KONTEXT:Wochenzeitung
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Sisyphos & Friends

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Zum Streitgespräch über die Deutsche Bahn ist Arno Luik mit dem Auto angereist. Aus Notwehr, wie er betont. Für den Heimweg nach Königsbronn hätte er um 21.17 Uhr in den Zug steigen müssen, um noch am selben Tag anzukommen, Umsteigezeit in Herrenberg: vier Minuten. Das Risiko, auf der Strecke zu bleiben, erschien dem Bahnkenner zu hoch.

Gerammelt voll war es am vergangenen Mittwoch im Tübinger Bootshaus. Kontext hatte geladen, knapp 300 BesucherInnen drängten sich im großen Saal, um sich anzuschauen, wie Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) und Kontext-Autor Luik über Zustand und Zukunft der DB im Allgemeinen und – das war von vornherein klar – Stuttgart 21 im Besonderen debattieren. Beide sehen das Milliardengrab kritisch. Der Politiker verweist darauf, dass es in keinem Parlament je eine Mehrheit für einen Ausstieg gegeben habe, und will das Großprojekt deshalb konstruktiv verbessern. Der Journalist hält es hingegen für unmöglich, eine "durch und durch irrsinnige Planung" damit noch zu retten. Immerhin tausche man einen perfekt funktionierenden Bahnhof für sehr viel Geld gegen eine weniger leistungsstarke Tiefhaltestelle mit schiefen Gleisen und potenziell lebensbedrohlichem Brandschutz. Da wurde es durchaus hitzig zwischen den beiden.

Tübingen haben wir uns als Veranstaltungsort ausgesucht, weil die Diskussionsteilnehmer eine gemeinsame Vergangenheit verbindet. Beide verbrachten hier Studienjahre. "Wir wollten damals die Revolution", sagt Luik. Auch Hermann?, will Moderator Stefan Siller wissen. Nein, der lehnt Revolutionen kategorisch ab. Denn alle, die es bisher gegeben habe, so der Minister, seien blutig verlaufen, und keine sei gelungen. Da mag ihm Ludwig XVI. recht geben. Die meisten unserer Nachbarn links des Rheins würden aber zumindest den zweiten Teil des Statements vermutlich etwas anders sehen. Er habe, sagt Hermann, der undogmatischen Linken angehört und vertraue "auf Transformation, nicht Revolution".

Den Ruf ihrer Anfangsjahre als wüste Revoluzzer, den die Grünen vor allem den ganz braven Konservativen zu verdanken haben, hat die Partei inzwischen ohnehin überwunden. Um Revolution ging es ihnen aber schon in den frühen 1970ern nicht, sondern ums Füllen von Lücken, die die etablierten Parteien gelassen hatten, wie unser Autor Michael Weingarten in dieser Ausgabe nachzeichnet.

Von revolutionären Bemühungen merkt man auch bei den Stuttgarter Grünen wenig, selbst Transformationen scheinen sie skeptisch gegenüberzustehen. Keine Experimente, sagte ja schon ein gewisser Adenauer. Und nachdem die CDU schäumte, als der grüne OB Fritz Kuhn kürzlich öffentlich vom Ziel einer "autofreien Innenstadt" sprach, die gar nicht wirklich eine autofreie Innenstadt sein soll (Kontext berichtete), merkte selbst StN-Kommentator Josef Schunder an, die Kritiker "müssten inzwischen wissen, dass Kuhn unter die Rubrik Grüne light fällt und ganz gewiss kein Autofahrerschreck sein will".

Ob das auch die Delegation aus Barcelona wusste, die vergangene Woche in Stuttgart zu Gast war? Sie wollte nicht hören, wie die Schwaben demonstrieren, sie wollte sich über Mobilitätskonzepte und die Bekämpfung des Feinstaubproblems austauschen. Die Katalanen setzen dabei eher auf mehr Elektrobusse. Womöglich dient ihnen aber auch die ein oder andere Stuttgarter Maßnahme als Vorbild. Etwa die Feinstaubsauger von Mann+Hummel (regionale Wirtschaftsförderung!), die man wunderbar neben den Messgeräten positionieren kann. Spaß beiseite: Sich in Stuttgart nach Ratschlägen für gute Luft zu erkundigen, ist in etwa so, als würde sich ein Logistikunternehmen für den Transport größerer Güter in Bergregionen Hilfe beim altgriechischen Experten Sisyphos holen. Und jetzt kommen Sie mir nicht mit Camus!

Ein wenig an Sisyphos erinnerte oft auch der große Sozialdemokrat Erhard Eppler, der am vergangenen Samstag im Alter von 92 Jahren verstorben ist. Weil er immer wieder (vergeblich) versuchte, seine Partei an ihr soziales Gewissen, an die Bedeutung der Ökologie zu erinnern. Weil er den Marktradikalismus geißelte. Mehrmals kam Eppler in den letzten Jahren in Kontext zu Wort (hier, hier und hier), und auch Johanna Henkel-Waidhofer hat ihren Nachruf auf den unbeugsamen Sozialdemokraten aus Schwäbisch Hall mit zahlreichen seiner weitsichtigen Zitate gespickt, die heute noch erschreckend aktuell wirken. Erst recht, wenn man den Zustand der Sozialdemokratie in Europa betrachtet.


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6 Kommentare verfügbar

  • Paul Stefan
    am 26.10.2019
    Antworten
    Man hätte von Herrn Luik gerne erfahren, wie er sich eine Abkehr von S 21 vorstellt – angesichts der Tatsache, dass in den Parlamenten in Berlin und Stuttgart CDU, SPD und FDP – alle radikale S2-Befürworter – eine satte Mehrheit haben. Auch die Annahme, die Volksabstimmung sei inzwischen ungültig,…
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