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Afghanistan

Tödliche Politik

Afghanistan: Tödliche Politik
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Der Bundesregierung sind afghanische Menschenleben ganz offenbar gleichgültig. Das zeigt nicht nur die verschleppte und nunmehr gescheiterte Rettung der Ortskräfte. Es lässt sich auch an den jahrelang praktizierten Abschiebungen ablesen. Ein persönlicher Bericht, was das bedeuten kann.

Montagnacht war es so weit. Der letzte amerikanische Flieger verließ Afghanistan. Der Abzug der US-Truppen war vollzogen und die Taliban feierten den historischen Moment mit Jubelschüssen und Raketen, die den Nachthimmel erleuchteten. Währenddessen konnten viele Einwohner Kabuls nicht schlafen. Sie gerieten in Panik und dachten anfangs, dass Gefechte auf den Straßen ausgebrochen seien. Der Abzug der amerikanischen Streitkräfte hätte nicht katastrophaler verlaufen können. Noch kurz zuvor flogen die USA zwei Drohnenangriffe in Kabul sowie in der östlichen Provinz Nangarhar. Getötet wurde dabei unter anderem eine zehnköpfige Familie. Das Familienoberhaupt war einst für seine Mörder, die US-Streitkräfte, als Dolmetscher tätig. Sein Visum zur Ausreise stand schon bereit, doch evakuiert hat ihn niemand.

Stattdessen trat das genaue Gegenteil ein. Man hielt den Mann für einen "Terroristen" und löschte ihn mitsamt seiner Familie aus. US-Präsident Joe Biden sprach von einem "Racheangriff", der mit dem IS-Anschlag am Kabuler Flughafen am vergangenen Freitag in Verbindung stand. Fast zweihundert Menschen, darunter dreizehn US-Soldaten, wurden bei dem Massaker getötet. Später berichteten Augenzeugen allerdings, dass die meisten Afghanen nicht durch die Explosion, sondern durch die blinden Schüsse der Amerikaner getötet wurden. "Sie haben sich nie wirklich für afghanische Menschenleben interessiert", kommentierte ein Einwohner Kabuls das Geschehen.

Dass er damit Recht hat, steht mittlerweile außer Frage. Die letzten Tage und Wochen waren in erster Linie für afghanischstämmige Menschen belastend und traumatisierend. Ich war durchgehend nicht nur beruflich eingespannt, sondern auch emotional. Aus der Distanz versuchte ich, jenen zu helfen, an die niemand dachte – und denen schon vor langer Zeit Unrecht angetan wurde. Ein Beispiel hierfür ist mein Freund Maiwand, ein sogenannter "freiwilliger Rückkehrer". Seine Abschiebung im Jahr 2018 war allerdings eher unfreiwillig. Nach mehreren Jahren in Österreich wurde Maiwand mehr oder weniger dazu gedrängt, ein Stück Papier zu unterzeichnen. Der scheinbare Grund: So könne er seine Familie in Afghanistan besuchen. Maiwand hatte wochenlang nichts mehr von seinen Verwandten gehört und fühlte sich verpflichtet, nach ihnen zu schauen. Sein Onkel war in den Jahren zuvor von US-Soldaten getötet worden, sein Vater von den Taliban. Dass er mit diesem Papier für den Verwandtenbesuch tatsächlich seine "freiwillige Rückkehr" unterzeichnete, war ihm nicht klar. Anfang 2021 flüchtete Maiwand ein weiteres Mal aus Afghanistan gemeinsam mit seiner Familie nach Pakistan. Er hatte zuvor mehrere Anschlagsversuche überlebt und kam zu dem nachvollziehbaren Schluss, in Afghanistan keine Zukunft zu haben.

"Wir haben bald Wahlen ..."

Als das Chaos in Kabul losging und die Stadt von den Taliban erobert wurde, meldete sich Maiwand bei mir. "Zum Glück bist du nicht mehr in Afghanistan", war meine erste Reaktion. Doch dann kam der Schock. Maiwand hielt sich wieder in seiner Heimatstadt Dschalalabad im Osten Afghanistan auf. Er war mitsamt seiner Familie wenige Wochen zuvor von den pakistanischen Behörden abgeschoben worden. Nun brauchte er meine Hilfe, doch ich war überfordert. Maiwand war nämlich nicht der Einzige, um den ich mich "kümmern" musste. Im Juni wurde Jahanzeb, ein weiterer Freund von mir aus Österreich, nach Kabul abgeschoben. Während die Taliban Kabul einnahmen, schickte er mir Videos aus seinem Dorf nahe der Hauptstadt. Vor seiner Haustür lag ein toter Soldat. Ich machte mir Sorgen, doch ich wusste auch, dass niemand Jahanzeb evakuieren würde. Keine einzige Behörde der Welt interessierte sich für ihn. Dennoch nahm ich Kontakt mit einer österreichischen Nationalratsabgeordneten auf. Sie wollte seinen Namen und sprach von einer möglichen Evakuierung. Doch passiert ist seitdem nichts.

Und Deutschland? Die Bundesrepublik hat während der jüngsten Entwicklungen ihre hässlichste Fratze gezeigt. Sie hat deutlich gemacht, dass ihr afghanische Menschenleben vollkommen egal sind. Bereits vor etwa einem Monat erfuhr ich aus sicherer Quelle aus dem afghanischen Flüchtlingsministerium, dass Deutschland die damals noch amtierende afghanische Regierung in Sachen Abschiebungen weiterhin bedrängte. Die Message: "Wir haben bald Wahlen. Ihr müsst die Abgeschobenen aufnehmen." So und nicht anders sprach der deutsche Botschafter im Kabuler Flüchtlingsministerium. Seit Ende 2016 fanden vierzig deutsche Abschiebeflüge statt. Die Sicherheit der Betroffenen konnte nie jemand garantieren. Und ja, es muss auch folgendes gesagt werden: Abgesehen davon, dass viele Abgeschobene keine Straftäter sind, hat auch kein Dieb, Vergewaltiger oder gar ein Mörder eine externalisierte Todesstrafe durch einen Drohnenangriff oder ein Selbstmordattentat verdient. Doch die deutsche Rechtsstaatlichkeit scheint in Afghanistan ohnehin verloren gegangen zu sein. Im Fokus stehen Wahlen und die Angst, Wähler an die AfD zu verlieren.

"Ich versuche jetzt mein Glück", sagte mir ein Abgeschobener aus Deutschland vor wenigen Tagen. Er kam im Februar in Kabul an. Sein damaliges Vergehen: Er hatte versucht, vor seiner eigenen Abschiebung zu fliehen. Nun wollte er versuchen, einen Evakuierungsflieger zu erwischen. Er war erfolgslos und muss weiterhin in Afghanistan verharren. Warum über solche Skandale niemand sprechen will, ist mir mittlerweile nicht mehr schleierhaft. Die gescheiterte Luftbrückenaktion und die Ignoranz des Auswärtigen Amtes haben deutlich gemacht, dass afghanische Menschenleben nichts wert sind. Selbst jene Menschen, die mit der Bundeswehr zusammenarbeitet haben, wurden zurückgelassen. Man könnte fast meinen, sie hätten nie existiert. Stattdessen ist von Annäherungsversuchen mit den Taliban die Rede. Dass man mit diesen das Gespräch suchen muss, steht außer Frage. Dass man mit diesen Abschiebedeals unterzeichnen muss, hingegen nicht. Dass es eines Tages dazu kommen wird, ist allerdings alles andere als unwahrscheinlich.


Afghanistan-Experte Emran Feroz hat für investigative Recherchen große Teile des Landes bereist und war neben der Hauptstadt auch in provinzielleren Gebieten unterwegs, immer ohne Geleitschutz. Jüngst erschien von ihm das Buch "Der längste Krieg – 20 Jahre War on Terror" im Westend-Verlag. Kontext veröffentlichte einen Vorabdruck


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2 Kommentare verfügbar

  • Jue.So Jürgen Sojka
    am 07.09.2021
    Antworten
    Emran Feroz, Sie haben als Reisender in Sachen "Tatsachen zu berichten", auch die provinziellen Gebiete bereist. Sie müssen einen wohlwollenden Schutzengel Ihr Eigen nennen, der Sie durch dieses Land mit geringer Kontrollmöglichkeit geführt hat.

    Jedenfalls lässt sich zu Reisen in Afghanische…
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