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Mehr Zeit für schöne Dinge

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Wäre nicht schlecht, jetzt bei Daimler in Rastatt oder Bremen zu arbeiten – dann hätte man viel Zeit. Weil Mikrochips fehlen, schickt der Autobauer mehrere tausend Menschen in Kurzarbeit. Gerade bei sommerlichen Temperaturen nicht schlecht für die Betroffenen. Zumal sie nicht nur das Kurzarbeitergeld über die Agentur für Arbeit bekommen, also 60 bis 67 Prozent ihres Nettolohnes, sondern per Tarifvertrag noch eine Aufzahlung von Daimler auf gut 80 Prozent. Da die Tariflöhne bei den großen Autobauern gut sind, dürften die allermeisten ohne größere Einschnitte zurechtkommen. Das sei jeder und jedem gegönnt.

Obwohl es grundsätzlich stutzig macht, dass diejenigen, die Steuern und Sozialabgaben zahlen, schlechte Geschäftspolitik finanzieren. Erst im März hat Daimler 1,4 Milliarden Euro Dividende an seine AktionärInnen ausgeschüttet, weil das Coronajahr mit viel Kurzarbeit so super gelaufen ist. Nun greift der Konzern eben nochmal zu beziehungsweise ab.

Während die einen kurzarbeiten, sind sehr viele Menschen in Langarbeit. Pflegekräfte in Altenheimen und Krankenhäusern zum Beispiel und Supermarkt-Kassiererinnen. Dass Automatisierung, Digitalisierung und auch das Homeoffice für zahlreiche Betroffene zu immer mehr Arbeit in der gleichen Zeit führt, ist schon länger Debattenthema. Dass stetiges Wirtschaftswachstum Menschen nicht unbedingt glücklicher machen muss auch. Und dass es die Umwelt ausbeutet bis zum Kollaps, dürfte sich ebenfalls herumgesprochen haben.

Weil Corona diese Krise noch deutlicher gemacht hat, wurde vor einem Jahr diskutiert, ob nun nicht DIE Gelegenheit sei, unser Wirtschaften zu ändern. Katja Kipping von der Linken machte einen konkreten Vorschlag: Vier-Tage-Woche. Für alle. Mit Lohnausgleich, den anfangs der Staat zahlen sollte. "Quatsch", kommentierte damals Holger Schäfer vom Institut der Deutschen Wirtschaft. Denn: "Wenn Menschen weniger arbeiten, produzieren sie weniger. Und das ist das, was das Wesen der Wirtschaftskrise ausmacht." Und obendrein wäre die Wettbewerbsfähigkeit bedroht.

Die Wettbewerbsfähigkeit brachten schon die Textilfabrikanten 1903 als Argument gegen den Zehnstundentag. Damals streikten im sächsischen Crimmitschau 7.000 Arbeiterinnen 22 Wochen lang für "eine Stunde mehr Leben", wie es damals hieß. Die Fabrikanten hatten angeblich nichts dagegen – wenn der Zehn-Stunden-Tag in ganz Deutschland gelten würde. Wegen der Wettbewerbsfähigkeit. Der historische Kampf ging verloren, bereitete aber den Weg für weitere Auseinandersetzungen, die mit vielen Aufs und Abs erst den Zehn-Stunden-Tag (1914), mit der Novemberrevolution 1918 den Acht-Stunden-Tag und nach dem Zweiten Weltkrieg wieder den Acht-Stunden-Tag brachten, denn die Nationalsozialisten hatten die Arbeitszeit ausgedehnt. Ab 1958 wurde nach der DGB-Kampagne "Samstags gehört Vati mir" sukzessive die Fünf-Tage-Woche eingeführt.

Kämpfe um Arbeitszeit sind immer Machtkämpfe. Wer entscheidet, wann und wie viel gearbeitet werden muss? Wer profitiert von langer Arbeitszeit? Waren es einst die Fabrikanten mit Villa und Sommerhaus, sind es heute meist anonyme Hedgefonds und AktionärInnen.

Kippings Vorstoß von vor einem Jahr ging sang- und klanglos unter. In Spanien ist man mutiger. Ab kommendem Oktober wird dort mit staatlicher Hilfe in rund 200 kleinen und mittleren Unternehmen ein Jahr lang die Vier-Tage-Woche ausprobiert. Etwa 6.000 Beschäftigte dürfen bei vollem Lohnausgleich drei Tage für ihre Familie, Freunde, zum Spazierengehen nutzen und die Regierung hofft auf neue Arbeitsplätze vor allem für junge Leute. Die Idee dazu kam von der kleinen Linkspartei Más País. Deren Chef Iňigo Errejon befand: "Warum versuchen wir nicht, weniger Zeit am Schreibtisch zu verbringen und dafür mehr Zeit für schöne Dinge zu haben?"


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