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Alternative Erzählungen

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Dirk Kurbjuweit hat etwas geschafft, was nicht viele von sich sagen können: Er hat die deutsche Sprache be-, oder sagen wir besser, angereichert. 2010 prägte der "Spiegel"-Journalist angesichts der Proteste gegen Stuttgart 21 den Begriff "Wutbürger" für die Demonstrierenden, deren Emotionalität und Lautstärke ihm gehörig auf den Senkel gingen. Außer einer dumpfen Wut saturierter Mittelstandsbürger, die sich gegen jedwede Veränderung und also auch einen neuen Bahnhof richte, vermochte er wenig zu erkennen, verteidigte Wort und Deutung auch 2013 gegenüber Kontext. Nun sind es nicht immer die tiefgründigsten Analysen, die verfangen. Der "Wutbürger"-Begriff machte sich frei von seinem Ursprung, kam später auch bei Pegidisten, AfDlern oder Windkraftgegnern zum Einsatz.

Was die Proteste der selbsternannten "Querdenker" angeht, die sich am Samstag zu Tausenden in Berlin einfanden, ist Kurbjuweit konzilianter. Am Montag kritisierte er auf "Spiegel.de" die SPD-Vorsitzende Saskia Esken dafür, die Protestierenden "Covidioten" genannt zu haben. Denn, so Kurbjuweit, "es ist noch weniger als sonst die Zeit, in der man etwas genau wissen kann. Und deshalb ist derjenige, der eine andere Meinung hat, nicht ein Idiot, sondern einer, der einer anderen Erzählung folgt."

Einer, der einer anderen Erzählung folgt. Hm. Da gibt es ja so manche. Einer der berühmtesten soll im Weißen Haus sitzen, wobei, das ist ungerecht, bei ihm sind es viele, oft wechselnde Erzählungen. Eben jener jedenfalls hatte mal eine Pressesprecherin namens Kellyanne Conway, die ein wunderbares Synonym für "andere Erzählungen" verwendete, wie sagte sie gleich?

Nun könnte man auch noch ein paar Zeilen verlieren zum Migrationshintergrund des jüngeren Modegebrauchs von "Erzählung". Der entwickelte sich aus dem ebenfalls inflationären Anglizismus "Narrativ". In seinem wissenschaftlichen Ursprungshabitat bezeichnet "narrative" oft so etwas wie einen in einer Gesellschaft oder Gruppe verbreiteten Mythos. Der kann fortschrittlich sein oder reaktionär – wie etwa der Mythos von der sauberen Wehrmacht und dem vermeintlichen Widerstandskämpfer Erwin Rommel. Selbst wenn Mythen irgendwann widerlegt sind, können noch, beispielsweise, Bundeswehreinrichtungen nach ihnen benannt sein – was sich aber im Falle der beiden Rommel-Kasernen nicht mehr halten lasse, wie der Historiker Wolfram Wette in dieser Ausgabe betont.

Von diesem Beispiel ist man wieder erstaunlich schnell bei der Berliner Demonstration vom Samstag. Dank der New York Times. Die berichtete: "Der Protest unter dem Motto 'Tag der Freiheit' – ein Titel, den auch ein 1935 gedrehter Nazi-Propaganda-Film von Leni Riefenstahl trug – wurde unterstützt von bekannten Neonazi-Gruppen und Verschwörungstheoretikern, daneben Deutschen, die nach eigenen Angaben genug haben von den Einschränkungen des öffentlichen Lebens durch die Regierung." Besagter Riefenstahl-Film trug übrigens als vollen Titel "Tag der Freiheit! – Unsere Wehrmacht" und sollte dazu dienen, mit Aufnahmen von Schaumanövern der Streitkräfte die wiedergewonnene militärische Stärke Deutschlands zu demonstrieren.

Zurück zum Wutbürger-Begriff: Der ist mittlerweile auch bei den Demonstrationen der Corona-Leugner in Gebrauch, und, wie man am Wochenende sehen konnte, sind dort auch gelegentlich Symbole des S-21-Protests präsent. Stützt das nun Kurbjuweits Ursprungsthese, sind hier die gleichen Protesttypen zugange? Klaus Gebhard, Initiator des Parkschützer-Portals, erkennt keinerlei grundsätzliche Gemeinsamkeiten: Auf die Protestbewegung gegen S 21 sei er immer stolz gewesen, "weil sie die fachliche Expertise und die Logik an erste Stelle bei ihrer Beurteilung eines fehlmotivierten Großprojekts setzte". Das sieht er bei den Corona-Leugnern nicht, und deswegen mache ihn das durchgestrichene Stuttgart-21-Schild auf der Berliner Demo "sprachlos, wütend und traurig zugleich", wie er  in seinem Kontext-Beitrag ausführt.

Klar ist: Homogen sind Protestbewegungen nie, aussuchen können sie sich ihre Mitstreiter nicht. Sehr wohl aber haben es die Beteiligten in der Hand, wie sie mit Leuten in ihren Reihen umgehen, die Reichskriegsflaggen oder "88"-Tattoos spazieren tragen.

Und natürlich sind Protestbewegungen auch dynamisch: Politisch ziemlich grün angehaucht war die Bewegung gegen Stuttgart 21 noch vor zehn Jahren, selbst ein späterer Ministerpräsident stand da mal auf der Demo-Bühne. Und was der dabei sagte, fanden wir bei Kontext durchaus dokumentierenswert. Wie viele der damaligen grünen Obenbleiber es auf die S-21-Skulptur von Peter Lenk geschafft haben, verrät der Künstler einstweilen nicht. Das wissen wir im Oktober: Spätestens dann  soll das Denkmal am Stuttgarter Stadtpalais aufgestellt werden.


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1 Kommentar verfügbar

  • Larissa Huber
    am 05.08.2020
    Antworten
    Ergänzend sollte noch gesagt werden, dass die taz das Wort Wutbürger erfunden hat, schon vor S21-Zeiten.

    Siehe hier:
    https://taz.de/!348576/
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