Die Älteren unter uns, eine einschlägige Vita vorausgesetzt, werden sich noch an das Reinigungsinstitut "Kritik und Selbstkritik" erinnern. Errichtet wurde es einst von Josef Stalin, weiterentwickelt von Mao Tsetung und in der Folge der 1968er von diversen K-Gruppen zu neuer Blüte gebracht. Sie sicherten die Macht in ihren Kleinstparteien, indem sie abweichenden GenossInnen wahlweise bohemienhaftes Leben oder mangelndes Vertrauen in die Arbeiterklasse vorwarfen und vollkommene Selbstreinigung dieser kleinbürgerlichen Individuen verlangten. Vieles davon erinnerte an die katholische Kirche, vieles davon tritt wieder ans Tageslicht. Das Rechthaben, das Verletzen, das Drohen. Seit Corona.
Der evangelische Pfarrer Martin Poguntke, den Stuttgart-21-Gegnern wohlbekannt, hat dazu einen klugen Aufsatz geschrieben, den wir insbesondere den KritikerInnen der KritikerInnen empfehlen. Vielleicht geht es ja, mal einen Schritt zurückzutreten, wie Poguntke anregt, darüber nachzudenken, ob die eigene Position unfehlbar ist und die andere nicht völlig falsch? Es könnte helfen, zerschnittene Tischtücher zu flicken, Gräben zuzuschütten und zu einer Gemeinsamkeit zurückzufinden: zur Kritik an den Regierenden. Unter Vermeidung des "intellektuellen Kurzschlusses", dass alles, was die Regierenden beschließen, schon deshalb korrupt und irrational ist, weil es eben diese Regierenden beschlossen haben. Allein diese Vorstellung auszuhalten, wäre schon ein Fortschritt.
Die Psychologie hat dafür den Begriff der "Ambiguitätstoleranz" gewählt, der nichts anderes meint, als Unübersichtliches, Widersprüchliches, Mehrdeutiges zu ertragen, bis hin zum Vagen unserer Existenz. Im Lichte der Covid-19-Dynamik hat die Kolumnistin Samira El Ouassil bereits vor über einem Monat einen Text geschrieben, der diese Ambiguität zum Thema hat und bei der Erkenntnisgewinnung ebenfalls weiterhilft. Er trägt den Titel "Corona und die schwer erträgliche Vorläufigkeit unseres Wissens", erschienen auf dem medienkritischen Portal "Übermedien", und er ist ein vorzügliches Beispiel dafür, dass nichts in Stein gemeißelt ist. Sie habe gelernt, schreibt die Zeitungswissenschaftlerin, dass die Krise auch eine "tägliche Versöhnung mit kommunizierter Fehlbarkeit" ist.
Für uns Journalisten ist das kein Freibrief, nur die Einsicht in die Begrenztheit des eigenen Handelns. Martin Poguntke nennt es das "Ungewissheitspotenzial", das jeder Corona-Tag für uns bereithält und so groß ist, dass man sich mit grundsätzlichen Bewertungen zurückhalten sollte. Einverstanden. Bei manchen würde es aber auch schon genügen, mal tief Luft zu holen.
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Verena Saisl
am 30.04.2020