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Stuttgart 21

Tunnelprobleme? Noch mehr Tunnel!

Stuttgart 21: Tunnelprobleme? Noch mehr Tunnel!
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Fast ein neues S 21: Mindestens 5,5 Milliarden Euro würde es kosten, 47 neue Tunnelkilometer bedeuten und enorme Treibhausgas-Emissionen verursachen, wenn vier Ergänzungsprojekte bei Stuttgart 21 realisiert würden. Das hat der Verkehrsberater Karlheinz Rößler in einer neuen Studie berechnet.

Dürfen's noch ein, zwei Milliarden mehr sein? Diese Frage kennen aufmerksame Beobachter der Kostenentwicklung um Stuttgart 21 zur Genüge. Und wie bekannt, durften es letztendlich auch immer mehr Milliarden sein. Wenn auch mit der bizarren Folge, dass sich das Land und die Stadt Stuttgart einen nun schon über vier Jahre dauernden Rechtsstreit um die Übernahme der Mehrkosten liefern, Ende nicht absehbar.

Dass es auf einmal 5,45 Milliarden mehr sein dürfen, das aber ist dann doch eine neue Größenordnung. So hoch ist jedenfalls der Betrag, den der Münchner Verkehrsberater Karlheinz Rößler in einer neuen Studie als Kosten für vier S-21-Ergänzungsprojekte schätzt, die gerade in der Diskussion sind: Erstens ein Gäubahntunnel, der östlich von Sindelfingen beginnend zum neuen Filderbahnhof führen soll – Steffen Bilger, CDU-Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium, hat diese Idee vergangenes Jahr aus dem Hut gezaubert. Zweitens ein Zulauftunnel im Norden unter Stuttgart-Zuffenhausen für die aus Mannheim kommende ICE-Strecke. Drittens die sogenannte P-Option, ein Verbindungsstück für die nördlichen Zulaufstrecken im Bereich Prag. Und viertens ein unterirdischer Ergänzungs-Kopfbahnhof, in den unter anderem die bestehende Strecke der Gäu- bzw. Panoramabahn führen soll, wie ihn im Juli 2019 Landesverkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) in die Diskussion gebracht hat.

Für all diese Projekte gibt es bislang noch keine offiziellen Zahlen, da sie über den Stand der planerischen Idee – oder "Fiktion", wie es Hermann im Falle des Gäubahntunnels nennt – noch nicht hinausgekommen sind. Und so intensiv Bilger auch für seine Tunnelidee trommelt, immer noch nicht geliefert hat sein Haus die ursprünglich bereits für Ende 2020 angekündigte Wirtschaftlichkeitsberechnung des Gäubahntunnels, die naturgemäß auch eine Kostenprognose enthalten muss.

Noch fehlen detaillierte Baupläne

Rößler war da schneller mit seiner Studie, die er im Auftrag des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21 angefertigt hat. Auch wenn er noch auf keine detaillierten Baupläne zurückgreifen kann, sondern "nur auf ganz grobe Skizzen". Doch alleine durch die bekannten Eckpunkte und die Orientierung an vergleichbaren, bereits gebauten oder im Bau befindlichen Tunnelprojekten lässt sich das erstellen, was sein Gutachten laut Eigenbezeichnung ist: eine "Grobabschätzung". Mit dieser Methodik hat Rößler, als Teil des Verkehrsberatungsbüros Vieregg & Rößler, in der Vergangenheit schon Kostenschätzungen zu S 21 erstellt, die sich im Nachhinein als erstaunlich präzise erwiesen.

Was ist bislang bekannt? Beim Gäubahntunnel, den Rößler "Bilgertunnel" nennt, dass er etwa 12 Kilometer lang sein soll. Da die Strecke zweigleisig ist und die EU in solchen Fällen zwei getrennte Tunnelröhren vorschreibt, verdoppelt sich die Länge der zu bohrenden und zu betonierenden Tunnelkilometer auf 24. Entsprechend kommt es beim Zulauftunnel im Norden zu 20 neuen Tunnelkilometern, bei der P-Option zu voraussichtlich 1,6 und beim Ergänzungsbahnhof zu einem Kilometer – wobei hier nur der Zulauftunnel gerechnet wurde. Zusammen also rund 47 Tunnelkilometer.

Mit fast genau der Hälfte der Kosten, 2,73 Milliarden, schlägt in Rößlers Schätzung dabei der Gäubahntunnel zu Buche. Man darf gespannt sein, wie hoch der Betrag in der Rechnung des Bundesverkehrsministeriums sein wird, wenn sie denn einmal kommt. Nicht allzu weit dahinter der Nordzulauf mit 2,27 Milliarden, während P-Option (180 Millionen) und Tunnelzulauf zum Ergänzungsbahnhof (270 Millionen) vergleichsweise günstig sind.

Dabei würde es vermutlich nicht bleiben. Was nicht nur daran liegt, dass Rößler etwa in Bezug auf die künftige Inflation der Baukosten eher zurückhaltend gerechnet hat, sondern auch, dass er in seiner Schätzung nur Tunnelstrecken betrachtet. Gerade beim Ergänzungsbahnhof ist dies wichtig: Kosten für eine wie auch immer geartete Bahnhofshalle sind nicht eingerechnet, und den Tunnelabschnitt lässt Rößler erst ab der Brücke über die Ehmannstraße beginnen, wodurch er nicht besonders lang ist. Würde der Ergänzungsbahnhof umgesetzt und zugleich der Forderung von Stuttgarts Baubürgermeister Peter Pätzold entsprochen, schon ab dem geplanten Rosensteinviertel keine oberirdischen Gleise mehr zuzulassen, würde sich die Länge der Tunnelstrecke hier noch deutlich erhöhen.

730.000 Tonnen Treibhausgase mehr. Äh, Klimawandel?

Anlässlich dieser Zahlen titelte das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 in seiner Pressemitteilung zur Studie: "Das zweite Stuttgart 21". Rund 5,5 Milliarden zusätzlich zu den bisherigen S-21-Kosten, die die Bahn offiziell mit 8,2 Milliarden taxiert, die nach Kontext-Recherchen und Schätzungen des Bundesrechnungshofs aber eher bei rund zehn Milliarden Euro liegen. Und 47 Tunnelkilometer zusätzlich zu den bisherig geplanten oder schon gebohrten 58, zusammen also 105 Kilometer – das hat schon monströse Ausmaße.

Mindestens so eindrucksvoll – im negativen Sinne – ist auch eine weitere Zahl: Rößler schätzt die zusätzlichen Treibhausgasemissionen durch den Bau der neuen Tunnel auf 730.000 Tonnen. Diese umfassen nicht nur Kohlendioxid, sondern Gase wie Methan und Lachgase, die zwar wesentlich geringere Mengen als CO2 ausmachen, aber um ein Vielfaches klimaschädlicher sind. Zum Vergleich: Die Treibhausgasemissionen durch Stahl und Beton für die bisherig geplanten S-21-Tunnel schätzte Rößler 2017 auf 1,9 Millionen Tonnen, die für den gesamten Bau und Betrieb von Stuttgart 21 bis ins Jahr 2050 auf 3,5 bis 5,6 Millionen Tonnen (Kontext berichtete).

Bei den Emissionen gelten dabei die gleichen Unwägbarkeiten wie bei den Kosten. Rößler kann sich vorstellen, dass auf Basis detaillierter Pläne bis zu doppelt so hohe Mengen herauskommen könnten. Wobei schon 730.000 Tonnen kein Pappenstiel sind; zum Vergleich: alle in Stuttgart zugelassenen PKW stoßen pro Jahr im Schnitt 900.000 Tonnen Treibhausgase aus. Weshalb Rößler findet: "Solche Projekte müssen angesichts der Klimakatastrophe als anachronistisch gelten."

Spätestens hier müssten auch Klimaschützer, die sich bislang wenig für das Projekt interessierten, hellhörig werden. Und man darf gespannt sein, ob die neu gegründete Klimaliste Baden-Württemberg Stuttgart 21 nun noch kurz vor Schluss für ihren Wahlkampf entdeckt – bis dato findet sich in ihren öffentlich zugänglichen Positionen nichts dazu.

Ein Versuch, lange bekannte Mängel zu korrigieren

An dieser Stelle darf auch einmal wieder in Erinnerung gerufen werden, warum diese ganzen Ergänzungsprojekte überhaupt angedacht wurden: Wegen der offensichtlichen, gravierenden Mängel von S 21. Weil den Planern aufgefallen ist, dass die Leistungsfähigkeit des neuen Bahnknotens unter anderem für den Deutschlandtakt, den Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) so vollmundig versprochen hat, viel zu gering ist. Was wiederum damit zusammenhängt, dass der Tunnelbahnhof eine Kapazitätsreduktion gegenüber dem Kopfbahnhof darstellt, im Vergleich zu diesem über keinerlei Kapazitätsreserven verfügt, es sich um einen programmierten Engpass handelt. Projektkritiker haben schon lange darauf hingewiesen. Die Tieferlegung des Bahnhofs und Vertunnelung all seiner Zulaufstrecken ist eines auf gar keinen Fall: Eine Investition in Verkehrsverlagerungen auf die Schiene und damit in eine zukunftsweisende Mobilität.

Ein Twitterer brachte dies kurz nach der Präsentation von Rößlers Gutachten treffend auf den Punkt: "Wenn man versucht, jene Probleme, die man gerade wegen der ganzen Stuttgart-21-Tunnel hat, durch zusätzliche Tunnel zu beheben."


Hier geht's zur Studie.


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3 Kommentare verfügbar

  • Wolfgang Zursiedel
    am 10.03.2021
    Antworten
    Es gibt immer mehr unsinnige Projekte, die von Politikern entwickelt werden, die keinerlei Ahnung von den Bedürfnissen des Bahnverkehrs haben. Beispiel: Die Bahn wollte nie eine Strecke zum Flughafen bauen, die auch heute noch völlig deplaziert ist. Wenn nach den neusten Planungen die Inlandsflüge…
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