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Peinliche Menschen gibt es überall. Aber müssen wir uns für sie fremdschämen? Kontext-Autor Thomas Rothschild meint nein. Das sei genau so blöd, wie sich am Aperol Sprizz fest zu halten.

Peinliche Menschen gibt es überall. Aber müssen wir uns für sie fremdschämen? Oder ist das nicht genauso genau so blöd, wie sich am Aperol Sprizz fest zu halten?

In der zu Recht berühmten Zeitschrift "Für Sie" stellte sich die Autorin Evelyn Holst die bange Frage: "Hat meine Mutter mehr Sex als ich?" Das interessiert uns natürlich. Zur richtigen Antwort führt das Töchterlein in seiner lockeren Art: "'Mama, chill mal', sagte meine 16-jährige Tochter kürzlich, weil ich etwas unentspannt reagierte, als Oma und Enkelin über Intimrasuren diskutierten. Sie hat ja recht. Meine Mutter hat kein Problem, ich habe eins. Wo steht denn, dass eine fast Siebzigjährige sich nicht wie ein Teenie benehmen darf? Warum also sollte ich mich für meine eigene Mutter fremdschämen?"

Wer das Geburtsjahr von Evelyn Holst kennt, weiß, dass sie keine fast siebzigjährige Mutter haben kann. Es handelt sich also um Fiktion. Aber wie fast jede Fiktion, enthält auch diese eine tiefere Erkenntnis: Das Modewort der Saison heißt "Fremdschämen". Es klingt ähnlich widerlich, wie das Modegetränk der Saison, der "Hugo", ein mit Holunderblütensirup gepanschter Prosecco, schmeckt. Jeder Trottel führt das Wort im Munde, weil er in seiner Sprachlosigkeit nach jeder Prothese greift, die ihm die Medien anbieten, wie der Gast an der Stehbar sich am Aperol Sprizz oder eben am Hugo festhält, wenn er in seiner Orientierungslosigkeit nach einem gerade gängigen Verhaltensmuster lechzt. Die Minze im Glas ist nur das Tüpfelchen auf dem i der Belanglosigkeit.

"Fremdschämen" (auch: "Fremdscham") wird als Wort lediglich durch die Sache unterboten, die es bezeichnet. Mit "Fremdschämen" ist ein Gefühl der Scham gemeint, welches das (vermeintliche) Fehlverhalten oder die Normverletzung durch Angehörige eines Kollektivs auslöst, dem man sich in der Regel auf die eine oder andere Weise zugehörig fühlt. Es ist rational betrachtet ebenso unsinnig wie die längst zu Grabe getragene Kollektivschuld. Denn wie man sich sinnvollerweise nur wegen selbst verantworteter Taten schuldig fühlen kann, so braucht man sich, wenn überhaupt, nur für selbst an den Tag gelegtes Verhalten zu schämen. Und wie die Kollektivschuldthese von der tatsächlichen Schuld Einzelner ablenkte, sie relativierte, so entlastet das Fremdschämen jene, die zur Scham Ursache hätten und sie meist nicht empfinden.

Das Fremdschämen deutet aber zugleich auf einen Defekt dessen hin, der es für sich behauptet: Er nimmt sich einfach zu wichtig. Er bezieht, was andere tun oder sagen, auf sich, als hätte er es wie der liebe Gott persönlich veranlasst.

Eher als für Empathie spricht das Fremdschämen für die Furcht, dass einen Zugehörige der Bezugsgruppe blamieren könnten. Wie das Kind sich schämt, wenn die Mutter im Dorf als Flittchen oder der Vater als Säufer bekannt ist, so schämen sich Deutsche für das halbdebile Schlagersternchen, das beim Song Contest eine lächerliche Figur macht. Das ist natürlich ebenso idiotisch, wie wenn Deutsche darauf stolz sind, dass eine deutsche Fußballmannschaft Weltmeister oder ein Deutscher Papst wurde. Produktiver wäre es, wenn jeder Einzelne so handeln würde, dass er sich für seine Taten nicht schämen muss, dass er auf sie stolz sein kann.

Genauer betrachtet ist das Fremdschämen, anders als das Mitleid, häufig Ausdruck einer herablassenden Arroganz. Es besagt: der Andere benimmt sich peinlich, er weiß nicht, was sich gehört. Ich hingegen weiß es besser und schäme mich daher stellvertretend. Wenn Kaltherzigkeit einen Mangel an Fantasie und Einfühlungsvermögen bedeutet, wenn Mitleid einer Vorstellung von fremdem Leid und einem daraus resultierenden Mitgefühl entspringt, so hat das Fremdschämen weder mit Einfühlung, noch überhaupt mit anderen Menschen zu tun, sondern nur mit dem Subjekt, das sich für etwas schämt, das ihn nichts angeht. Es bläht sich auf. Es will bevormunden. Es beansprucht für sich, die Souveränität des Anderen missachten und dessen Verhalten kolonialisieren zu dürfen. Der viel geschmähte Gutmensch hat, im besten Fall, anderen geholfen oder zumindest Vorschläge gemacht, wie die Welt zum Besseren bestellt werden könnte. Der Fremdschämer macht nur andere runter.

Der Fremdschämer beansprucht für sich eine Intimität, die ihm nicht zusteht. Diese Usurpation einer Privatsphäre äußert sich auch in Nachrufen, wie man sie im Netz zuhauf lesen kann. Die Fans und Wichtigtuer, die sich nach dem Tod eines Prominenten im Internet massenhaft zu Wort melden, haben dabei ihre eigene Rhetorik. Sie sprechen in den allermeisten Fällen den Toten an. Der kann Atheist gewesen sein, liest sicher nicht mehr online, aber seine Verehrer strapazieren das religiöse Modell, das so tut, als würde der Verstorbene nach dem Tod weiter leben und aus dem Jenseits wohlgefällig auf seine Nachruf-Amateure herabblicken. 

Mehr noch: sie quatschen nicht nur den Toten irgendwie an - sie duzen ihn, auch wenn sie ihn zu Lebzeiten nicht gekannt haben. Das ist nicht das Du von Familienmitgliedern und engen Freunden, es ist nicht das sozialistische, proletarische oder gewerkschaftliche Du, das unter Genossen gilt (oder jedenfalls einmal galt), es ist auch nicht das skandinavische oder Berliner Du. Es ist einfach eine impertinente Anbiederung, mit der die absolut unmaßgeblichen Hinterbliebenen sich Bedeutung erschwindeln wollen, sich eine innige Nähe zum Verstorbenen anmaßen, die ihnen die Wirklichkeit verweigert hat und die ihnen nicht gebührt. Sie sind die Aasgeier der Berühmtheit, die postmortalen Autogrammjäger, und der Tote kann das Autogramm nicht abschlagen, weil er ja tot ist. Der Verzicht auf einen Nachruf ist besser als solche geschleimten Selbstdarstellungen auf Kosten des Toten. Der ist ihnen ausgeliefert wie der Lebende der unerbetenen Scham der Fremdschämer.


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