohl nicht nennen, aber das, was sie in der Königstraße sieht, gibt ihr ein gutes Gefühl. Obwohl – oder gerade weil – sie arm ist. Die Alleinerziehende arbeitet von acht bis achtzehn Uhr als Bürogehilfin und verdient 1100 Euro netto. Die Hälfte davon frisst die Miete.

Die Königstraße ist trotzdem ihr liebstes Pflaster. Neidisch ist die 42-Jährige nicht, die Schmuckstücke in den Auslagen und Designerkleider an den einkaufswütigen Frauen motivieren sie sogar. "Ich versuche mich an positiven Dingen zu orientieren, auch an positiven Menschen." Guldes Arbeitgeber ist ein Inkassounternehmen. Sie kümmert sich um Papierkram, bearbeitet Anträge und verschickt sie. In eigenen Angelegenheiten braucht sie hin und wieder Hilfe. Die bekommt sie bei der diakonischen Beratungsstelle in der Hospitalstraße, bei Judith Giesel von Kompass.

Gekocht wird nur, was satt macht

In Russland studiert Natalia Gulde, arbeitet als Diplomingenieurin. 2002 kommt sie nach Deutschland. Ihr Abschluss wird nicht anerkannt, sie macht eine Umschulung zur Bürokauffrau. Und wird nebenbei Mutter. Kurz nach Chantals Geburt trennt sie sich von ihrem Mann. Er meldet die Firma insolvent, Natalia meldet sich arbeitslos. Sie ist jetzt alleinerziehend. Sieben Jahre Schonzeit räumt die Agentur für Arbeit Alleinerziehenden ein, doch Natalia gibt sich mit dreien zufrieden. Arbeitet für einen Euro fünfzig bei einer Jobvermittlung für Jugendliche, stemmt wie selbstverständlich Kind und Haushalt. Glücklich macht sie das nicht. "Ich musste da raus, die Stimmung zog mich runter", sagt sie.

Traurig macht es sie, dass sie ihrer Tochter nichts gönnen kann, aber "die versteht das. Ich habe ein kluges Mädchen", sagt sie stolz. Chantal soll ihr Potenzial entfalten. Anders als die Ingenieurin, die als Bürogehilfin arbeitet. Natalia Gulde ist sich nicht zu schade, für einen Euro zu arbeiten oder in der Reihe vor der Tafel anzustehen. Ihrem Stolz kann die Armut jedoch nichts anhaben. 

"Man muss sich zu helfen wissen", sagt sie und hebt ihre linke Augenbraue, "und ein bisschen kreativ werden." Kleidung kauft sie auf dem Basar oder gebraucht im Internet, im Supermarkt schlägt sie nur bei Sonderangeboten zu. "Am liebsten lege ich dann einen Vorrat an, aber mit fünf Euro im Geldbeutel geht das schlecht." Sie macht es wie Oma: kocht Suppe oder Eintopf, irgendetwas, das satt macht, in großen Töpfen. Das reicht für ein paar Tage. Brötchen vom Bäcker oder Fleisch vom Metzger kommen nicht auf den Tisch.

Wenn es Fleisch gibt, klebt ein roter Punkt auf der Verpackung – sie kauft es nur im Angebot. Sie selbst will ohne roten Punkt herumlaufen. Keiner soll sehen, dass ihre Tochter Chantal und sie arm sind. Sie will dazugehören zum reichen Stuttgart. "Wenn meine Tochter ein schönes T-Shirt sieht, kann ich nicht immer Nein sagen", sie seufzt, "ich kann es ihr nicht antun, nur alte Kleidung aufzutragen." Es sei peinlich genug, dass ihre Tochter niemandem ihr Zuhause zeigen könne. "Das ist ein Saustall. Ich bin abends zu müde, um groß aufzuräumen", sagt sie.

Natalia Gulde will nicht, dass man ihr die Armut ansieht. Foto: Ana-Marija BilandzijaSie sehnt sich nach einem Partner, aber in ihrem Leben ist jetzt kein Platz für einen Mann. Die Armut kratzt auch an ihrem Selbstbild: "Was könnte ich ihm auch bieten? Nicht mal einladen kann ich ihn. Höchstens auf einen Kaffee." Sie grinst verlegen, dann senkt sie die Mundwinkel. Im Café Kompass gönnt sie sich hin und wieder einen Kaffee. Für einen Euro und dreißig Cent serviert die Leiterin Judith Giesel hier Kaffeespezialitäten, die den Produkten der großen Ketten mit den großen Bechern in nichts nachstehen. Die wohlige Atmosphäre gibt es gratis dazu. Loungebänke aus dunklem Holz, rote Sitzkissen, Jazzmusik. An den Fensterbänken ragen Zimmerpflanzen in Richtung Decke. Töpfe aus Terrakotta, Plastik oder Metall, Pflanzen mit breiten, gefächerten oder eingedrehten Blättern. Sie sind so unterschiedlich wie Giesels Gäste.

So chic die Einrichtung auch sein mag – die Themen sind oft ernst. Die Stimmung ist trotzdem gut. "Man darf auch ohne Probleme zu uns kommen", sagt Giesel, eine Frau in schwarzer Samthose und mit blond gesträhnten Haaren. Sie lacht laut und herzlich, das Lachen einer starken Frau.

Ganze Tage könnte sie füllen mit Geschichten, die ihr Gäste erzählen. Sie ist der Kompass, weist ihnen die Richtung. Wenn sie nicht wissen, wo sie welchen Antrag abgeben müssen oder wie sie die Stromrechnung begleichen sollen. Und sie leistet seelischen Beistand, wenn jemand sich nicht verstanden fühlt. "Wenn du Leistungen beziehst, musst du dich immer rechtfertigen", sagt Giesel. "Kein Wunder, dass viele irgendwann resignieren. Staatliche Leistungen werden als Almosen angesehen, Armut als Schwäche." Nicht die Geldnot sei das Schlimme, sondern die fehlende Anerkennung der Gesellschaft. "Menschen wollen gebraucht werden!" Sie reißt ihre blaugrünen Augen auf. "Ich will das Finanzielle nicht kleinreden, aber Anerkennung ist so wichtig."

Natalia Gulde legt ihre Tasche ab und setzt sich schüchtern zu den anderen Gästen im Café Kompass. Heute ist Filmnacht. Auf dem Programm steht "Ziemlich beste Freunde", die Geschichte eines Millionärs, der einen arbeitslosen Kleinkriminellen als Pfleger aufnimmt. Weil er den Mut hatte, in die dunkle Ecke zu schauen.

 


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4 Kommentare verfügbar

  • Ju.So Jürgen Sojka
    am 03.04.2019
    Antworten
    @Ana-Marija Bilandzija,
    auf den Tag vor 5 Jahren Ihr Artikel veröffentlicht, dessen Zustandsbericht sich zu weit schlechteren Verhältnissen entwickelt hat!!!

    Am Mo. 01.04. Die Story im Ersten: [b]Milliardengeschäft Inkasso[/b]…
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