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Premium und Gomorrha

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Leidgeprüfte Kund:innen mögen Bahnfahren oft mit Lottospielen vergleichen, doch DB-Vorstand Michael Peterson wählt ein anderes Bild: "Der Computer berechnet, wie beim Schachcomputer, im Wortsinn zehn Züge voraus." Im Gespräch mit der "Zeit" erläutert er die Strategie der Schadensbegrenzung, wenn Weichenstörungen oder vergleichbare Kalamitäten unumgänglich machen, dass am Ende irgendwer der Gelackmeierte ist. Warum fällt der Halt in Heidelberg schon wieder aus? "Es wird danach entschieden, dass möglichst wenige Fahrgäste betroffen sind", sagt Peterson. Allerdings sind "möglichst wenige" ganz schön viele. Nur 65 Prozent der Fernzüge kamen im vergangenen Jahr mit weniger als sechs Minuten Verspätung an – und da sind die ausgefallenen schon rausgerechnet. Gefragt, wo auf einer Skala von null bis zehn – wobei die zehn für richtig schlimm steht – das vergangene Bahnjahr steht, urteilt selbst der Bahnvorstand: 2022 war eine "Acht, zugegeben".

Es gibt also offenbar noch Steigerungspotenziale, und in der Tat: Laut Peterson ist die Infrastruktur "an so vielen Stellen gleichzeitig kaputt, das System läuft nicht mehr." Insbesondere weil schon seit den 1970ern zu wenig Geld für die Schiene übrig bleibe, "die Schweiz investiert das Fünf- bis Sechsfache pro Einwohner".

Wo der dramatisch verschuldete Konzern über eine allzu knappe Kasse klagt, muss aber wenigstens noch ein bisschen Luft für Luxus bleiben. So eröffnete im Mai 2021 die erste Premium Lounge der Deutschen Bahn, die nicht nur mit lauschigen Ohrensesseln, sondern auch mit Gratis-Leckereien lockte. Bis Anfang dieses Monats durften Reisende der Ersten Klasse hier sogar Gäste ohne eigenes Zugticket mitbringen. In der "Wirtschaftswoche" schildert Kolumnist Marcus Werner, welche Abgründe sich durch die Möglichkeit zur grenzen- und kostenlosen Völlerei aufgetan haben: "Da konnte man beobachten, wie ein Geschäftsreisender beim Verlassen der Lounge drei handtellergroße Schoko-Cookies von der Theke griff und in seine Manteltasche schob, um dann wenige Sekunden später mit versteinerter Miene zurückzukehren, als hätte er etwas vergessen" – um sich "noch einmal drei Cookies in die Tasche" zu stopfen.

Beflügelt wird die enthemmte Raffgier dabei durch den großzügig bereitgestellten Alkohol. Während ein Viertelliter Wein im Bordbistro knapp acht Euro kostet, moniert Werner, dass er im Premiumbereich "gratis bis zum Abwinken" serviert werde. Sodass bereits mittags ordentlich angesoffene Pärchen auch mal ein paar Fläschlein to go einsacken. Die Party ist jetzt so halb vorbei: Heiße Panini, Weizenbier und mehr werden zwar weiterhin kostenfrei zur Verfügung stehen. Aber Zutritt gibt es nur noch mit gültigem Ticket.

Den Bahnreisenden in Stuttgart bleibt dabei wieder einmal nicht viel mehr, als neidisch auf Berlin, Hamburg, Mannheim, Köln, Frankfurt und vor allem natürlich auf München zu schielen. Denn in Baden-Württembergs Landeshauptstadt gab und gibt es keine Premium Lounge – es gibt hier ja auch weniger einen Bahnhof als eine Ansammlung von Gleisen. Das hat, wie wir wissen, mit dem visionären Stadtumgrabungsprojekt Stuttgart 21 zu tun. Während die S-21-Bauarbeiten über die vergangenen Jahre ohnehin für vielerlei Einschränkungen im regionalen Schienenverkehr sorgten, steht im Dienste des Projekts nun ein wahrer Paukenschlag an. Kurzfristig kündigte die Bahn massive Streckensperrungen im S-Bahn-Verkehr an, um mit dem "Digitalknoten Stuttgart" ein Leuchtturmprojekt zu verwirklichen. Auf der Skala von schlimm bis ganz schlimm dürfte hier schon bald eine Elf erreicht sein.


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1 Kommentar verfügbar

  • Fra Treno
    am 15.03.2023
    Antworten
    Wohl wahr: Ein "Leuchturmprojekt"! – geplant und forciert von Armleuchtern…
    Ein Chaos, das immerwährend neues gebiert.
    Bahnkunden, die ihr eintretet in Stuttgart's infarktiöses Herz Europas, lasset alle Hoffnung fahren dahin!
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