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Mehr Wut!

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Vor Kurzem wurde Julie Delpy zur Wutbürgerin. Passenderweise in Stuttgart. Dort steckte die französische Schauspielerin und Regisseurin insgesamt neun Stunden fest, die Deutsche Bahn war schuld. Und weil das Leben kein Film ist, war auch Ethan Hawke nicht zur Stelle wie in "Before Sunrise", Richard Linklaters angenehm unkitschigem Liebesfilm von 1995. In jenem lernen sich Delpy und Hawke auf einer Zugfahrt von Budapest nach Paris kennen. Die Strecke führt über Stuttgart, aber zum Glück steigen die beiden schon in Wien aus, stromern durch die hochsommerlich heitere Stadt und verlieben sich dabei. Im heutigen Stuttgart hätten sie es vermutlich nicht mal aus der Bahnhofsbaustelle rausgeschafft.

Delpy jedenfalls klagte auf Instagram ob ihres unromantischen Zwangsstopps in der Landeshauptstadt über das "schlechteste Zugsystem des Planeten". Zugleich war ihr Wutausbruch, so berechtigt er war, auch ungewöhnlich. Denn wer Bahn fährt, wundert sich immer wieder über den Gleichmut, in dem die Mitreisenden dauernde Verspätungen, ausfallende Züge, heillos überfüllte Züge, defekte Toiletten ertragen. Ehe auch die eigene Wut und Verzweiflung in einen Zustand paralysierter Apathie übergeht.

Mit gelegentlichen Ausnahmen. Kürzlich twitterte Marc Mausch, Pressesprecher der Tübinger Grünen, um 1:43 Uhr nachts aus einem Zugabteil: "Liebe SWEG_SBS, ihr macht jetzt ernsthaft um 1:40 Uhr die Ansage, dass der Zug nach #Tübingen nur weiterfahren kann, wenn einige Leute 'freiwillig' in #Wendlingen aussteigen!? Wie wäre es, wenn ihr einfach nicht nur eine Garnitur schickt." Vier Minuten später brach die Wut aus ihm heraus: "Wieviele Unverschämtheiten muss man sich denn seit #S21 noch bieten lassen. Wann versinkt endlich einer der Entscheider:innen für diesen Scheiß in Scham!? #Mappus #Gönner #Mehdorn #Dürr".

Da war natürlich gleich ein großes Fass aufgemacht, von den unseligen Folgen der Bahn-Privatisierung ab 1994 und den dies vorantreibenden DB-Chefs (Dürr, Mehdorn) bis zu Stuttgart 21, für dessen Durchsetzung der frühere baden-württembergische MP Stefan Mappus auch einen brutalen Polizeieinsatz am 30. September 2010 in Kauf nahm. Letzterer wurde als "Schwarzer Donnerstag" berüchtigt und zog zwei Untersuchungsausschüsse des Landtags nach sich. Wie sehr Mappus und seine Partei an der Verschleierung der Wahrheit und der Banalisierung des Skandals bemüht waren, untermauern neu eingesehene Akten des baden-württembergischen Staatsministeriums seit Kurzem noch mehr.

Der Wut über dieses arrogante Machtgebaren könnte nun auch die Wut über die Beamten in der seit 2011 grün-geführten Regierungszentrale folgen, die die Aufklärung jahrelang verschleppten, aber so richtig scheint es keinen aufzuregen. Während der intellektuell ziemlich schlichte Wutbürger-Begriff, den Spiegel-Reporter Dirk Kurbjuweit 2010 für die Stuttgart-21-Gegner in die Welt brachte, mittlerweile vor allem für die Besorgte-Bürger-Blase angewandt wird und eine eher undifferenzierte und nörgelige Wut auf "die da oben" unterstellt, plädieren wir für ein Revival wohldurchdachter, auf klarer Analyse beruhender, zielgerichteter Wut – oder unseretwegen auch den "Zorn der Vernunft", wie es der Kabarettist Georg Schramm einmal schön formulierte. Denn dafür gibt es mehr als genug Objekte. Ob eine jämmerliche Regelung zum Bleiberecht von Geflüchteten, fehlendes öffentliches Handeln gegen Wohnungsleerstand, das Klimaverständnis der CDU … und und und.


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3 Kommentare verfügbar

  • Paul Russmann
    am 31.08.2022
    Antworten
    Ein sehr guter Gastkommentar von Ulrich Bausch!
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