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Zu den Waffen

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Von einer Nation voller Skrupel, Schutzhelme ins Kriegsgebiet zu liefern, verwandelt sich die Republik binnen weniger Tage in eine, deren Wehretat künftig den dritten Platz der Weltspitze belegen soll. Bejubelt von Bundestagsabgeordneten, die zum Applaudieren aufstehen, und von Springers "Welt", die angesichts milliardenschwerer Militärausgaben frohlockt: "Europa feiert die Geburt eines neuen Deutschlands." Niemand muss Pazifistin sein, um da ein mulmiges Gefühl zu bekommen.

Diejenigen, die bei Ostermärschen auf die Straßen gehen und sich wie der Aktivist Henning Zierock ein Leben lang für den Frieden eingesetzt haben, stehen aktuell vor einem Scherbenhaufen. "Wir lagen falsch", räumt auch Kontext-Autor Winfried Wolf stellvertretend für einen "großen Teil der traditionellen Antikriegsbewegung" ein. Die "Zeitung gegen Krieg", für die Wolf aktiv ist, hatte noch in der jüngsten Ausgabe zu erklären versucht, "warum Russland keinen Krieg will". Inzwischen ist die Verbreitung gestoppt. Recht hätten diejenigen gehabt, schreibt Wolf nun, die "von einem grundsätzlich aggressiven Charakter der Regierung Putin ausgingen". Im breiten Spektrum der politischen Linken ist angesichts der dramatischen Fehleinschätzungen zu Russland unter Putin viel Aufarbeitung nötig. Eine Veranstaltung dazu moderierte am vergangenen Freitag Kontext-Redakteur Minh Schredle mit der Moskauer Journalistin Anastasia Tikhomirova.

Die Weltdeutung ist generell und gerade besonders ein tollkühnes Unterfangen. Unsere Kolumnistin Elena Wolf plädiert dafür, nicht immer alles wissen zu müssen und sich in der aktuellen Situation die eigene Überforderung einzugestehen: "Denn wo oben und unten ist, das weiß, wer ehrlich zu sich selbst ist, momentan wirklich niemand mehr so richtig." Vielleicht ist es ein journalistischer Irrweg, auch dort um möglichst viel Klarheit bemüht zu sein, wo Dilemmata vorliegen: Wie positioniert sich ein friedliebender Mensch, der nicht will, dass autoritäre Staaten den verbleibenden Demokratien eines Tages militärisch überlegen sind? Gegenfrage: Wohin soll das nun einsetzende weltweite Auf- und Wettrüsten führen, wenn das bereits vorhandene Atomwaffenarsenal ausreichen würde, den ganzen Planeten in einen nuklearen Winter zu bomben?

Dass es sich auch und gerade in Zeiten des Krieges lohnt, für Abrüstungsbemühungen, internationale Verträge und eine "Sicherheit aus der Sicht der am meisten Verwundbaren" zu streiten, zeigt unsere Autorin Nanja Boenisch in einem Essay zum Konzept der feministischen Außenpolitik. Eine bemerkenswerte Perspektive liefert auch Kolumnist Joe Bauer, der während der Jugoslawienkriege viel Elend gesehen hat und einer jungen Frau begegnete, die keine Lebensmittel, sondern Schminke wollte: "Wir sind im Krieg, wir wollen allen zeigen, dass wir leben wollen, wir müssen allen zeigen, dass wir uns von ihrem Krieg nicht unterkriegen und zerstören lassen. Wir sind Menschen, wir haben eine Würde, wir müssen schön aussehen."

Bye, bye, Niedlich

Als Wendelin Niedlichs Buchladen in Stuttgart seine große Zeit hatte, waren es noch andere Kriege, die geführt wurden. Der Vietnamkrieg ab Mitte der 1960er hatte, ebenso wie die zäh in den Institutionen gebliebenen Altnazis und der universitäre "Muff von Tausend von Jahren", die Studentenschaft politisiert, die 68er-Bewegung in Gang gebracht. Linke Gruppen demonstrierten auf den Straßen, und wenn die linke Intelligenz diskutieren wollte, dann tat sie das besonders oft und gerne bei Niedlich. Sein Laden wurde so zu einem Treffpunkt, zu einer Kommunikationsdrehscheibe, observiert von den Sicherheitskräften, vor denen Niedlich auch mal im Schaufenster warnte: "Vorsicht! Da drüben steht die Polizei." Später war der Laden dann vor allem für seine, nun ja, Verachtung bourgeoiser Ordnungsvorstellungen und die berüchtigte schlechte Laune seines Inhabers berühmt, 1998 schloss er schließlich. Eine Legende blieb der gebürtige Berliner dennoch, auch wenn er kaum noch in der Öffentlichkeit zu sehen war. Jetzt ist Wendelin Niedlich im Alter von 94 Jahren gestorben.


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