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Autogerecht? Menschengerecht!

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Zugegeben, wir hatten bis zuletzt leichte Zweifel. Dass das Verwaltungsgericht Stuttgart der Klage der Deutschen Umwelthilfe (DUH) folgen und, wie am vergangenen Freitag geschehen, Fahrverbote als "derzeit einzige geeignete Maßnahme" bezeichnen würde, Stickoxid-Emissionen in Stuttgart "schnellstmöglich zu reduzieren". Denn dass ausgerechnet ein Gericht in der Daimler- und Porsche-Stadt Stuttgart, deren autogerechter Aus- und Umbau nach dem Krieg ein stadtplanerisches Dogma schien, gegen die uneingeschränkte Freiheit des Individualverkehrs urteilen könnte – das erschien uns fast so wild, als würde ein grüner OB plötzlich gegen Flüchtlinge … ähem.

Aber Richter Wolfgang Kern vom VG Stuttgart interessiert sich offensichtlich wenig für die Befindlichkeiten von reflexhaft aufschreienden Interessengruppen. Er interessiert sich eher für das Grundgesetz, genauer, dessen Artikel 2: "Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit." Und daher seien auch Fahrverbote schon ab 2018 "unter keinem denkbaren Gesichtspunkt unverhältnismäßig", so Kern, "weil die Gesundheit der Bevölkerung höher einzuschätzen" sei als das Recht auf Eigentum und die Handlungsfreiheit der Autobesitzer. Kurz: Das Gericht hat der Klage der DUH stattgegeben, "weil wir uns an das geltende Recht halten", wie Kern seine Urteilsbegründung am Freitag schloss. Worauf lauter Beifall im Gerichtssaal folgte.

Das heißt nichts anderes als: Die Stadt muss in erster Linie menschengerecht sein. Nicht autogerecht. Ein wegweisendes Urteil, eine "Zäsur", wie die "Süddeutsche Zeitung" schrieb, während DUH-Chef Jürgen Resch sich allzu euphorischer Deutungen enthielt. Es sei nach vielen schon gewonnen Verfahren "eine weitere wichtige Entscheidung". Aber er hoffe, "dass es das letzte grundsätzliche Etappenziel ist".

Ob nun Zäsur oder Etappenziel, das Urteil polarisierte schon unmittelbar nach seiner Verkündung. Der Stuttgarter Korrespondent einer großen deutschen Tageszeitung zischte schon beim Verlassen des Gerichtssaals "skandalös, skandalös" vor sich hin. Dass es auch an der wirtschaftsfreundlichen Medienlandschaft lag, dass die immer neuen Fehler der deutschen Autoindustrie es nicht ins Bewusstsein der Bevölkerung geschafft haben, rekonstruiert denn auch Kontext-Autorin Johanna Henkel-Waidhofer in ihrem Artikel <link https: www.kontextwochenzeitung.de politik autogipfel-4511.html internal-link-new-window>"Auf dem Holzweg". Wobei sie nicht nur den Verdrängungsdrang der Politik und der Medien, sondern auch eines weitgehend desinteressierten Publikums geißelt. Und darstellt, dass viele Probleme zwar schon früh erkannt, aber nie angegangen wurden.

An einem konkreten Beispiel illustriert das Dietrich Heißenbüttel in <link https: www.kontextwochenzeitung.de politik duo-bus-esslingen-4512.html internal-link-new-window>"E-Mobilität ohne Daimler". Von einem "Entwicklungsprojekt Elektromobil" von Daimler und VW lesen wir da – nicht als Reaktion auf den aktuellen Diesel-Skandal, sondern ein halbes Jahrhundert früher. Geworden ist daraus nichts.

Dass der Weg zu einer menschengerechteren Stadt und zur Einhaltung von Artikel 2 GG auch, ei der Daus, mittels Muskelkraft funktionieren kann, zeigt schließlich Kontext-Redakteurin Anna Hunger in ihrem Artikel <link https: www.kontextwochenzeitung.de ueberm-kesselrand lastenraeder-aus-aller-welt-4513.html internal-link-new-window>"Mit den Lastenrädern bis ans Meer" samt einer Bildergalerie auf. Sicher nicht die einzige Alternative zu den bestehenden Mobilitätskonzepten. Aber eine pragmatische und schnell verfügbare, die momentan weltweit die Innenstädte erobert. Auch als Autostädter muss man eben mal über den Kesselrand schauen.


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6 Kommentare verfügbar

  • Marla V
    am 06.08.2017
    Antworten
    Da hat doch im juli 2017 jmd vorhergesagt:
    "Was als politische Maßnahmen – sicherlich in oder kurz vor den Sommerferien – vorgestellt werden wird, deutet sich jetzt schon an: Es wird eine Verbesserung des öffentlichen Nahverkehrs gefordert, und es werden ein paar zusätzliche Millionen dafür…
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