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Brandschutz in S-21-Tunneln

Bahnbrechend

Brandschutz in S-21-Tunneln: Bahnbrechend
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Eine Simulation zum Rettungskonzept in Stuttgart-21-Tunneln wollte die Bahn AG nicht vorlegen. Nun hat der Verwaltungsgerichtshof Mannheim klargestellt, dass der Konzern zur aktiven Beschaffung und Offenlegung der Daten verpflichtet ist. Eine Entscheidung, die Relevanz weit über diesen Fall hinaus hat.

Wenn es um detaillierte Planungsunterlagen zu Stuttgart 21 geht, lässt sich die Bahn oft nur ungern in die Karten blicken. Manche erinnern sich vielleicht noch an die "Frankfurter Geheimkammer", in der – und eben nur dort – während der sogenannten Schlichtung im Herbst 2010 Projektkritiker Einblick in Dokumente zur Geologie bekommen konnten. Beim Thema Brandschutz und einem Evakuierungskonzept im rund 60 Kilometer langen S-21-Tunnelsystem verhielt sich die Bahn noch restriktiver. Was passiert etwa, wenn ein vollbesetzter ICE im knapp 9,5 Kilometer langen Fildertunnel liegen bleibt? Was, wenn er dabei auch noch brennt? Reichen die im Abstand von 500 Metern vorgesehenen Durchgänge in den Nachbartunnel und bleibt dieser sicher?

Alles kein Problem, versicherte unter anderem der frühere Bahn-Brandschutzbeauftragte Klaus-Jürgen Bieger immer wieder; eine Simulation hätte gezeigt, dass das Rettungskonzept ausreichend sicher sei, der andere Tunnel rauchfrei bleibe. Die Schweizer Beratungsfirma Gruner AG hat die Simulation erstellt – und die hütete die DB bislang wie ein Staatsgeheimnis. 2014 betonte Bieger etwa, "auf keinen Fall" wolle man die Simulation veröffentlichen (Kontext berichtete). Sich von dieser Geheimniskrämerei zu verabschieden, wurde die Bahn nun schon zum zweiten Mal vom Verwaltungsgerichtshof (VGH) Mannheim verdonnert.

Zunächst erstritt die projektkritische Gruppe "Ingenieure 22" in einem jahrelangen Verfahren, das bis vor den Verwaltungsgerichtshof führte, Einsicht in die Unterlagen. In einem Vergleich verpflichtete sich die Stuttgart-21-Projektgesellschaft (PSU) im Dezember 2019, dem Kläger Einblick in die Unterlagen zu gewähren. In zwei Terminen sichteten Mitglieder der Ingenieure 22 die Dokumente – und es zeigte sich, dass der Aufklärungsimpetus der Bahn begrenzt war: Den Kritikern wurde eben nicht die von der Gruner AG erstellte Simulation selbst vorgelegt, sondern nur Berichte über diese. Schon anhand von diesen wurde ersichtlich, dass die Bahn offenbar mit wenig realistischen, "manipulierten Best-Case-Szenarien" arbeite, so Ingenieure-22-Sprecher Wolfgang Jakubeit; die Evakuierungszeiten seien schöngerechnet.

Aufklärung in Trippelschritten

Und es wurde noch besser: Die Stellungnahme der Bahn zu einem Antrag der FrAktion (Linke, SÖS, Piraten, Tierschutzpartei) im Stuttgarter Gemeinderat zeigte, dass der Simulation offenbar kein "heißes Ereignis", also ein Zugvollbrand im Fachjargon, sondern nur ein Kaltereignis, also eine Zugpanne im Tunnel ohne Brand zugrunde gelegt wurde – was bedeutet, dass die Bahn jahrelang die Behörden getäuscht hatte (Kontext berichtete). Zudem mehrten sich Hinweise, dass es gar keine Simulation gibt.

Klarheit wäre schnell zu schaffen, würde die Bahn Einblick in die Simulation – so es sie gibt – verschaffen, wozu sie ja gemäß des Vergleichs vom Dezember 2019 verpflichtet ist. Was die Bahn aber bislang anders sah: Sie könne keinen Einblick gewähren, weil sie die Simulation gar nicht habe, diese befinde sich in Basel bei der Gruner AG. Und damit sah der Schienenkonzern seine Verpflichtung aus dem Vergleich erfüllt.

Was die Projektkritiker anders sahen. Sie stellten beim Verwaltungsgericht Stuttgart den Antrag, eine Zwangsvollstreckung des Vergleichs zu ermöglichen – dann könnte ein Gerichtsvollzieher beauftragt oder ein Zwangsgeld gegenüber der Bahn festgesetzt werden. Wie erwartet wehrte sich die Bahn und bezeichnete den Vergleich aus ihrer Sicht als erfüllt – womit ihr am 10. März das Verwaltungsgericht Stuttgart auch zunächst Recht gab. Die Ingenieure 22 legten über ihren Anwalt Klaus-Ulrich Mann Beschwerde gegen den Beschluss ein – worauf ihnen der Verwaltungsgerichtshof am 8. Juni schließlich umfassend Recht gab: Dem Kläger sei eine "vollstreckbare Ausfertigung" des im Dezember 2019 geschlossenen Vergleichs zu erteilen, denn seine Beschwerde sei "zulässig und begründet". Denn selbst wenn die Bahn die entsprechende Simulation nicht besäße, so der VGH, sei es "nach dem Vergleichsinhalt" ihre Aufgabe, "das bei der Vertragspartnerin Gruner AG verwahrte Dokument für den Kläger zur Einsichtnahme zur Verfügung zu stellen."

Weitreichender Richterspruch

Eine unmissverständliche Entscheidung. Für den ehemaligen Richter Dieter Reicherter, Mitglied im Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21, weist sie zudem weit über S 21 und den verhandelten Fall der Simulation hinaus. Auf der 569. Montagsdemo gegen Stuttgart 21 betonte er am 5. Juli (siehe Video): "Das hat enorme Bedeutung nicht nur gegenüber der Bahn, sondern auch gegenüber allen Behörden." Denn der VGH begründet seinen Spruch mit dem Umweltinformationsgesetz (UIG), in dessen Paragraf 4 unter anderem steht, dass eine "informationspflichtige Stelle", falls sie nicht über die beantragten Informationen verfüge, den Antrag "an die über die begehrten Informationen verfügende Stelle weiter(leitet), wenn ihr diese bekannt ist, und unterrichtet die antragstellende Person hierüber" (Gesetzestext hier).

Was konkret heißt: Der VGH hat klargestellt, "dass alle auskunftspflichtigen Behörden die Bürgerinnen und Bürger aktiv bei der Beschaffung von Informationen unterstützen müssen", so Reicherter. Sich damit herauszureden, man habe die Information gar nicht, reiche nicht mehr. Das sei "bahnbrechend". Damit bekräftigt der VGH auch mehrere Urteile von Verwaltungsgerichten aus dem vergangenen Jahr, in denen das Land Baden-Württemberg aufgefordert wurde, Informationen zum Pestizideinsatz in der Landwirtschaft zu beschaffen.

Nun wäre die Bahn wohl nicht die Bahn, würde sie sich nicht auch jetzt mit Händen und Füßen wehren. Auf einen Vorschlag der Ingenieure 22, es angesichts der klaren Rechtslage doch nicht zur Zwangsvollstreckung kommen zu lassen und stattdessen im Sinne einer gütlichen Einigung freiwillig eine DVD mit der Simulation zur Verfügung zu stellen, antwortete der Rechtsbeistand der Bahn Anfang Juli damit, eine Anhörungsrüge gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs erhoben und beantragt zu haben, die Vollziehung einstweilen auszusetzen.

Wie der VGH darauf reagiert, bleibt abzuwarten. Die Aufklärung geht weiter – in Trippelschritten.
 

Eingebettetes Video von Eberhard Linckh.


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8 Kommentare verfügbar

  • Ernest Petek
    am 07.07.2021
    Antworten
    Transparenz war von Anfang an nicht gewollt, nicht durch die Verantwortlichen in Stuttgart, dem Land Baden-Württemberg, der Bahn AG, dem Eisenbahnbundesamt [1], dem Bundesverkehrsministerium und eben auch NICHT vom Landesverkehrsministerium:
    Verkehrsminister Winfried Hermann nach der Sitzung des…
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