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Winfried Kretschmann

Grundrechte oder Pandemie-Regime

Winfried Kretschmann: Grundrechte oder Pandemie-Regime
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Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat für künftige Pandemien ein "Regime" vorgeschlagen und wäre auch bereit für eine Grundgesetzänderung. Mittlerweile rudert er zurück. Wahlkampfhilfe für Annalena Baerbock sieht anders aus.

So so, da droht dem Land ja was: Kretschmann – der einzige grüne Ministerpräsident – schadet der Demokratie, urteilt die NZZ. FDP-Landesfraktionschef Hans-Ulrich Rülke behauptet, Kretschmann "entwickelt sich zum Autokraten", und der SPD-MdB Dirk Wiese sagt, der MP träume "von einem permanenten Notstand der Exekutive". In sozialen Medien ist die Rede vom "totalitären Kretschmann" und vom "Altmaoist", der "offenbar immer noch nicht mit dem Programm des KBW gebrochen hat". Da wirkt der Kommentar von CDU-Präsidiumsmitglied Norbert Röttgen – "großer Quatsch" – eher harmlos. Was damit zusammenhängen könnte, dass die CDU bei den Grünen in Baden-Württemberg mitregiert. Und für den Bund scheinen die beiden Parteien sich eine Koalition ja auch vorstellen zu können.

Winfried Kretschmann hat also den "Stuttgarter Zeitungsnachrichten" (StZN) vor ein paar Tagen ein Interview gegeben, in dem er die Rechtsprechung während der Coronapandemie kritisiert, das rechtsstaatliche Prinzip der Verhältnismäßigkeit – also das Abwägen eines Rechts gegen ein anderes – infrage stellt und meint, man brauche "für Pandemien ein eigenes Regime", denn wenn "wir" in einer Pandemie frühzeitig Maßnahmen ergreifen können, "die sehr hart und womöglich zu diesem Zeitpunkt nicht verhältnismäßig gegenüber den Bürgern sind, dann könnten wir eine Pandemie schnell in die Knie zwingen". Dann kommt noch was mit "möglicherweise das Grundgesetz dafür ändern".

Wumms. Das war und ist harter Tobak. Zumal bekanntlich jedes Wort eines PolitikerInnen-Interviews von den Interviewten beziehungsweise von deren Pressestellen nochmal gegengelesen und eventuell geändert wird. Damit kein "großer Quatsch" verbreitet wird. Hat diesmal nicht geklappt. Offensichtlich hat die Pressestelle des Ministerpräsidenten die Brisanz der Äußerungen nicht erkannt. Denn kaum ging das mediale Gewitter am Freitag los, wurde flugs ein Zurückruder-Statement veröffentlicht. Inhalt: Das in dem Interview habe er, Kretschmann, gar nicht so gemeint, im Gegenteil, er wolle mehr Freiheiten für die Bürger. In der Pressestelle des Staatsministeriums herrschte bis vor einem Jahr Rudi Hoogvliet, ein enger Vertrauter von Kretschmann. Doch seit einem Monat darf er das Land in Berlin vertreten. Seinen Job hat der vormalige Vize-Sprecher Arne Braun übernommen, der hier keine glückliche Hand bewiesen hat.

Die StZN jedenfalls haben mit dem Interview einen Coup gelandet, die Klickzahlen dürften in die Höhe geschossen sein, und die sind ja bekanntlich die neue Währung von Zeitungen. Aufmerksame LeserInnen könnten in dem Interview nachhakende Fragen an den Ministerpräsidenten vermissen. Zum Beispiel: "Was konnten Sie in der Pandemie nicht machen wegen der bestehenden Rechtsprechung?" "Wollen Sie das Verhältnismäßigkeitsprinzip tatsächlich abschaffen?" "Was sollte Ihrer Ansicht nach am Grundgesetz geändert werden?" Gab's aber nicht.

So blieb einiges an Interpretationsspielraum. Und der wurde engagiert genutzt. Kleine und große Tageszeitungen bis hin zur NZZ fragten bei PolitikerInnen nach – interessanterweise besonders gerne bei BundespolitikerInnen. Und bekamen – oh Wunder – teils recht derbe Kritik am baden-württembergischen Grünen-MP zu hören. Schließlich ist Wahlkampf. Dass die im Großen und Ganzen eher bürgerlich-konservativen Tageszeitungen die Gelegenheit nutzten, um ihre Kampagne gegen die grüne Gefahr aufzumotzen, wundert nicht. Bislang hatte man sich darauf konzentriert, die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock und ihre Partei als Schreckgespenster hinzustellen, weil die Grünen das Fliegen, Autofahren, Bauen und Fleischessen, männliche Schreibweisen und was immer diversen Lobbygruppen noch einfällt, angeblich verbieten würden, kämen sie an die Macht. Dem lässt sich von interessierter Seite nun ein neues Narrativ hinzufügen: Die Grünen seien eigentlich Autokraten. Auch das ist zwar alles Quatsch, aber wenn es oft genug wiederholt wird, werden Menschen das schon glauben. Die Interessenlage von wirtschaftsnahen, neoliberalen, vielleicht auch nur fantasiefreien Kräften ist eindeutig: Eine grüne Kanzlerin muss verhindert werden.

Merkel noch mal als Kanzlerin

Oder wollte Kretschmann von Annalena Baerbock ablenken? Die Kritik auf sich ziehen, damit seine Parteikollegin in Ruhe gelassen wird? Das wäre zu doof und ein Schuss nach hinten, schließlich ist auch Kretschmann ein Grüner. Der SPD-Landtagsabgeordnete Boris Weirauch hat eher den Eindruck, Kretschmann versuche, an konservative Kreise anzudocken. Für ihn untergräbt Kretschmann, indem er die Gewaltenteilung infrage stellt, einen Grundpfeiler der Verfassung. "Damit bespielt er auch fragwürdige Milieus. Unser Rechtsstaat hat sich in der Corona-Krise bewährt und sollte nicht für politisch-taktische Diskussionen missbraucht werden." Außerdem: Die Landesregierung hätte ja während der Pandemie härter durchgreifen können, sei aber oftmals zu zögerlich oder zerstritten gewesen, wie etwa bei der Frage der Schulöffnungen. "Dass der Verwaltungsgerichtshof zuletzt bei der Ausgangssperre eingeschritten ist, lag daran, dass Sozialminister Lucha nicht in der Lage gewesen war, die Maßnahme gerichtsfest zu begründen." Der Jurist und rechtspolitische Sprecher seiner Fraktion findet das Interview jedenfalls "verstörend". Kretschmann spiele "mit autoritären Narrativen. Das kann man nicht unter dem Label 'schratig' verbuchen." Und so muss auf Antrag der SPD-Fraktion der Ministerpräsident sich heute, Mittwoch, gegenüber dem Parlament erklären.

"Ich bin nicht der König von Baden-Württemberg", sagt der 73-jährige Kretschmann gerne, zum Beispiel hier und hier. Erst vor drei Monaten erklärte er, es wäre schöner gewesen, wenn damals die Politik die Ausgangssperre aufgehoben hätte und nicht das Gericht. Aber man lebe "Gott sei Dank in einem Rechtsstaat, in dem Gerichte anders entscheiden können als die Politik." Noch was? Natürlich: "Ich bin nicht der König von ...", Sie wissen schon.

Vielleicht sollte ernsthafter darüber nachgedacht werden, ob nicht zwei Legislaturperioden für BundeskanzlerInnen, MinisterpräsidentInnen, (Ober-)BürgermeisterInnen reichen. Die Gewöhnung an Macht geschieht schleichend. BundespräsidentIn sein, geht auch nur zwei Amtszeiten – und da gibt's noch nicht mal Macht. Winfried Kretschmann ist von einer solchen Begrenzung sicherlich kein Freund. Abgesehen davon, dass er gerade seine dritte Amtsperiode begonnen hat, findet er, Angela Merkel hätte im September ruhig nochmal antreten können. Hat er gesagt. Am Samstag in einem Interview mit dem Mannheimer Morgen.

"Pandemie-Regime" und Merkel weiter als Kanzlerin haben wollen – wenn das die Unterstützung für den Wahlkampf ist, die Kretschmann vor wenigen Wochen Annalena Baerbock auf dem Bundesparteitag der Grünen versprochen hat: viel Vergnügen.


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6 Kommentare verfügbar

  • Philippe Ressing
    am 03.07.2021
    Antworten
    So richtig gewundert hat mich das nicht. Erstens bestätigt das meinen Eindruck, den ich schon in den 80ies als Grüner von Kretschmann hatte: Autoritärer Charakter. Zweitens zeigt sich, wie ein zu langes Sitzen auf dem Regierungssessel den Hang zur Selbstüberschätzung des grünen `'Sonnenkönigs'…
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