KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Nach Fukushima

Nach Fukushima
|

Datum:

Wie haben wir zulassen können, dass jeder Bürger in Europa heute im Einzugsbereich mehrerer GAU-fähiger Reaktoren lebt? Das fragen Ana und Andreas Adzersen ihren Vater. Der Grund sind Technikgläubigkeit und Bequemlichkeit, antwortet Karl Heinrich Adzersen, Arzt und Mitarbeiter des Krebsforschungszentrums in Heidelberg.

 

Liebe Ana, lieber Andreas,                                           Heidelberg, im Mai 2011

wie Ihr wisst, beschäftigt mich die Atomkraft, seid ihr geboren wurdet. Du, Ana, bittest mich jetzt um eine Einschätzung der Katastrophe von Fukushima. 

Fukushima hat die Achtlosigkeit, mit der wir die alten Sorgen haben schläfrig werden lassen, hinweggefegt, und ich frage mich mit erneuter Intensität, auch als Arzt: Was haben wir zugelassen mit dieser Atomtechnologie in den letzten 50, 60 Jahren? Was ist das für eine Technik, die so auf unseren Körper wirken und unser Leben so destabilisieren kann? Mein Brief ist ein Versuch, die Situation diagnostisch besser zu verstehen, der Prozess der Heilung scheint noch ziemlich ungeklärt.

Als Ihr noch in der Schule wart, haben wir manchmal über das "Atomzeitalter" geredet. Und ich musste Euch sagen: Wir wussten als junge Menschen eigentlich nicht, was passierte. Alles wurde irgendwie unter der Decke gehalten. Wir hörten von Kernwaffentests der Russen und Amerikaner, aber nichts über Fallout und Radioaktivität. Später war klar: 

1945 Hiroshima und Nagasaki, 500 atmosphärische Atombombenversuche während meiner Kindheit in den 50er- und 60er-Jahren, die Unfälle 1956 in Kyshtym/Majak, 1957 in Windscale/Sellafield, 1979 in Harrisburg, 1981 in La Hague, über Jahrzehnte Tausende von Nuklearsprengköpfen abschussbereit in den Arsenalen, dann 1986 der Super-GAU in Tschernobyl und jetzt Fukushima. Trotz des unübersehbaren Menetekels an der Wand ist offensichtlich, dass wir Bürger unser "Recht auf Unversehrtheit", auf ein angstfreies Leben erst noch durchsetzen müssen, gegen die Uneinsichtigen, AKW-Lobbyisten, angestellten Manager, einige Anteilseigner und unbelehrbare Politiker.

Doch auch diese sollten wissen: ihre Körper und die ihrer Kinder und Kindeskinder werden im Falle einer Katastrophe nicht verschont. Radioaktivität ist klassenlos, sie unterscheidet nicht zwischen sozialen Schichten. Nukleare Unfälle und mögliche Schäden werden zwar berufs- und interessenspezifisch verharmlost, verschwiegen oder intransparent gemacht, eine radioaktive Wolke jedoch trifft, wenn sie kommt, Reiche und Arme, jeden Körper, jedes Haus und jede Fabrik.

Du, Ana, hast gesagt, die Fakten könnte ich weglassen.

Das stimmt – teilweise. Die Fakten sind bekannt; wer wissen will, der weiß. Aber einige Fakten sollten wir uns doch noch einmal bewusst machen, weil man sie immer wieder beiseite schiebt. Mindestens seit Tschernobyl wissen wir um die gesundheitlichen Risiken von Jod-131 für die Schilddrüse bei Unfällen. Aber dass die Strontium-90-Ablagerung im Knochen gefährlich für das Knochenmark ist, Cäsium-137 für die Niere, Plutonium-239 für Lunge und Leber, das wurde schnell vergessen. Und vorstellen mag man sich gar nicht, dass die Hälfte einer aufgenommenen Pu-239-Menge 40 Jahre in der Leber verbleibt und im Skelett 100 Jahre (biologische Halbwertszeit).

Ihr habt sicher mitbekommen, dass in Weißrussland Schilddrüsenkrebs und andere Krebsarten bei Kindern und Erwachsenen in den verseuchten Gebieten zugenommen haben. Bei gezüchteten Waldmäusen und den Nachkommen verstrahlter Wildtiere finden sich zahlreiche  Chromosomenanomalien, wie Dr. Rose Goncharova im Institut für Genetik und Zytologie der weißrussischen Akademie der Wissenschaften in Minsk nachweist.

Oft habt Ihr gefragt, liebe Ana, lieber Andreas, was denn so gefährlich ist an dieser Radioaktivität.

Die Antwort ist, dass alle lebendigen Systeme während der Jahrmillionen der Evolution einer niedrigen natürlichen Strahlung ausgesetzt waren. Was jetzt in den letzten 60 Jahren passiert, ist, dass wir künstliche, vorher nicht vorhandene Radionuklide wie Cäsium-137, Strontium-90, Plutonium-239, Americium-241 und so weiter in unsere Umwelt eingetragen haben. Beim Zerfall trifft ionisierende Strahlung auch die Erbsubstanz. Und dabei müsst Ihr eines wissen: Einige dieser künstlichen Radionuklide haben physikalische Halbwertszeiten, die unsere Vorstellungskraft und jegliches menschliche Maß sprengen. Die Abklingzeit auf 0,2 Prozent der ursprünglichen Radioaktivität beträgt für Cäsium-137, Strontium-90 etwa 300 Jahre, für Americium-241 4570 Jahre, für Pu-239 240 000 Jahre, für Jod-129 150 Millionen Jahre.  

Treten Erkrankungen in radioaktiv verseuchten Gebieten auf, lässt sich beim einzelnen Individuum die Radioaktivität als Ursache kaum nachweisen. Epidemiologisch könnte man höhere Krebsraten mittels gut geführter Register mit hoher Sicherheit ermitteln, aber dies unterstützt weder die WHO (Weltgesundheitsorganisation), die unter der Fuchtel der nuklearfreundlichen IAEO (Internationale Atomenergie-Organisation) steht, noch erlauben die regional stark verseuchten Staaten Ukraine, Weißrussland oder Russland systematische Erhebungen. Die Folgen von Tschernobyl werden im Dunkeln gehalten.

Ihr fragt: Was macht den Protest gegen Atomkraft so grundlegend?

Ich denke, der zentrale Konflikt liegt in der materiellen Unvereinbarkeit von Nukleartechnologie und biologischem Körper. Hier prallen zwei reale Welten aufeinander. Auf der einen Seite die Welt der Atomtechnik, der Glaube an die Sicherheit hochkomplexer Apparate in der Hand von Menschen, an die Notwendigkeit und den Nutzen der Atomtechnologie, die in Merkels Ethikkommission weiter vertreten werden. Auf der anderen Seite unsere Körper, deren zelluläre Empfindlichkeit gegenüber ionisierender Strahlung, mögliche strahlenbiologische Folgen über Tausende von Jahren.

Die zwei Realitäten lassen sich nicht miteinander versöhnen. Auf der einen Seite haben wir ein komplexes Gerät zur Stromerzeugung, dessen Fehlertoleranz gering ist und bei Versagen unermessliche Schäden anrichtet, auf der anderen Seite unsere körperliche Integrität, die wir, wenn ein Fehler passiert, aufs Spiel setzen und die wir schützen müssen. Für 140 000 evakuierte Japaner hat Fukushima die Zukunft zerstört, für die zwei bis drei Millionen Menschen in Tschernobyl-verseuchten Gebieten ist sie prekär.

Ein anderes vorstellbares Szenario ist ein GAU in Westeuropa, mit dem sich die Atomtechnik selbst umbringen würde. Das wäre die Situation, von der Ulrich Beck einmal sprach: "Das Projekt der Moderne bedarf der Ersten Hilfe. Es droht an seinen eigenen Anomalien zu ersticken." Die Auswirkungen einer solchen akuten Situation wären, auch für die Stromversorgung, nicht nur in Belgien und Frankreich, sozial und ökonomisch für Europa kaum abschätzbar.

Andreas, Du fragst, wie ich die Situation als Arzt beurteile.

Die Bevölkerung ist den Risiken nuklearer Technologien weitgehend hilflos ausgeliefert. Das sagt auch die Katastrophenforschung. Was wir Ärzte gegen Atomkrieg (IPPNW) Anfang der 80er-Jahre zu den Auswirkungen eines Atomkrieges gesagt haben: "Wir können Euch nicht helfen", trifft auch für die Auswirkungen der Radioaktivität nach zivilen Atomkatastrophen zu.

Ein effektiver medizinischer Schutz im Fall einer großen Reaktorhavarie in Deutschland oder einem anderen Teil Europas mit Hunderttausenden von Kontaminierten ist praktisch nicht möglich. Nach Aufnahme radioaktiver Isotope in den Körper sind medizinische Maßnahmen für Tausende von Menschen in kurzer Zeit nicht durchführbar. Eine Jod-Prophylaxe ist bei kurzen Vorwarnzeiten logistisch kaum umzusetzen. Eine Jodeinnahme zu früh oder zu spät verringert stark ihren vorbeugenden Wert. Medizinische Hilfe gegen direkte radioaktive Strahlung gibt es nicht. Läuft ein Unfall mit massiver, frühzeitiger Freisetzung ab, bleiben den Behörden nur zwei bis drei Stunden, um Maßnahmen zu ergreifen. Da der Unfallbeginn vom Atombetreiber zu melden ist, verzögert sich die Bekanntgabe. Tausende innerlich kontaminierter Menschen müssten stationär behandelt werden. Das ist unrealistisch. Wenn Personen schwer strahlengeschädigt sind, ist die Behandlung in hoch spezialisierten Abteilungen notwendig. In einer großen Klinik im Rhein-Neckar-Raum mit 2,3 Millionen Einwohnern im Einzugsgebiet von vier AKW (Biblis, Phillipsburg, Neckarwestheim, Cattenom) werden zum Beispiel zwölf(!) Betten für hochstrahlengeschädigte Patienten vorgehalten.

Du sagst, Andreas, die Regierung müsste hier eingreifen.

Die Atomwirtschaft und die staatlichen Institutionen halten uns seit 40 Jahren in einer Bedrohungssituation. Die Regierenden setzen die Bürger auf dem Territorium ihres eigenen Landes objektiv einer nicht geleugneten Gefahr, "dem Restrisiko" aus. Die viel beschworenen sicheren Kernkraftwerke haben sich als Chimären herausgestellt. Anstatt die Bevölkerung pflichtgemäß vor Gefahren zu schützen und diese abzuwenden, sind wir zu Geiseln der Atompolitik gemacht worden.

Wie kommt es, fragst Du, Andreas, dass sich diese Risikentechnologie so lange gehalten hat?

Bisher war es atomfreundlichen Eliten gelungen, die enormen Risiken im Bewusstsein der Bevölkerung zu neutralisieren oder gar nicht erst bekannt werden zu lassen. Die Angstunterdrückung ist aber, aus welchen Gründen immer, in Deutschland nicht vollständig gelungen. Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung – 80 Prozent fordern die Rücknahme der Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke – will für sich und ihre Kinder ein Ende der AKW. Mit den Fukushima-Reaktoren (im Hochtechnologieland Japan) ist auch der erduldete Konsens geplatzt. Jetzt haben wir eine klare demokratische Krise der Kernenergiepolitik, die auch die der Atomkonzerne und ihrer unterwürfigen Politiker ist. Und diese laufen nun hechelnd hinter den Forderungen der Mehrheit der Bürger her, deren Meinungen sie vorher nur verhöhnt haben.

Warum, fragt Ihr, geht das alles so langsam? 

Wir alle sind Technikabhängige und tragen einen tiefen Widerspruch in uns. Wir leben in einem "Land der Ingenieure" mit einer tiefen Technikgläubigkeit, einem tiefen Glauben an die Lösbarkeit von Problemen durch Technik. Das hilflose Gewurstel an den heißen Fukushima-Reaktoren und die dominierend technische Berichterstattung sind eine reale Karikatur. Wir sind ein technisch orientiertes "Exportweltmeisterland", unser Einkommen verquickt mit technischer Produktion, alltäglich "leben" wir mit unseren technischen Apparaten und sind real abhängig von ihnen. Wenn wir dann etwas Technisches aufgeben sollen, auf das wir notwendig angewiesen sind und das unser Leben tatsächlich angenehm macht, erzeugt dies in uns einen schweren mentalen und emotionalen Konflikt. "Fortschritt", "ein gutes Leben" durch technische Errungenschaften, um die uns zu Recht andere beneiden, sind in unserer Gesellschaft quasi religiös und intuitiv so positiv besetzt, dass eine Gefährdung der Gesundheit, geschweige denn des Lebens, durch "die Technik" negiert wird.

Du, Ana, fragst,  was uns daran hindert, uns dagegen zu wehren.

In technisch dominierten Lebensverhältnissen ist das Bewusstsein des Individuums von sich selbst als einem fragil-biologischen Wesen verkümmert oder anders gesagt: es ist seinem Körper fremd. Seit 40 Jahren lebt praktisch jeder Europäer im potenziellen Verseuchungsbereich mehrerer GAU-fähiger Reaktoren – und er verdrängt diese Gefahr. Dahinter steckt eine Beziehung des Individuums zu sich selbst, das sich nicht mehr als natürliches (biologisches) Wesen und eingebettet in die Natur weiß. Und zweitens steckt dahinter das Verhältnis zwischen sich selbst und den technischen Geräten. Der moderne Mensch wird zum Unterworfenen der ihn umgebenden Industrieprodukte, er dominiert nicht sie, sondern sie ihn.

Die wissenschaftlichen und politischen Eliten haben sich in den 1950er-Jahren für eine militärische und zivile Atomindustrieentwicklung  entschieden, die schon früh als extrem risikoreich bekannt war. Das hinter dieser Entscheidung steckende Herrschaftsbild war technikgläubig (im religiösen Sinne), verblendet (im Sinne von blind), menschenfeindlich (im Sinne von tödliche Risiken in Kauf nehmend) und vermessen (im Sinne von Hybris). Alles wird gemacht, was technisch machbar ist. Eine kritische Bewertung und Begrenzung lag außerhalb des Denk- und Fühlhorizontes dieser Eliten.   

Es scheint, als litten wir am Polykrates-Syndrom. Die Unersättlichkeit nach nuklearer Energie hat uns diese Krankheit gebracht. Wir haben uns eine nukleare Tyrannei eingehandelt und leiden – wie Polykrates – an Selbstüberhebung. Polykrates, der Tyrann von Samos (538 vor Christus), Karl Heinz Adzersen wollte mit Gold die Herrschaft über ganz Hellas erlangen. Er endete am Kreuz. 

Euer Vater

 

Karl Heinrich Adzersen (66) ist Arzt und Mitarbeiter am Krebsforschungszentrum Heidelberg. In seiner Abteilung wird das Krebsregister von Baden-Württemberg geführt. Seine Tochter Ana (28) hat in London Soziologie und Philosophie studiert, sein Sohn Andreas (22) ist an der Zeppelin-Uni in Friedrichshafen eingeschrieben.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


1 Kommentar verfügbar

  • VolkerDowidat
    am 15.05.2011
    Antworten
    Schön, dass sich immer mehr der gesunde Menschenverstand Bahn bricht. Es wird höchste Zeit, das Vertrauen in die alten Pfade aufzugeben. Auch schön, dass sich in der Krise der etablierten Medien überall interessante Alternativen zeigen. Das Alte geht - das Neue kommt ...
Kommentare anzeigen  

Neue Antwort auf Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!