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Documenta fifteen, Kassel

Wider die pauschale Verurteilung

Documenta fifteen, Kassel: Wider die pauschale Verurteilung
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Multiplen Perspektiven eine Plattform bieten – das ist das Konzept der Documenta fifteen. Warum dort ein Banner mit eindeutig antisemitischer Bildsprache gezeigt wurde, muss aufgearbeitet werden, schreibt Iris Dressler. In einem Meinungsbeitrag erklärt die Direktorin des Württembergischen Kunstvereins, warum sie die Ausstellung in Kassel dennoch für eine große Bereicherung hält.

Die Documenta fifteen ist ein herausragendes, in seinen multiplen Perspektiven auf Kunst, Wissen und Welt zutiefst bereicherndes, zukunftsweisendes und ebenso sehens- wie erlebenswertes Projekt. Sie ist ein Fest der Vorschläge, Möglichkeiten und gelebten Modelle anderer Ökonomien und Umgangsweisen miteinander, das auch die Mechanismen, Werte und Strukturen des Kunstbetriebs neu denkt. Der Slogan "Make friends not art" (Schafft Freundschaften, keine Kunst), den das kuratorische Kollektiv ruangrupa dieser Documenta neben vielen anderen Begriffen vorangestellt hat, spricht sich nicht gegen die Kunst, sondern für künstlerische und kuratorische Arbeitsweisen aus, die Wege jenseits eines auf Wettbewerb basierenden Kunstbetriebs beschreiten.

Als künstlerische Leiter:innen der Documenta fifteen haben die Mitglieder von ruangrupa zahlreiche weitere Kollektive und Künstler:innen eingeladen, die teils seit Jahrzehnten das praktizieren, was ruangrupa mit dem indonesischen Begriff des lumbung (zu deutsch: Reisscheune) umschreibt: eine bestimmte Haltung, gemeinschaftlich mit Ressourcen und Überschüssen umzugehen. Diese Kollektive und Künstler:innen, die im Schwerpunkt aus dem sogenannten globalen Süden stammen, erhielten im Rahmen der Documenta fifteen die Möglichkeit, an bestehende Projekte anzuknüpfen, ihre eigenen Strukturen zu stärken und ihrerseits weitere Künstler:innen beziehungsweise Beitragende zur Documenta fifteen einzuladen.

Es geht also nicht um Exklusivität, das heißt um neue Werke, die eigens für die Documenta geschaffen werden, sondern um Kontinuität sowie um ein hohes Maß an Vielstimmigkeit statt einer kuratorischen Handschrift. Eine der zentralen Fragen war es, wie sich lokal verankerte Projekte aus Indonesien, Großbritannien, Kuba oder Kenia in den Kontext der Documenta übertragen und hier vermitteln lassen. In vielen Fällen basieren diese Übertragungen auf dem Austausch und der Zusammenarbeit mit entsprechenden Gruppen aus Kassel.

Die Großzügigkeit und Lebendigkeit, mit der diese Documenta in einem langen Prozess entstand und immer noch entsteht – denn dieser Prozess ist mit der Eröffnung lediglich in eine weitere Phase getreten –, ist an jedem ihrer Ausstellungsorte zu spüren: darunter klassische Orte wie das Fridericianum und die Documenta-Halle, aber auch diverse erstmals genutzte Gebäude und urbane Situationen, zum Beispiel im Stadtteil Bettenhausen. In sorgfältig umgesetzten Ausstellungsdisplays liegen künstlerische Werke, aktivistische Artikulationen, Präsentationen von Initiativen und Festivals, Archive, Workshopräume oder Gartenprojekte dicht beieinander. Zentrale und drängende Fragen zu den diversen Krisen und Konflikten der Gegenwart sowie alternative Lebens- und Handlungsformen werden dabei vor allem aus post- beziehungsweise dekolonialen sowie aus den Perspektiven marginalisierter und benachteiligter Gruppen verhandelt.

Dem Leben zugewandt

Man findet die Zeichnungen und Malereien der Romni Ceija Stojka, die darin ihre Kindheitserinnerungen an Konzentrationslager auf eindrückliche Weise verarbeitet, den Nachbau von Räumen der britischen Initiative Project Art Works, die künstlerische Praktiken mit neurodiversen Menschen, die einen intensiven Betreuungsbedarf haben, entwickelt, oder die aus bunten Plastikspielzeugen und Videos geschaffene begehbare Landschaft von Agus Nur Amal PMTOH. Der Künstler greift hier traditionelle, fast vergessene Formen des Geschichtenerzählens auf, um so auf spielerische Weise gesellschaftspolitische Konflikte in Indonesien thematisieren zu können.

In einem dunklen großen Kellerraum hat Amol K Patil mit einem Video, einer Soundinstallation sowie zahlreichen Malereien und Skulpturen, in denen Hände, Arme, Armprothesen, menschliche und tierische Gebisse – und Mischformen aus all dem – auftauchen, eine poetische Unterwelt geschaffen, die ihren Ausgangspunkt in den performativen ästhetischen Formen und Formaten der postkolonialen Arbeiter:innenbewegung in Mumbai hat. Traditionelle, indigene und marginalisierte Wissens- und Kunstformen werden in dieser Documenta nie auf das Archaische, Vormoderne oder Exotische festgeschrieben, sondern immer als Teil der globalisierten Gegenwart – ihrer Krisen, Konflikte und Chancen – verhandelt.

Die nicht nur Missstände aufzeigende, sondern vor allem dem Leben und den Möglichkeiten eines anderen Lebens zugewandte Documenta fifteen wird seit Beginn diesen Jahres vom Gros der deutschen Medienlandschaft vor allem mit Misstrauen und Vorurteilen begleitet. Neben den üblichen Vorhaltungen (zu politisch, zu wenig wahre Kunst) wurde ihr schon vor der Eröffnung Antisemitismus unterstellt. Auslöser dafür war ein Blog-Beitrag des Kasseler Bündnisses gegen Antisemitismus (BGA), der einigen an der Documenta fifteen beteiligten Gruppen eine Nähe zum BDS, das heißt zur Bewegung Boycott, Divestment and Sanctions, und auf dieser Basis Antisemitismus nachsagt. Der Kunsthistoriker Prof. Dr. Hans Dieter Huber und andere haben aufgezeigt, dass die Argumentationen in diesem Beitrag Tendenzen ins rechte Milieu aufweisen. Die vom BGA formulierten Anschuldigungen, die die deutsche Presse in weiten Teilen ungeprüft übernahm, wurden weitgehend entkräftet – die Generalverdächtigung einer antisemitischen Gesinnung der Documenta fifteen blieb.

Dabei ging es in erster Linie um die Anschuldigung, Israel-kritische Positionen würden hier per se das Existenzrecht Israels anfechten und israelische Künstler:innen seien bewusst boykottiert worden. In einem der wenigen differenzierten und ausführlichen Beiträge zu diesen Vorwürfen schreibt Quynh Tran in "Zeit Online": "Bei einer Weltkunstschau, deren Konzept auf einem ländlichen Teilhabeprinzip beruht und bei der überwiegend Kulturschaffende aus dem globalen Süden geladen sind, ist es … gar nicht naheliegend, ein hochindustrialisiertes Land, das dem Westen zugerechnet wird [gemeint ist Israel, Anm. der Autorin], auf das Programm zu setzen."

Der "globale-Süden-Überhang" wurde in den deutschsprachigen Feuilletons indes aus mal mehr und mal weniger offen formulierten islamophobischen und antipostkolonialen Haltungen heraus zum zentralen Indiz erhoben, der Documenta fifteen schon allein durch die Herkunft ihrer Beteiligten eine Nähe zu BDS und Antisemitismus zu unterstellen. So kann man auch davon ablenken, dass es in Deutschland massive Probleme mit antisemitischer und rassistischer Gewalt gibt. Statt sich damit zu beschäftigen, sucht man anscheinend lieber die Facebook- und Twitter-Accounts postkolonialer Künstler:innen nach potenziellen BDS-Likes ab.

Das von der Documenta fifteen im Mai geplante Gesprächsforum We need to talk, in dem über die Rolle von "Kunst und Kunstfreiheit angesichts von wachsendem Antisemitismus, Rassismus und zunehmender Islamophobie" gesprochen werden sollte, wurde kurzerhand abgesagt. Die "Anschuldigungen, die gegenüber der Documenta fifteen und dem Gesprächsforum geäußert wurden", hätten, so ruangrupa, "eine produktive Diskussion gegenwärtig unmöglich" gemacht.

Es ist an dieser Stelle nicht zu klären, ob diese Entscheidung damals richtig oder falsch war – sie hat die mediale Maschine der Antisemitismusvorwürfe jedenfalls erneut befeuert. Kurz vor der Eröffnung kam es an verschiedenen Standorten der Documenta fifteen sogar zu antimuslimischen und rechtsextremen Übergriffen und Drohungen.

Ein Fehler, der nicht hätte passieren dürfen

Die beschwingten Tage der Vorbesichtigung, in denen das Gros der Pressevertreter:innen und Fachbesucher:innen sich zunächst freute, dass es auf der Documenta fifteen allen Unkenrufen zum Trotz viel Kunst und keinen Antisemitismus zu finden gab, waren jäh vorbei, als am späten Nachmittag des letzten Previewtages auf dem zentralen Friedrichsplatz ein großformatiges Banner des Kunst- und Aktivismuskollektivs Taring Padi aufgestellt wurde. Dieses bedient sich einer offen antisemitischen Bildsprache, wie sie in Deutschland zur Vorbereitung und Legitimation des Holocaust eingesetzt wurde, und aktualisiert diese. Ein Fehler, der nicht hätte passieren dürfen.

Das Werk wurde zu Recht entfernt und die Documenta fifteen muss nun aufarbeiten, wie es dazu kommen konnte. Die These, dass die Bildsprache dieses Banners nur in Deutschland antisemitisch zu lesen sei, ist nicht haltbar – ebenso wenig, wie die Erklärung der gesamten Documenta fifteen zu einer "Antisemita" (Sascha Lobo im "Spiegel"). Das problematische Werk wurde abgebaut. Niemand ist zur Tagesordnung übergegangen. Der gesamten Documenta fifteen Antisemitismus zu unterstellen, ist nach wie vor nicht nur unbegründet – wie es auch Meron Mendel, Leiter der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main, immer wieder betont –, sondern diffamierend.

Gemeinsam mit ruangrupa soll Mendel nun klären, ob es neben "Peoples Justice" weitere unakzeptable Werke auf der Documenta fifteen gibt. Man könnte sagen, das hätte früher passieren sollen. Aber was bedeutet es, wenn Kunstwerke vor Veröffentlichung einem politischen Prüfungsgremium vorgelegt werden müssen? Was sind die Kriterien, wer entscheidet? Geht es nicht eher darum, offen über die Grenzen der Kunstfreiheit zu diskutieren und zu Vertrauensverhältnissen zurückzukehren, statt in Zukunft zensurartige Strukturen zu etablieren und, wie Claudia Roth es fordert, politisch in die Inhalte der Documenta einzugreifen?

Der Ruf nach einem Zurück zur Einzelkurator:in ist ebenso wenig hilfreich – denn Ausstellungen von einem globalen Anspruch, wie die Documenta, können, wenn sie seriös sein wollen, nicht mehr von nur einer Person kuratiert werden, sondern müssen verschiedene, auch gegenläufige Perspektiven zusammenbringen. Dieses Experiment ist mit der Documenta fifteen trotz eines gravierenden Fehlers auf hervorragende Weise gelungen. Jeder und jede an Kunst Interessierte sollte sich ein eigenes Bild davon machen, statt zum Boykott aufzurufen. Darüber hinaus gilt es mehr denn je, auf und jenseits der Documenta fifteen eine differenzierte Auseinandersetzung über Themen wie Antisemitismus, Antiislamismus, Antiziganismus, Rassismus, Xenophobie, Ableismus und andere Formen der Diskriminierung zu führen – und über die Frage, wie wir damit in der Kunst umgehen wollen. Zugleich gilt es, ruangrupa, Taring Padi sowie allen anderen Beteiligten dieses Projektes mit Offenheit, Neugier und Gastfreundschaft statt mit Ablehnung und Vorverurteilung zu begegnen.


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3 Kommentare verfügbar

  • Dieter Rebstock
    am 29.06.2022
    Antworten
    Israel-kritisch, "das wird man doch wohl noch sagen dürfen". Die Tarnkappe der modernen Antisemiten. Ach, hätte Frau Dressel doch Wolfgang Pohrt gelesen, dessen Werk und Leben kürzlich im Kunstverein vorgestellt wurde. Was bedeutet denn Israel-kritisch? Sieht die Autorin die Existenz Israels…
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