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Miese Krise

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Der Großkolumnist Harald Martenstein mag sich gedacht haben, ein bisschen Unsinn zu erzählen in schwierigen Zeiten, könne irgendwie lustig sein. So griff er zur Edelfeder und schrieb in seinem jüngsten Werk im "Tagesspiegel", der "Kampf gegen das Auto" sei "zu einem Selbstzweck"geworden. Sodann warnte der frühere Redakteur der "Stuttgarter Zeitung" vor einer "suizidalen Verkehrspolitik" mit "apokalyptischen Folgen für den Sozialstaat", wenn, ja wenn nicht mehr genügend Parkplätze gebaut werden und 800.000 Menschen ihren Job verlieren. Und irgendwann, so prophezeit der besorgte Familienvater, brechen auch die "Lieferketten für Gemüse, Mate und Joghurt" zusammen. Da schlottern selbst den verrückten Fundis von der Ökoterrorsekte die Knie.

Dieser Stammtisch-Monolog in Kolumnenform hat zwar wenig Berührungspunkte mit der empirischen Realität. Aber er ist exemplarisch für ein Phänomen, das sich am besten als "Autohysterie" bezeichnen lässt: Bei Verkehrsfragen agieren diverse JournalistInnen nicht mehr als neutrale Berichterstatter, sondern als Anti-Umwelt-AktivistInnen, die zum Alarmismus neigen und mit Panikmache arbeiten. Moment mal. Der Vorwurf kommt Ihnen bekannt vor?

Nun, er kursiert auch nicht erst seit gestern, nur richtet er sich meist gegen die Klima-Berichterstattung. "Aber die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels als vierte Gewalt zu kontrollieren, ist kein Aktivismus", schreibt aktuell die Journalistin Sara Schurmann in einem Appell an Medienschaffende, das Ausmaß der Krise endlich ernstzunehmen. Fast zeitgleich gab die taz als erste Redaktion der Republik einen Ratgeber heraus, welche Begriffe sich für eine klimagerechte Berichterstattung eignen: "Zum Beispiel: Heißt es Erderwärmung? Oder erwärmt sich die Erde gar nicht so kuschelig – und wir sollten besser Klimaerhitzung schreiben, weil das die fatalen Folgen präziser umfasst?"

Dabei handelt es sich um Entwicklungen in der Medienlandschaft, die wir als Redaktion nur begrüßen können. Zumal Autor Tomasz Konicz erst vor zwei Wochen, in Kontext-Ausgabe 491, analysierte, wie selbst die pessimistischeren Prognosen zum Klimawandel noch zu zuversichtlich waren – und wie ein großer Teil der Medienlandschaft dennoch bemüht ist, einen katastrophalen Zustand gesundzubeten.

Übrigens kam bereits 1968 ein Forscherteam der Stanford-Universität zum Befund, die drastischen Treibhausemissionen könnten innerhalb weniger Jahrzehnte gravierendste Umweltschäden verursachen. Die Pointe: Auftraggeber der Studie war kein Naturschutzverband, sondern das Amerikanische Petrolium Institut, der größte Lobbyverband der fossilen Industrie. Bevor die großen Ölkonzerne zur organisierten Klimawandel-Leugnung übergingen, galt die menschengemachte Erderwärmung als unumstritten. So kursierte beim Ölkonzern Exxon Ende der 70er Jahre ein internes Memo: Der Menschheit blieben höchstens noch fünf bis zehn Jahre, bis politisches Handeln alternativlos würde.

Die traurige Erkenntnis vier Jahrzehnte später: Nicht nur werden die Klimaschutzziele verfehlt – es geht noch nicht einmal in die richtige Richtung. Allen Einsparbemühungen zum Trotz erreichen die globalen Treibhaus-Emissionen regelmäßig Allzeit-Rekorde. Zu befürchten ist, dass irreversible Schäden bereits eingetreten sind. Nun geht es darum, die Folgen der nicht mehr abwendbaren Krise so weit abzumildern, dass ein zivilisiertes Zusammenleben auf dem Planeten perspektivisch möglich bleibt. Obwohl das Problem also etwas ernster ist als Stau und Parkplatzmangel, schreiben die versammelten Martensteins noch nicht von einer "suizidalen Umweltpolitik".

Um als Redaktion zu tun, was im Rahmen unserer Möglichkeiten steht, wollen wir – neben unserer regulär laufenden Berichterstattung zur Klimakrise – unsere Jubiläumsausgabe mit der Nummer 500 diesem, zumindest gegenwärtig, wichtigsten Menschheitsthema widmen.


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