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Ringelpiez mit der Justiz

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Dieser verflixte Rechtsstaat! Da hat man als Gesetzgeber einen genauen Plan, was der Bevölkerung gut tun soll – und dann muss irgendein blödes Gericht dazwischenfunken. "Vor dem Hintergrund der heruntergehenden Zahlen", ärgert sich der grüne Minister Franz Untersteller über ein aktuelles Urteil, "ist so was immer zu befürchten gewesen." Der Verwaltungsgerichtshof Mannheim (VGH) hat die nächtlichen Ausgangsbeschränkungen in Baden-Württemberg gekippt, was in den Reihen der regierenden Parteien für Unmut sorgt. Eine Klatsche sei die Entscheidung aber mitnichten, meint Wolfgang Reinhart, Chef der CDU-Fraktion. Schließlich gehe es bei solchen Rechtsstreitigkeiten um "das gemeinsame Ringen um das richtige Maß in der Pandemie" – ganz als sei es ein lustiger Ringelpiez, wenn die Justiz eine rechtswidrige Politik in die Schranken weist.

Aber ist das Gerichtsurteil nicht Wasser auf den Mühlen der Populistinnen und "Querdenker"? Naja und nein. Einerseits zeigt die Entscheidung, dass in diesem konkreten Fall tatsächlich eine nicht (mehr) gerechtfertigte Einschränkung von Grundrechten vorlag. Andererseits ist es lohnenswert, sich die Begründung aus Mannheim etwas genauer anzusehen. Denn zwei frühere Eilanträge gegen die inhaltsgleiche Ausgangsbeschränkung sind hier, als die Infektionsraten im Südwesten noch höher lagen, erfolglos geblieben. Im Januar dieses Jahres hatte das Gericht die politischen Maßnahmen also noch als legitim gebilligt. Nun aber, angesichts einer veränderten Lage, verlangt der VGH, die spezifischen Situationen in den einzelnen Stadt- und Landkreisen stärker zu berücksichtigen. So gesehen ist der Richtspruch also Wasser auf die Mühlen des Differenzierens.

Der empirischen Realität ungeachtet werden sich "Querdenken"-Freunde, die zum Jahresende 2020 – also Wochen bevor das Gericht die Verhältnismäßigkeit überschritten sah – zu Tausenden in Leipzig und Berlin demonstrierten, vermutlich in ihrem Protest bestätigt fühlen. Dabei haben sie, wie eine aktuelle Untersuchung zeigt, damals einen Beitrag geleistet, die Infektionszahlen so weit in die Höhe schnellen zu lassen, dass die Ausgangsbeschränkungen vor Gericht bestand hatten. Eine gemeinsame Studie des Mannheimer Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) und der Berliner Humboldt-Universität kommt zu dem Befund, dass zwischen 16.000 und 21.000 Corona-Infektionen direkt auf nur zwei Großdemonstrationen gegen die Maßnahmen zu Eindämmung der Pandemie zurückzuführen seien. Mit Auswirkungen auf das gesamte Bundesgebiet.

Einen bedeutenden Anteil an der Verbreitung selbst in kleinere Ortschaften habe dabei auch "Honk for Hope", der Zusammenschluss von Reisebus-Unternehmen zur Beförderung von "Querdenkern", geleistet. "Wir schätzen, dass diese Gebiete sich zum Jahresende 2020 mit einer um 35,9-Prozent höheren Infektionsrate konfrontiert sahen", so die Forscher – die über ihren Untersuchungsgegenstand hinaus betonen, dass sich durch Demonstrationsverbote viele Ansteckungen hätten vermeiden lassen.

Eine elegantere Variante könnte darin bestehen, politische Versammlungen unter strengen Auflagen zu ermöglichen, die Umsetzung von Hygienekonzepten tatsächlich zu überprüfen und Verstöße auch zu sanktionieren. Und wenn es bedeuten würde, einzelne Hygieneverweigerer in Quarantäne zu stecken – verglichen mit einem nächtlichen Hausarrest für die Gesamtbevölkerung wäre es zweifellos das mildere Mittel. Ansonsten ist der nächste Grundsatzkonflikt programmiert: Gesundheitsschutz gegen Demonstrationsfreiheit.

Wieder kompliziert. So wurden in der Pandemie bereits von der Politik verbotene Demonstrationen vor Gericht wieder erlaubt – andere Verbote wurden aber auch gerichtlich bestätigt, wenn die Infektionszahlen sehr hoch waren. Angesichts bisheriger Erfahrungen scheint der Verdacht nicht ganz ungerechtfertigt, dass die aktuell gewonnenen Erkenntnisse zu Demonstrationen als Infektionsherd von politisch Verantwortlichen gebraucht werden könnten, um bei der Einschränkung der Versammlungsfreiheit etwas zu sehr übers Ziel hinauszuschießen. Ob sich die Justiz schon auf die nächste Runde Ringelpiez freut?


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5 Kommentare verfügbar

  • Rolf
    am 16.02.2021
    Antworten
    Es wundert mich nicht, dass die deutschen Gerichte nicht rigoros gegen die Corona-Spreader bei diesen Querdenker-Hetz-Orgien vorgehen. Das erklärt lauthals die neuere Geschichte dieser deutschen Justiz.

    DENN: Nach dem Krieg war die bundesdeutsche Justiz auf dem rechten Auge über alle Maßen…
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