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Lebensmittelpreise

Wahnsinn an der Ladentheke

Lebensmittelpreise: Wahnsinn an der Ladentheke
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Cem Özdemir will als Minister den Lebensmittelsektor grundlegend reformieren. Für seine ersten Anmerkungen zu den ruinösen Fleischpreisen hat er sich mächtig Ohrfeigen eingefangen. Zu Unrecht.

Marianne Becker erinnert an eines der berühmtesten Wahlplakate der damals noch jungen Ökopartei: "Wir haben die Erde von unseren Kindern nur geborgt." Fast vier Jahrzehnte später will die Bereichsleiterin Küche der Evangelischen Akademie Bad Boll ganz praktisch mithelfen, um im x-ten Anlauf diesmal wirklich eines der grünen Gründungsversprechen zu erfüllen: Über einen stetig wachsenden Anteil an Bio- und Regionalprodukten in Kantinen sollen Angebot, Nachfrage und Bewusstsein auf eine Art und Weise in Schwung kommen, die allen Beteiligten zu einem auskömmlichen Einkommen verhilft und nicht zuletzt KonsumentInnen mit kleinem Geldbeutel den Kauf gesunder (Bio-)Produkte ermöglicht.

Die Aufgabe ist keine kleine, aus vielerlei Gründen. Allen voran, weil die Union in ihrer neuen Oppositionsrolle im Bund nicht daran denkt, am selben Strang zu ziehen. Somit gilt: Wenn zwei das Gleiche tun, ist es noch lange nicht dasselbe – vor allem dann nicht, wenn der eine ein Schwarzer und der andere ein Grüner ist. Als Uwe Schummer, der CDU-Bundestagsabgeordnete vom NRW-Arbeitnehmerflügel, im Sommer 2020 mit deutlichen Worten gegen die "Geiz ist geil"-Mentalität wettert und die viel zu niedrigen Preise für billiges Fleisch beklagt, verzeichnet das Plenarprotokoll Beifall bei der CDU/CSU. In einem dpa-Gespräch verwendet der ehemalige Mitarbeiter von Arbeitsminister Norbert Blüm wenig später den Begriff Ramschpreise.

Wie eineinhalb Jahre später der neue Bundeslandwirtschaftsminister: "Es darf keine Ramschpreise für Lebensmittel mehr geben, sie treiben Bauernhöfe in den Ruin, verhindern mehr Tierwohl, befördern das Artensterben und belasten das Klima." Auf Applaus der Schwarzen darf er nicht hoffen. Ganz im Gegenteil: Die Reflexe funktionieren. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) unterstellt sogar wider besseren Wissens, dass der Grüne den Menschen vorschreiben wolle, "was oder wie viel sie essen". Die alte Veggie-Day-Verunglimpfung, die schon 2017 im Bundestagswahlkampf so prächtig funktioniert hatte, lässt grüßen. Und dann greift der Mann aus Nürnberg zu einer speziellen Verschwörungstheorie: Dies oder jenes solle gezielt verteuert werden, "damit man es nicht mehr isst".

Humbug oder Frust über den Verlust der Macht? Womöglich eine Mischung aus beidem. Özdemirs Ideen sind jedenfalls nichts anderes als Belege für den Wahnsinn an der Ladentheke, im Supermarkt, in den Lieferketten, in den Ställen und auf den Feldern. Es sei Konsens, sagt eine Ministeriumssprecherin, dass die Transformation hin zu mehr Tierwohl sowie mehr Klima- und Umweltschutz auch mehr Geld koste, was allerdings "nicht allein die Angelegenheit der Tierhaltenden sein kann". Vielmehr brauche der Umbau als "gesamtgesellschaftliche Aufgabe viele Partner, in der Politik, im Stall, im Handel und an der Ladentheke".

Vom Kilo Schweinskotelett bleiben 1,3 Cent

Die Erlösanteile sprechen eine klare Sprache, und das seit Jahrzehnten. Mitte der Achtziger Jahre teilte der damalige Präsident des Bauernverbandes Württemberg-Hohenzollern, Ernst Geprägs, bei einer Jahrespressekonferenz Brotlaibe, um zu illustrieren, wie wenig LandwirtInnen am Endprodukt verdienen. Dessen Preis, rechnete er vor, würde nicht einmal dann sinken, wenn die ErzeugerInnen ihr Getreide verschenkten.

Gebessert hat sich die Lage seitdem nicht. Nach den Zahlen von "agrarheute" bleiben den ErzeugerInnen derzeit durchschnittlich und über alle Produkte hinweg von einem Euro ganze 22 Cent. Konkret: Mit einem Liter Milch verdienen sie 0,36 Cent (!), für ein Kilo Schweinskotelett gibt es 1,3 Cent. Vom Brotpreis gehen im Durchschnitt knapp vier Prozent an die LandwirtInnen, die das Getreide säen und ernten. Wer diese Schieflagen thematisiert, kann sicher sein, dass gerade LobbyistInnen und PolitikerInnen, die sonst niemals umgetrieben sind von Sorgen über soziale Ungerechtigkeiten, Schieflagen und Armutsgefährdung, mit einem Mal und vor allem zur Verschleierung der Zusammenhänge jene entdecken, die sich schon heute sehr vieles und nicht nur Hackfleisch nicht leisten können. Die Sozialverbände sind grundsätzlich ausgenommen.

Dass die Ampel die Zustände grundlegend angehen will, ist im Koalitionsvertrag festgeschrieben, jedoch reichlich allgemein gehalten: "Unser Ziel ist eine nachhaltige, zukunftsfähige Landwirtschaft, in der die Bäuerinnen und Bauern ökonomisch tragfähig wirtschaften können und die Umwelt, Tieren und Klima gerecht wird. Wir stärken regionale Wertschöpfungsketten und tragen zum Erhalt ländlicher Strukturen bei." Die Auskunft des Ministeriums ist da schon deutlich präziser: "In diesem Jahr wird eine verbindliche Tierhaltungskennzeichnung eingeführt, damit Verbraucherinnen und Verbraucher damit auf einen Blick erkennen, wie ein Tier gehalten wurde – und warum manche Produkte mehr kosten."

Die Vorarbeiten der Groko sind mangelhaft

Die Vorarbeiten aus der Zeit der Großen Koalition sind mangelhaft. Zwar hatte Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) die nach einem ihrer Vorgänger Jochen Borchert (CDU) benannte Kommission eingesetzt, die nach einem Jahr etliche Empfehlungen präsentierte. Statt aber an den vorgeschlagenen Umbau der Förderpolitik zu gehen und ein neues Tierwohl-Label auf den Weg zu bringen, wurde erst einmal eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben.

Zu praktischen Folgerungen führte sie nicht: Klöckner wollte vor der Bundestagswahl keine entscheidenden Weichen stellen, trotz ihrer Erkenntnis, dass Fleisch zu billig sei. Viel wichtiger war es ihr im beginnenden Bundestagswahlkampf, die Grünen zu bashen. Die hätten "ein städtisches Lebensgefühl und das oktroyieren sie dem ländlichen Raum auf". Rund 50 der 73 Jahre nach Amtsantritt der ersten deutschen Bundesregierung stellte die Union die Agrarminister. Nicht nur die Ramschpreise sind der traurige Beweis, dass die Schwarzen mit Vorstellungen vom Lebensgefühl im ländlichen Raum bisher alles andere als ein Teil der Lösung waren und sind.

Özdemir, der in Bad Urach geborene studierte Sozialpädagoge, legt jedenfalls los mit der Überzeugungsarbeit. Der Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft, der Bauernverband, die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft oder die MilchviehhalterInnen zählten zu den GesprächspartnerInnen der ersten Wochen. Gerade in Fragen der Umsetzung muss der Stuttgarter Bundestagsabgeordnete mit dem herausragend guten Wahlergebnis am 26. September auf seinen heimatlichen Landesverband setzen, weil die Südwest-Grünen als Regierungspartei seit 2011 über die größten konkreten Einflussmöglichkeiten verfügen. Im mit der CDU nach der Landtagswahl ausverhandelten Koalitionsvertrag rücken gerade die landeseigenen Kantinen in den Blick, weil ihnen die Verarbeitung regionaler Bio-Produkte nach Möglichkeit rechtlich verbindlich vorgeschrieben werden soll. Angestrebt wird ein Anteil von 30 bis 40 Prozent spätestens bis 2030, außerdem soll täglich mindestens ein vegetarisches oder veganes Gericht angeboten werden.

Marianne Becker hat damit lange Erfahrungen, kann auf sehr viele zufriedene Gäste seit die Umstellung läuft verweisen, dazu auf einige verwunderte Beschäftigte, die die Abkehr vom täglichen Fleischkonsum erst einmal als Ausdruck neuer Einsparzwänge werteten. Die Grünen-Landtagsfraktion wollte im Rahmen der traditionellen Klausur zum Jahresanfang eigentlich nach Bad Boll fahren. Stattdessen war die Küchenchefin Gast in einer Schalte. Wirklich Optimismus mochte sie jedoch nicht verbreiten, weil sie die Bereitschaft, sich auf die Vorteile regionaler und biologischer Lebensmittel einzulassen, weiterhin als vergleichsweise gering einschätzt.

Becker befürchtet, dass sich – abseits der KonsumentInnen für die Bio "zum Lifestyle" gehört – weiterhin ganze Milieus gegen die Veränderung ihrer Kauf- und Essgewohnheiten sperren, "vielleicht weil ihnen das Angst macht". Und noch eine Frage wirft sie auf in der Diskussion mit den Agrar-ExpertInnen der Fraktion, darunter zwei LandwirtInnen und ein Winzer: Ob nicht Gier und Geiz viel klarer angeprangert werden müssten. Solange die Union in der Bundesregierung saß, wäre die zumindest verbal dazu bereit gewesen. Nach dem Machtwechsel werden Özdemir und die Grünen ziemlich allein dastehen in vielen Debatten. Außer ausreichend viele jener KonsumentInnen, die gerade nicht jeden Euro umdrehen, sortieren sich an der Ladentheke neu. Dann könnte der Wahnsinn beendet werden. Wenigstens mittelfristig.


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4 Kommentare verfügbar

  • Gerald Fix
    am 15.01.2022
    Antworten
    Sie schreiben: "Wer diese Schieflagen thematisiert, kann sicher sein, dass gerade LobbyistInnen und PolitikerInnen, die sonst niemals umgetrieben sind von Sorgen über soziale Ungerechtigkeiten, Schieflagen und Armutsgefährdung, mit einem Mal und vor allem zur Verschleierung der Zusammenhänge jene…
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