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Stimmen zum Kahlschlag im Pressehaus, Teil II

"Die vierte Säule wackelt"

Stimmen zum Kahlschlag im Pressehaus, Teil II: "Die vierte Säule wackelt"
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Der Protest gegen den Kahlschlag im Stuttgarter Pressehaus hat die Politik erreicht. Gegenwind kommt von Landräten, aus Ministerien und der Kommunalpolitik. Ebenso zu Wort melden sich Kulturschaffende und S-21-Gegner. Nicht einmal Letztere sind begeistert.

55 Stellen sollen im Stuttgarter Pressehaus eingespart werden – ein Kahlschlag von nie dagewesenem Ausmaß. Unseren Hintergrundbericht "Auflösung einer einst stolzen Zeitung" finden Sie hier und erste Stimmen dazu hier.

In großer Sorge

Von den Landräten Roland Bernhard (Böblingen), Heinz Eininger (Esslingen), Edgar Wolff (Göppingen), Dietmar Allgaier (Ludwigsburg) und Richard Sigel (Rems-Murr)*

"Sehr geehrter Herr Dr. Wegner, sehr geehrter Herr Dachs,

die Ankündigung, bei der Zeitungsgruppe Stuttgart bis zu 55 Stellen abzubauen, bereitet den unterzeichnenden Landräten der Region Stuttgart große Sorge. Es ist zu befürchten, dass insbesondere der Lokaljournalismus an Qualität und Bedeutung verliert und infolgedessen Kommunalpolitik in der öffentlichen Wahrnehmung immer mehr verschwindet.

Seit Jahren ist in der Medienlandschaft und besonders bei Zeitungen die Entwicklung zu beobachten, dass einst eigenständige Verlage ihre Zeitungen aufgeben oder an große Medienkonzerne verkaufen. In der Region Stuttgart folgt den zahlreichen Übernahmen von regionalen Verlagen durch die Südwestdeutsche Medienholding und der schrittweisen Zusammenlegung von Redaktionen nun die Streichung von Arbeitsplätzen in größerem Ausmaß.

Wirtschaftliche Zwänge und eine Gesellschaft, deren Konsum immer stärker in der digitalen Wirklichkeit stattfindet, sind Entwicklungen, auf welche die Branche verständlicherweise reagieren muss. Der Einbruch von Werbeeinnahmen seit Pandemiebeginn hat diese Entwicklung sicherlich beschleunigt. Desto wichtiger ist es, sich der Rolle und Verantwortung als 'die vierte Säule' unseres Staates bewusst zu sein. Auf kommunaler Ebene entscheidet sich, was Bürgerinnen und Bürger in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld betrifft. Schulen und Kindergärten, Straßenbau und ÖPNV, Firmenansiedlungen und Naturschutz, Stadtplanung, Freizeitangebote und Energiewende – die konkrete Ausgestaltung dieser und vieler weiterer Themen sind Sache der Kreise, Städte und Gemeinden.

Damit die Bevölkerung begreift, was vor Ort geschieht und sich darüber eine fundierte Meinung bilden kann, benötigt es einer umfassenden, sorgfältigen und ausgewogenen Berichterstattung. Kommunalpolitik braucht einen starken Lokaljournalismus.

Schon seit Längerem stellen wir fest, dass die Pressebank bei Gremiensitzungen spärlich besetzt ist und kaum noch Berichterstattung folgt. Pressemitteilungen und Behörden-Webseiten können die Recherche unabhängiger Reporter nicht ersetzen. Unser Anliegen an die Lokalpresse ist, Verwaltungen kritisch zu hinterfragen und darüber objektiv und ausführlich zu berichten. Dies kann – und muss – in zeitgemäßen Formaten geschehen, digital und analog. Aber die Kärrnerarbeit braucht ausreichend Lokalredakteure, denn sie verfügen über das Handwerkszeug als Chronisten, Kritiker und Reporter. Ein größerer Stellenabbau bedeutet zwangsläufig Qualitätseinbußen der Berichterstattung.

Oberflächlichkeit ist für unsere Informationsgesellschaft ein bedrohliches Manko. Die zu beobachtende Verständnislosigkeit eines großen Anteils der Bevölkerung mit der (kommunalen) Politik stellt schon heute die Zivilgesellschaft auf die Probe. Die schwindende Bedeutung der Presse auf lokaler Ebene beschleunigt diese unerwünschte Entwicklung.

Wir, und mit Sicherheit auch die breite Leserschaft sowie die Abonnenten, legen Wert auf einen zukunftsfähigen Lokaljournalismus aus und über die Region Stuttgart, der seiner Rolle als 'vierte Säule' gerecht wird."

*Der Brief der fünf Landräte (hier im Original) ist datiert vom 28. Januar 2022 und an die Geschäftsführung der Südwestdeutschen Medienholding gerichtet.

Unterhaltung im Vordergrund

Von Barbara Bosch, Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung

"Seriöse Medien leisten einen unverzichtbaren Beitrag zum Funktionieren der Demokratie, wenn sie über politische Abläufe und Inhalte informieren, komplexe Sachverhalte der Bürgerschaft erläutern und auf der Grundlage der recherchierten Fakten das Geschehen einordnen und kommentieren. Dazu braucht es gut ausgebildete journalistische Kräfte, um eine Öffentlichkeit für die unterschiedlichen politischen Strömungen herzustellen und damit der Zivilgesellschaft, als 'drittem Sektor' neben Wirtschaft und Politik, zu ermöglichen, den Diskurs hierüber zu führen. Deshalb kann mit Sorge betrachtet werden, wenn Medien zunehmend unpolitischer werden und den Unterhaltungswert in den Vordergrund rücken. Eine wachsende Entfernung zwischen Bürgerschaft und Politik wird dadurch bestärkt. Wir setzen als Landesregierung auf die dialogische Bürgerbeteiligung, bei der ausgeloste Zufallsbürger in Foren aktuelle Themen mit Experten und Praktikern diskutieren und Empfehlungen an die Politik weiterleiten. Diese kann allerdings nicht die Rolle der Medien als informative Quelle und kritischen Begleiter ersetzen. Die Landesregierung weiß um die Bedeutung unabhängiger Medien für unsere Demokratie. Sie kommentiert unternehmerische Entscheidungen jedoch grundsätzlich nicht."

Neoliberaler Porno

Von Thomas Ott, Buchhandlung Erlkönig, Stuttgart

"Ich bin ja old-school und lese die StZ seit gefühlt 100 Jahren sogar in der ausgedruckten Version, und ich hänge sehr an meinen Traditionen. Aber nach und nach fühle ich, dass Scheidungen auch nach gefühlt 100 Jahren noch möglich sind.

Bei dem 'Organigramm' (der neuen Redaktionsstruktur – d. Red.) bin ich mir nicht so ganz sicher, ob ich mehr weinen oder lachen soll. Das liest sich, je nach aktueller Humorneigung wie Loriot ('managing editor mantel desk' würde ich gerne analog zu 'North Cothelstone Hall, Nether Addlethorpe...' von Evelyn Hamann gesprochen sehen/hören), wie ein neoliberaler Porno oder wie eine posthume Bestätigung von Karl Lagerfelds Gemeinheit 'Wer eine Jogginghose trägt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren', nur diesmal ohne Unterschichtenbashing. Tragikomödie!"

Ein trauriger Schritt

Von Marcus Grube, Intendant der Württembergischen Landesbühne Esslingen

"Die Coronakrise hat einmal mehr gezeigt, dass die Werte und grundlegenden Überzeugungen der Zivilgesellschaft immer wieder neu diskutiert und miteinander verhandelt werden müssen. In Zeiten der sich – beschleunigt durch sogenannte 'soziale Netzwerke' – selbst radikalisierenden Diskussionen und des Verlusts von Intersubjektivität ist die journalistische Arbeit als Korrektiv wichtiger denn je. Dabei helfen unabhängige und der Meinungs- und Pressefreiheit verpflichtete Zeitungen und ihre Redaktionen im Wechselspiel miteinander, die Glaubwürdigkeit und Relevanz von Quellen und Meinungen zu filtern und zu sortieren. Damit nehmen sie einen fundamentalen Bildungsauftrag wahr, der für die gesellschaftliche Diskussion von allergrößter Bedeutung ist. Gleichzeitig erleben wir gerade in diesem Bereich eine bereits seit längerem zu beobachtende Einengung der Themen sowie eine Monopolisierung in Mediengruppen und Medienholdings – und infolgedessen den Verlust von kritischer Berichterstattung und Mehrstimmigkeit im öffentlichen Raum. Mit einer demokratischen Medienlandschaft hat das leider nicht mehr viel zu tun. Der personelle und finanzielle Kahlschlag in den verbleibenden Redaktionen ist ein trauriger nächster Schritt auf diesem Weg."

Qualität ist kein "nice to have"

Von Petra Olschowski, Staatssekretärin (Grüne) im Ministerium für Wissenschaft und Kunst

"Die aktuellen Entwicklungen in der Zeitungslandschaft auch in Baden-Württemberg – zunehmende Konzentration und Rückgang des einst so starken Pluralismus – beobachte ich mit größter Sorge. Als ehemalige Journalistin und als Politikerin bin ich leidenschaftliche Zeitungsleserin, analog wie digital. Auch durch Zeitungslektüre entwickle ich meine Kenntnisse und meine Position weiter.

Gerade in anspruchsvollen Zeiten, wie wir sie derzeit erleben, in denen die Gesellschaft auf vielen Ebenen gefordert ist – sozial, wirtschaftlich und ökologisch –, kommt dem Journalismus die Aufgabe zu, umfassend und qualitativ hochwertig zu informieren. Qualitätsjournalismus lebt von fachlich hoher Kompetenz, von Vielfalt und Meinungsfreiheit, von umfassender Recherche, von Verantwortungsgefühl und nicht zuletzt auch von Sprachgefühl. Qualitätsjournalismus ist kein 'nice to have', sondern unabdingbare Voraussetzung für eine demokratische Gesellschaft. Ein Wert, der nicht nur in Klick-Zahlen gemessen werden kann."

Lokalberichterstattung – wo?

Von Oberbürgermeister Christoph Traub (CDU), Filderstadt

"Als Oberbürgermeister der Großen Kreisstadt Filderstadt und auch persönlich schaue ich besorgt auf den bei der Zeitungsgruppe Stuttgart diskutierten Stellenabbau und den geplanten Wegfall der Filder-Zeitung sowie die damit deutlich reduzierte, wenn nicht sogar verschwindende Lokalberichterstattung. Wer – von den immer weniger Verbleibenden – übernimmt dann noch die Lokalberichterstattung? Wer greift diese Themen noch unabhängig auf? Die Kommunen können und dürfen dies (aktuell) nicht leisten. Eine Demokratie braucht eine unabhängige und kritische Berichterstattung."

Lokalredaktionen stärken

Von Nicolas Fink, SPD-MdL Esslingen

"Die Stuttgarter Zeitung und die Stuttgarter Nachrichten sind für mich als Landespolitiker eine elementare Informationsquelle über die Landespolitik und darüber hinaus. Die Esslinger Zeitung ist für mich gerade als Stadt- und Kreisrat und auch als Bürger der Stadt Esslingen ebenfalls eine sehr wichtige Informationsquelle über die Lokalpolitik und lokale Nachrichten. Auf keine der genannten Zeitungen kann und möchte ich verzichten und bin auch nicht damit einverstanden, dass die Breite des Informationsangebots durch den geplanten Abbau der Stellen und den Umbau der Ressorts reduziert wird.

Die geplante Auflösung der Stadtteilzeitungen ist für mich ebenfalls kein gutes Signal. Ich bin im Gegenteil der Auffassung, dass es wichtig wäre, insbesondere auch die Lokalredaktionen zu stärken, die Menschen sind interessiert und haben auch ein Recht darauf, Nachrichten aus ihrer Stadt bzw. Gemeinde sowie der kommunalen Politik zu bekommen, da sie davon ja auch unmittelbar betroffen sind."

Ich bin schockiert

Von Charlotte von Bonin, Aktivistin für Klimagerechtigkeit

"Ich bin ehrlich gesagt schockiert: In einer Zeit, in der sich zunehmend Verschwörungserzählungen verbreiten, in der wir durch die Klimakrise als Gesellschaft vor großen Veränderungen stehen, soll im Journalismus reduziert werden? Als wenn wir nicht schon genug Probleme hätten, soll ein wichtiger Teil der Demokratie – die Presse – jetzt auch noch nach Reichweiten- und Abozielen gesteuert werden? Da sieht man, was herauskommt, wenn Journalismus im kapitalistischen Wettbewerb bestehen soll. Themen wie Partnerschaft und Wochenendtipps sind ja schön und gut, aber warum zur Hölle kann ich darüber nicht einfach mit Freund*innen reden oder gezielt Podcasts dazu hören? Warum soll kritische Berichterstattung über die Klimakrise jetzt auch nach Abozielen gesteuert werden? Damit die globale Gerechtigkeitskrise und die Zerstörung unserer Lebensgrundlage weiter verdrängt werden können?

Wie sollen soziale Bewegungen der Lokalpolitik ohne kritische Berichterstattung auf die Finger schauen? Veränderung, politische Organisation, Demokratie – all das braucht eine informierte Öffentlichkeit, und somit gute Berichterstattung. Hallo Pressehaus, wollt ihr Stellen und Demokratie abbauen, oder für Demokratie und eine starke Öffentlichkeit einstehen?"

Jeder Meter wird gefeiert

Von Werner Sauerborn vom Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21

"Um Position beziehen zu können, sind wir auf Medien angewiesen, die uns unabhängig und mit einem kritischen Blick auf Macht und Mächtige informieren. So steht es jeden Tag im Kopf der Stuttgarter Zeitung, und so ist es das Vermächtnis des Antifaschisten und großen Demokraten Josef Eberle, der nach dem Krieg die StZ gegründet hatte. Diesem Anspruch sind die Stuttgarter Zeitungen beim Thema S 21 von Anfang an nicht gerecht geworden. Sie waren Teil des großen Bündnisses zur Durchsetzung des Projekts und erklärten schon 2010 in einem Selbstverständnisbeitrag ungeniert: 'Wir (!) sehen das Vorhaben positiv.' Seither erleben wir eine einseitige Berichterstattung, die jeden Meter Tunnelbau feiert (da scheint ein Anruf des S-21-Presseprechers Jörg Hamann, vormals Lokalchef der StN zu genügen), aber zu den wirklich berichtenswerten Fragen und für die Stadt existentiellen Folgen des Projekts vor allem schweigt, die Kritik kaum zu Wort kommen lässt und die Leser*innen so uninformiert hält. Fake news sind nicht das Problem, sondern eine asymmetrische Berichterstattung, die das Projekt von Anfang an als unumkehrbar verkauft hat und Alternativen ignoriert.

Der Ausweg aus der Krise der Blätter könnte, am Beispiel S 21 veranschaulicht, so aussehen: mehr Spielraum für die professionellen Redakteur*innen, die die Zeitung ja hat, um den Dingen auf den Grund zu gehen. Warum war es die englische Financial Times und nicht die StZN, die die massiven Betrugsvorwürfe von zwei S-21-Whistleblowern öffentlich machte? Zu alledem bräuchten die StZN nicht einmal mehr Zeit und Leute. Sie könnten auf sehr viel kompetente Expertise von Ingenieure 22, S-21-kritischen Architekt*innen, Stadtplaner*innen und Jurist*innen sowie etliche Gutachten zurückgreifen. Es ist angerichtet."


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8 Kommentare verfügbar

  • Martina Auer
    am 06.02.2022
    Antworten
    Mich juckt der Niedergang dieses abhängigen und dreisten Haufens keinen Zentimeter. So ein Blatt braucht kein Mensch.
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