Die Documenta fifteen ist ein herausragendes, in seinen multiplen Perspektiven auf Kunst, Wissen und Welt zutiefst bereicherndes, zukunftsweisendes und ebenso sehens- wie erlebenswertes Projekt. Sie ist ein Fest der Vorschläge, Möglichkeiten und gelebten Modelle anderer Ökonomien und Umgangsweisen miteinander, das auch die Mechanismen, Werte und Strukturen des Kunstbetriebs neu denkt. Der Slogan "Make friends not art" (Schafft Freundschaften, keine Kunst), den das kuratorische Kollektiv ruangrupa dieser Documenta neben vielen anderen Begriffen vorangestellt hat, spricht sich nicht gegen die Kunst, sondern für künstlerische und kuratorische Arbeitsweisen aus, die Wege jenseits eines auf Wettbewerb basierenden Kunstbetriebs beschreiten.
Als künstlerische Leiter:innen der Documenta fifteen haben die Mitglieder von ruangrupa zahlreiche weitere Kollektive und Künstler:innen eingeladen, die teils seit Jahrzehnten das praktizieren, was ruangrupa mit dem indonesischen Begriff des lumbung (zu deutsch: Reisscheune) umschreibt: eine bestimmte Haltung, gemeinschaftlich mit Ressourcen und Überschüssen umzugehen. Diese Kollektive und Künstler:innen, die im Schwerpunkt aus dem sogenannten globalen Süden stammen, erhielten im Rahmen der Documenta fifteen die Möglichkeit, an bestehende Projekte anzuknüpfen, ihre eigenen Strukturen zu stärken und ihrerseits weitere Künstler:innen beziehungsweise Beitragende zur Documenta fifteen einzuladen.
Es geht also nicht um Exklusivität, das heißt um neue Werke, die eigens für die Documenta geschaffen werden, sondern um Kontinuität sowie um ein hohes Maß an Vielstimmigkeit statt einer kuratorischen Handschrift. Eine der zentralen Fragen war es, wie sich lokal verankerte Projekte aus Indonesien, Großbritannien, Kuba oder Kenia in den Kontext der Documenta übertragen und hier vermitteln lassen. In vielen Fällen basieren diese Übertragungen auf dem Austausch und der Zusammenarbeit mit entsprechenden Gruppen aus Kassel.
Die Großzügigkeit und Lebendigkeit, mit der diese Documenta in einem langen Prozess entstand und immer noch entsteht – denn dieser Prozess ist mit der Eröffnung lediglich in eine weitere Phase getreten –, ist an jedem ihrer Ausstellungsorte zu spüren: darunter klassische Orte wie das Fridericianum und die Documenta-Halle, aber auch diverse erstmals genutzte Gebäude und urbane Situationen, zum Beispiel im Stadtteil Bettenhausen. In sorgfältig umgesetzten Ausstellungsdisplays liegen künstlerische Werke, aktivistische Artikulationen, Präsentationen von Initiativen und Festivals, Archive, Workshopräume oder Gartenprojekte dicht beieinander. Zentrale und drängende Fragen zu den diversen Krisen und Konflikten der Gegenwart sowie alternative Lebens- und Handlungsformen werden dabei vor allem aus post- beziehungsweise dekolonialen sowie aus den Perspektiven marginalisierter und benachteiligter Gruppen verhandelt.
Dem Leben zugewandt
Man findet die Zeichnungen und Malereien der Romni Ceija Stojka, die darin ihre Kindheitserinnerungen an Konzentrationslager auf eindrückliche Weise verarbeitet, den Nachbau von Räumen der britischen Initiative Project Art Works, die künstlerische Praktiken mit neurodiversen Menschen, die einen intensiven Betreuungsbedarf haben, entwickelt, oder die aus bunten Plastikspielzeugen und Videos geschaffene begehbare Landschaft von Agus Nur Amal PMTOH. Der Künstler greift hier traditionelle, fast vergessene Formen des Geschichtenerzählens auf, um so auf spielerische Weise gesellschaftspolitische Konflikte in Indonesien thematisieren zu können.
In einem dunklen großen Kellerraum hat Amol K Patil mit einem Video, einer Soundinstallation sowie zahlreichen Malereien und Skulpturen, in denen Hände, Arme, Armprothesen, menschliche und tierische Gebisse – und Mischformen aus all dem – auftauchen, eine poetische Unterwelt geschaffen, die ihren Ausgangspunkt in den performativen ästhetischen Formen und Formaten der postkolonialen Arbeiter:innenbewegung in Mumbai hat. Traditionelle, indigene und marginalisierte Wissens- und Kunstformen werden in dieser Documenta nie auf das Archaische, Vormoderne oder Exotische festgeschrieben, sondern immer als Teil der globalisierten Gegenwart – ihrer Krisen, Konflikte und Chancen – verhandelt.
3 Kommentare verfügbar
Dieter Rebstock
am 29.06.2022