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Aerosolforschung

Da liegt was in der Luft

Aerosolforschung: Da liegt was in der Luft
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Baden-Württemberg hat seit über einem halben Jahr ein Expertengremium für Aerosole. Wussten Sie nicht? Wir auch nicht. Dabei leisten die ForscherInnen einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung der Pandemie – sofern sie denn gehört werden.

Das Ländle kann sich glücklich schätzen. Elf schlaue Köpfe untersuchen, wie sich Aerosole verbreiten, wie sie Viren transportieren – und wie wir uns vor Infektionen schützen können. Der "Expertenkreis Aerosole", wie das Gremium heißt, arbeitet der baden-württembergischen Landesregierung und deren Corona-Lenkungskreis zu. Große Bekanntheit hat der kleine Kreis von ExpertInnen verschiedenster Fachrichtungen allerdings noch nicht erlangt, seitdem er im vergangenen Oktober von Wissenschaftsministerin Theresia Bauer ins Leben gerufen wurde.

Was wiederum, könnte man monieren, auch schon gut ein halbes Jahr war, nachdem der Begriff "Aerosol" in Zusammenhang mit dem neuartigen Coronavirus Eingang in den täglichen Sprachgebrauch gefunden hatte. Aber dass die Eile der Landesregierung hier diskussionswürdig war, dafür können die ExpertInnen nichts.

Achim Dittler ist der Sprecher dieser schlauen Köpfe. Am renommierten KIT in Karlsruhe befasst er sich vor allem mit "Gas-Partikel-Systemen". Und er ist verwundert. Darüber, dass Aerosole vergangene Woche plötzlich so prominent in den Zeitungsspalten und Tickermeldungen waren. Ein offener Brief von ForscherInnen der "Gesellschaft für Aerosolforschung" (GAeF) sorgte für Diskussionen. Gerichtet ist das Schreiben an "die politischen Entscheidungsträger der BRD". LeserInnen lernen, die Gefahr befinde sich "DRINNEN", wie die schreienden Buchstaben verraten. Neu ist daran allerdings nichts.

Der Expertenkreis hat die meisten Punkte des breit rezipierten offenen Briefs des GAeF-Vorstands sowie des Aersolforschers Gerhard Scheuch bereits im vergangenen Dezember herausgearbeitet. Luftfilter, korrekt getragene Masken, Abstand halten und draußen von drinnen differenzieren – alles keine Weltneuheit. Eigentlich. "Es ist schon interessant, wie die Presse diesen offenen Brief aufgefasst hat", kommentiert Dittler. Bei Markus Lanz im ZDF etwa habe man gar den Eindruck bekommen können, dass die Tatsache vollkommen neu sei, draußen sei es weniger gefährlich als drinnen. Im Gegensatz dazu erscheint die mehr als vier Monate alte erste Stellungnahme des Expertenkreises "offensichtlich komplett verpufft" zu sein, so der Wissenschaftler.

Zurück zu den Fakten

Für jene, für die es tatsächlich neu war: Aerosole sind Gemische aus Gas und festen oder flüssigen Teilchen. Sie zählen nach wissenschaftlichen Erkenntnissen derzeit zu den wichtigsten Übertragungswegen für das neuartige Coronavirus. Vergangenen Oktober, als das Beratergremium gegründet wurde, trafen sich die ExpertInnen jeden Freitag via Videocall. Jetzt finden die Digitalkonferenzen nur noch alle zwei Wochen statt – im Moment kämen weniger Anfragen der Ministerien, meint Dittler. Allerdings sei die gegenwärtige Phase der Regierungsbildung wohl auch dafür verantwortlich.

Mit der medialen Kommunikation rund um die Pandemie ist Dittler alles andere als zufrieden. Er kritisiert scharf, dass Meta-Diskussionen die Inhalte verdrängten. Wenn es in Talkshows etwa mehr um Polemik und einen Schlagabtausch an Meinungen gehe, die Vermittlung von Sachinhalten aber zu kurz käme. "Zum Beispiel den Menschen Verhaltensweisen anhand von Eselsbrücken beizubringen", konkretisiert der 51-Jährige. Tatsächlich bleibt manch stiller Beobachtender verwundert zurück: Seit über einem Jahr dominiert die Pandemie die mediale Landschaft. Dennoch scheinen grundlegende Erkenntnisse der Wissenschaft bei vielen Menschen noch nicht ins Bewusstsein vorgedrungen zu sein. Die Maske hängt auf halb acht, Fenster werden nur gekippt (Dittler: "Das ist kein Lüften"), anstatt sie komplett zu öffnen, oder Filtersysteme fungieren als Freifahrtschein dafür, auf andere Schutzmaßnahmen zu verzichten. Dabei betonen WissenschaftlerInnen immer wieder, dass die Maßnahmen nur in der Kombination die beste Schutzwirkung entfalten können.

Nicht jedes Thema ist in 20 Sekunden abgefrühstückt

Wer hat Schuld? Ist es schlechte Kommunikation der Politik? Oder der Wissenschaft? "Die" Medien? Merkel höchstselbst?

Klar ist zumindest: Die WissenschaftlerInnen müssen sich diesen Schuh nicht anziehen. Sie arbeiten hart daran, solide Daten in konkrete und verständliche Empfehlungen umzumünzen. Doch bei der Umsetzung scheint es so, als steckten wir im ersten Level eines Computerspiels fest und kämen nicht weiter, weil die Tastatur nicht angeschlossen ist.

Beispiel Ausgangssperren: "Das Thema lässt sich nicht in 20 Sekunden O-Ton behandeln", konstatiert Experte Dittler. Das gilt wohl für viele Aspekte der Pandemie und die Maßnahmen zu ihrer Eindämmung. Was die Politik der Landesregierung angeht, zeigt sich Dittler indes zufrieden. Er habe das Gefühl, dass die PolitikerInnen die Empfehlungen des Expertenkreises ernst nähmen. Winfried Kretschmann habe dem Kreis ein Dankesschreiben geschickt. Kritisch sieht der 51-Jährige allerdings, dass die bald ehemalige Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) in Bezug auf die Kohlendioxidwerte in Klassenzimmern recht starr an den Richtlinien des Umweltbundesamtes (UBA) orientiert habe. 1.000 ppm (parts per million – Anteile pro Million) an CO2 war der UBA-Richtwert – der Expertenkreis Aerosole habe jedoch eine CO2-Grenze von 800 ppm angesetzt, den 1.000er-Wert bezeichnet der Forscher als "etwas aus der Luft gegriffen".

Ein ruhiger, kritischer Blick zeigt: Maßnahmen müssen besser kommuniziert werden. Vor allem aber müssen sie auch umgesetzt werden. Das klingt so unglaublich banal, dass es zunächst erstaunt. Notwendig scheint es dennoch: Für die Querdenker-Demo mit etwa 15.000 TeilnehmerInnen wurden – konkret an den Empfehlungen des Expertenkreises Aerosole orientiert – Zonierungen geschaffen, Maskentragen sowie Abstand vorgeschrieben sowie OrdnerInnen angedacht, die das Einhalten dieser Regeln kontrollieren sollten. Das Problem: Bei den 15.000 Demonstrierenden wären das rund 600 OrdnerInnen gewesen, geht es nach den Auflagen des Ordnungsamtes (Kontext berichtete). Die suchte man jedoch vergeblich.

"Open Air statt Ausgangssperre!" – Oder?

Heiß diskutiert sind auch die Maßnahmen für Schulen und Kitas. Auf Nachfrage zu den Empfehlungen des Expertenkreises wird im zuständigen Ministerium versichert: "Das Kultusministerium hat diese Empfehlungen aktuell alle berücksichtigt. Die Hygiene- und Verhaltensregeln, welche der Expertenkreis Aerosole empfiehlt, sind bereits seit langer Zeit in den Hygiene- und Schutzhinweisen des Kultusministeriums aufgenommen worden." Dennoch, so erzählt Dittler, erreichten ihn immer wieder CO2-Messwerte aus Schulen, die darauf hindeuten: Hier wird nicht gescheit gelüftet.

Und immer wieder wird deutlich: Es ist eminent wichtig, differenzieren zu können. So teilt Achim Dittler als Mitglied und Sprecher des Expertenkreises zwar die Meinung des Aerosolforschers Gerhard Scheuch, Mitunterzeichner des GAeF-Briefes: "Open Air statt Ausgangssperre!" Doch auch hier plädiert er fürs Innehalten und den genauen Blick. Was soll mit einer bestimmten Maßnahme erreicht werden? Geht es darum, dass sich dadurch weniger Menschen aus verschiedenen Haushalten in engen Räumen zusammenrotten – gut. Wird aber ein abendlicher Spaziergang, ob mit Hund oder FreundIn aus dem eigenen Haushalt, unterbunden – dann sei das ganz einfach: "Quatsch."


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