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Dicke Bretter, dünne Luft

Dicke Bretter, dünne Luft
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Die gerne und viel zitierte Aussage, dass es in der Politik um das Bohren dicker Bretter gehe, wird dem Soziologen Max Weber zugeschrieben, auch wenn der vom "langsamen Bohren von harten Brettern" geschrieben hat. Sei's drum, hart oder dick, ausdauernd gebohrt werden muss nicht nur von der Politik. Der Protest gegen Stuttgart 21 ist so ein Beispiel für Beharrlichkeit, die Mahnwache am Stuttgarter Hauptbahnhof, die es seit über elf Jahren gibt, eine sichtbare Manifestation des unverdrossenen Weiterbohrens. Und jetzt besteht sie auch aus dickeren Brettern: Am vergangenen Sonntag wurde das alte Zelt durch eine stabilere Hütte aus Holz ersetzt.

Erst vor Kurzem hatte die Stadt grünes Licht für ein festeres, dauerhafteres Domizil gegeben, und Werner Sauerborn vom Aktionsbündnis gegen S 21 bekannte: "Da muss man Oberbürgermeister Nopper ausdrücklich loben." Ist also wirklich etwas dran, dass dem neuen Stuttgarter Rathauschef die Versöhnung von Projektfreunden und -gegnern ein Herzensanliegen ist?

Warme Worte sind ihm jedenfalls lieber als kalte Abrechnungen, wie Frank Nopper auch bei der Gemeinderatssitzung am vergangenen Mittwoch deutlich machte. Auf der Tagesordnung stand da als erster Punkt die Verabschiedung von Linken-Stadtrat Tom Adler, der sich erst kürzlich in Kontext recht desillusioniert über seine Zeit in der Stadtpolitik geäußert hatte. Vielleicht freute sich Nopper ja, dass Adler ihn in seinem Beitrag über den "bräsigen Filz" in der Landeshauptstadt nicht explizit erwähnt hatte. Jedenfalls flocht der Konservative dem Linken einige auch sprachlich ambitionierte Lobesgirlanden mit Ausflügen in die Heraldik. Thomas Adler habe "einen ganz besonderen Nachnamen", denn der Adler sei ja "das zweitbeliebteste Wappentier nach dem Löwen". Ins Stadtwappen habe es Adler zwar nicht geschafft, aber zu "einer unverwechselbaren Marke im Stuttgarter Gemeinderat". Dann hob der OB das Engagement als Betriebsrat und im Protest gegen Stuttgart 21 hervor, ehe er den Bogen zurück zum Gemeinderat spannte, denn auch auf dem "ruhte das Adlerauge, ruhte Adlers Auge". Fast ein wenig verdattert wirkte der Gelobte daraufhin und wich ob der "freundlichen Worte" auch von seinem ursprünglichen Vorsatz ab, nichts mehr sagen zu wollen. Und bedankte sich bei den helfenden Händen der Stadtverwaltung.

Jene Gemeinderatssitzung war auch deswegen bemerkenswert, weil in ihr der Film "Die doppelte Lücke" des Projekts Stolperkunst gezeigt wurde, der die Lücken in der Erinnerung an die Gleichschaltung der Stadtverwaltung durch die Nazis 1933 zum Thema hat. Am Ende standen Beteuerungen, die Lücken in der Erinnerungskultur schließen zu wollen.

Dass hier durchaus noch Nachholbedarf besteht, ist nichts Neues, und jüngst bewies dies auch Hans-Ulrich Rülke, Fraktionsvorsitzender der FDP im baden-württembergischen Landtag, wo er sich auch schon als flammender Redner gegen die AfD profiliert hat. Das feite den als Polemiker bekannten Rülke allerdings nicht davor, selbst zu völlig deplatzierten Vergleichen zu greifen. Weil es unter der Neuauflage von Schwarz-Grün neue Ämter in der Spitzenverwaltung gibt, warf er Innenminister Thomas Strobl (CDU) vor, einen "Staatssekretärs-Volkssturm" zu beschäftigen. Der Volkssturm, kann und sollte man wissen, war sozusagen das letzte Aufgebot Hitlers am Ende des Zweiten Weltkriegs. Dabei wurden alle bislang noch nicht eingezogenen Männer zwischen 16 und 60 Jahren – halbe Kinder und halbe Greise – ohne große Ausbildung den alliierten Truppen entgegengeworfen, oder besser: unter horrenden Verlusten verheizt.

Referenztechnisch also allerdünnste Luft, die NS-Vergleich-Warnsirene hätte laut heulen müssen, doch statt Demut zu zeigen, bezichtigte Rülke manche seiner Kritiker der Heuchelei. Und schwätzte sich damit raus, er habe sich gar nicht auf die NS-Zeit bezogen, sondern den Sturm auf die Bastille von 1789 gemeint – wobei offen bleibt, worin genau die Parallelen zwischen dem Auftakt der Französischen Revolution und neuen Jobs im Verwaltungsapparat der Landesregierung bestehen sollen. 

Mit der Erinnerung hapert es oft auch bei der weniger weit zurückliegenden Historie. Der Begriff "Gastarbeiter" etwa ist den meisten noch präsent, ihre Geschichte hingegen kennen erschreckend wenige Menschen in Deutschland. Am Beispiel ihres Vaters und anlässlich des 60. Jahrestags des Anwerbeabkommens mit der Türkei gibt Kontext-Autorin Fatma Sagir in einem berührenden Text etwas Nachhilfe und betont: "Diese Geschichte ist unsere Geschichte."


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3 Kommentare verfügbar

  • Götz Zahn
    am 09.08.2021
    Antworten
    Den "Widerstand" gegen Stuttgart 21 betreffend: alleine dieser Begriff ist an Überheblichkeit nicht zu überbieten ganz zu schweigen von dieser sogenannten "Mahnwache".
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