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Hanauer Morde

Wut

Hanauer Morde: Wut
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Am Abend des 19. Februar 2020 ermordete ein Rassist neun Menschen. Für unsere Autorin unbegreiflich, unfassbar, 30 Jahre nach den Anschlägen von Hoyerswerda, Solingen, Mölln Anfang der 1990er-Jahre. Was hat sich verändert zwischen Solingen und Hanau?

Am Morgen des 29. Mai 1993 saß ich in unserer Küche und freute mich über die Stille. Ich nahm mir ein Buch und schaltete das Radio ein. Danach war mein Leben nie mehr wie es war. Als ein Rassist an diesem Samstag das Haus der Familie Genc in Solingen anzündete, starben fünf Mädchen und Frauen in diesen Flammen. Sie verbrannten. Ich war ein Teenager und Rassismus war mein steter Begleiter von dem Moment an, von dem ich mit Deutschen in Kontakt kam, also etwa ab dem Alter von fünf Jahren. Doch diese Tat veränderte alles für mich. Und nichts für die Deutschen. Am Montag musste ich wieder in die Schule gehen. Meine Schwester schrieb ein Plakat auf dem stand "30 Jahre Döner und das ist der Dank" oder so etwas Hilfloses in dieser Art. Ich hängte mir diesen Pappprotest um den Hals und nahm die tägliche Hürde auf dem Weg in die Schule: sich unauffällig an den Neonazis, den Glatzen am Bahnhof vorbeimogeln. Mein Schulweg dauerte über eine Stunde. Niemand sprach mich an.

Viele Jahre danach habe ich diese Erlebnisse literarisch verarbeitet. Ich bin immer noch verwundert über die Reaktionen auf diesen Text, wie etwa "Wir waren auf Demos, aber wir sind nie auf die Idee gekommen, mit jemandem zu sprechen, der betroffen war."

LehrerInnen und SchülerInnen trösteten mich, weil ich an diesem Tag nicht aufhören konnte zu weinen. Doch es gab nichts, was trösten konnte. Trauer wandelte sich in Wut, Wut in Verzweiflung. Ich sah im Fernsehen junge Männer, Kinder der GastarbeiterInnen, wie sie in Solingen alles kurz und klein schlugen. Wir alle sahen, dass der Bundeskanzler des Landes sich weigerte, zur Beerdigung der Toten in die Türkei zu fliegen. Unverzeihlich. Wir alle hörten Ministerpräsident Rau. Wenigstens etwas Respekt und Würde. Dann drehten sich alle wieder um, wandten sich ihrem Tagesgeschäft zu und weg vom Geschehenen. Und wir? Wir, die getroffen und verwundet worden waren, für uns war kein Raum, kein Platz, keine Worte für unsere Verletzung. Und unsere Wut darüber, dass es die anderen, die Deutschen nicht traf. Tief, tief vergraben im Innersten, haben wir dieses Trauma. So tief und so weit weg aus dem Bewusstsein dieser Gesellschaft hinausgedrängt, dass ich eines Tages feststellte, dass weder die neue Generation der Nachfahren dieser GastarbeiterInnen noch die der Deutschen mit dem Stichwort "Solingen" etwas anfangen konnten. Vergessen.

Wir blieben die Fremden. Die Ausländer. Dennoch engagierten wir uns im Dialog. Interreligiös. Interkulturell. Integration. Der 11. September 2001 machte uns zu Muslimen und all das zunichte. Führte uns vor, dass es Dialog nur auf Augenhöhe geben kann. Und dass das bis dahin fehlte.

Rassismus ist nicht Geschichte

Integration haben wir begraben, schon lange und für immer an dem Tag, an dem dieses Land kübelweise Dreck über uns alle ergoss, weil Mesut Özil, ein "Türkenjunge" aus der Nationalmannschaft, nicht das tat, was von ihm erwartet wurde. Integration, dieses Wort, diese Idee, war schon lange tot. Begraben mit unseren Toten, mit den NSU-Akten, mit dem Versagen von Polizei und Staat. Währenddessen standen die Deutschen auf den Zuschauerrängen, manchmal klatschten sie und im schlimmsten Fall zogen sie es vor zu schweigen.

Am Abend des 19. Februar 2020 ermordete ein Rassist neun Menschen. An diesem Mittwochabend ging ich ganz gewöhnlich zu Bett. Am nächsten Morgen las ich die Nachricht, weinend. Das, was dort geschehen war, war unbegreiflich. Zwischen diesen zwei Taten liegen fast dreißig Jahre. Nichts hat sich verändert. Und doch hat sich alles verändert. Immer noch weigert sich dieses Land, diese Taten als die eigenen anzunehmen. Einzeltaten. Einzelfälle. Zwischen diesen zwei Taten war kein Frieden, starben Hunderte durch die Hände von Rassisten. Wählten über zwölf Prozent eine Rassisten-Partei in den Bundestag. Etwas, das ich diesem Land niemals verzeihen werde. Das ist unverhandelbar.

Ich habe viel darüber nachgedacht, warum es die Mitte der Gesellschaft nicht berührt hat, dass in Hanau neun Menschen ermordet wurden. Und dass diese Opfer noch im Tod mit dem Rassismus überzogen wurden, der Institutionen inhärent ist. Wie sonst soll man erklären, dass ein blonder, blauäugiger Junge mit "südländisch-orientalisches Aussehen" im Obduktionsprotokoll beschrieben wird, wie es der Vater von Hamza Kurtovic in Interviews berichtet. Wieso erreicht es das Gefühl der meisten Deutschen nicht, dass das auch ihre Söhne, Töchter, Mütter, Väter, Freunde sind, die dort ermordet wurden. Getötet wurden, weil in unseren Parlamenten Abgeordnete sitzen, die gegen Nicht-Deutsche, gegen den Islam hetzen. Weil Journalisten die Stimmung mitvorbereiten, wenn sie von "Döner-Morden" sprechen, wenn sie stigmatisieren und stereotypisieren.

Was ist geschehen, dass jeder Rassismus in diesem Land sofort und unmittelbar mit einem Automatismus verleugnet wird? Rassismus ist nicht Geschichte.

Trauer, Wut und Trauma

Was hat sich also verändert zwischen Solingen und Hanau? Wir, wir die "Betroffenen", wir haben uns verändert. Jeder ist betroffen von Rassismus, und wer das nicht begreift ist Teil des Problems.

Während ich noch mit Plakaten auf Demonstrationen ging, einsam durch eine Bahnhofshalle huschte, in Todesangst mich vor Pegida-Anhängern in einem ICE versteckte, während unsere Eltern sich immer mehr zurückzogen aus dieser Gesellschaft, in Ohnmacht, haben wir heute andere Wege gefunden zu kämpfen, anzuklagen, zu fordern, zu handeln.

In diesem Land durften zehntausende Egoisten und Corona-Leugner, die eine Gefahr für die Gesellschaft darstellen, mehrfach Gebrauch von ihrem verfassungsmäßigen Recht auf Demonstrationen machen, während eine Gedenkveranstaltung für die Opfer von Hanau, mit wenigen Hundert TeilnehmerInnen, abgesagt wurde. Das macht wütend.

Nein, führende identitätsstiftende Institutionen dieses Landes wie etwa die Universität, das Bildungswesen, die Literatur und Kultur sowie die Medien sind noch lange nicht repräsentativ für die Vielfalt in dieser Gesellschaft. Doch dank der digitalen Medien und weil Wut, unbändige Wut, eine Klarheit verschafft, die dazu führt, dass sich zahlreiche junge Menschen organisieren, sich dafür einsetzen, dass es kein Vergessen mehr gibt, dass den Worten politische Konsequenzen folgen müssen, wird eine Handlungsmacht sichtbar, die ihnen weder durch diese Institutionen gewährt noch zugesprochen wird.

Von Podcasts, die aufwendige Recherchen zu der Tat betreiben, bis hin zu Protestorganisation und Aktivismus, der zur Bewusstseinsbildung und zur Bildung eines politischen Bewusstseins dient, sowie Publikationen, die der Trauer, Wut und dem Trauma, den Rassismus Individuen zufügt, eine Ausdrucksform bieten, findet sich, zum Beispiel unter dem Hashtag #Hanau, eine reiche, lebendige Protestkultur in der digitalen Kultur, insbesondere Instagram. Unter dem Hashtag #saytheirnames setzen sich viele Accounts dafür ein, dass die Namen der Toten nicht vergessen werden. Da gibt es Vorschläge, Straßen nach ihnen zu benennen, und KünstlerInnen, die die Gesichter dieser Menschen zeichnen, malen, sprayen und sichtbar machen. Aufkleber, Graffiti, Poster finden so ihren Weg aus dem Digitalen in die "reale" Welt.

Wir hören die Geschichten der Menschen, die ermordet wurden. Wir hören, wie es war, den Körper des toten Bruders in der Totenwaschung vor sich liegen zu haben. Wir erfahren, wie die Welt für die Familien unterging, als sie den Anruf erhielten, dass ihre Liebsten, ihre Kinder tot waren. Dass sie nie wieder mit ihnen reden, sie niemals wieder in den Armen halten, niemals mehr mit ihnen ein Leben leben würden. Was da von uns verlangt wird. Was dort von den Angehörigen verlangt wird, ist ungeheuerlich. Lebt weiter hier, seid weiter hier. Macht weiter. Wie? Und was tut ihr, damit wir das können?

Die Morde manifestieren ein "Wir" und ein "Ihr"

Das Weitermachen kann nicht so eines sein, wie es in den vergangenen dreißig Jahren war. Wenn ein Sender wie der WDR, finanziert von uns Bürgern, mit "Die Letzte Instanz" einen Rassismustalk gleich mehrfach ausstrahlt und sich bis heute nicht dafür entschuldigt hat, dann ist nun eine Generation da, dann sind wir nun jene, die eine eigene Sendung als Gegenentwurf machen und sie auf Social Media senden. Wenn, bis auf sehr wenige Ausnahmen wie etwa dem Literaturhaus Frankfurt mit seinem Wir sind Hier-Festival, es sehr still in Kultureinrichtungen ist rund um dieses Datum, dann machen wir das selbst.

Wer aufmerksam ist, sieht, dass "Betroffene" diesen neuen öffentlichen Raum beherrschen und diese neue Medienöffentlichkeit nutzen. Deshalb wird es kein Vergessen geben. Nie wieder.

Foto: privat

Fatma Sagir, Jahrgang 1974, arbeitet am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie in Freiburg. Sie forscht zum Thema "Junge Muslime in der digitalen Kultur" und ist Stellvertreterin der Gleichstellungsbeauftragten für die Uni Freiburg. Hier veröffentlicht sie eine Auswahl ihrer Texte. (red)

Diese Gesellschaft muss sich ihrer Verantwortung stellen. Muss sich zu diesen Taten bekennen, zu diesem Rassismus und damit auch zu den Opfern. Solange "wir" die "Betroffenen" sind und "ihr" die "Deutschen" seid, solange wird es Wut geben, solange wird es keine gemeinsame Gesellschaft geben, werden Wunden nicht heilen, Traumata nicht aufgelöst werden. Und was würdet ihr, ihr Deutschen tun? Ja. Diese Taten und die Gesinnung und Stimmung, die sie ermöglichen, schaffen und manifestieren ein Wir und Ihr. Die Frage ist, wer auf welcher Seite steht. Wir, das sind jene, die sich gegen Rassismus einsetzen und einstehen, und Ihr, das sind alle anderen.

Der Diskurs um Rassismus, die Arbeit und der Aktivismus um Erinnerung und Vergessen kann nicht den Opfern, ihren Angehörigen und "Betroffenen" überlassen werden. Auch das ist die Botschaft der vielen Social-Media Akteure. Und diese quälende Frage: Wie kann es sein, dass ihr nicht betroffen seid?


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1 Kommentar verfügbar

  • Christine Köhler
    am 11.08.2021
    Antworten
    Sie sprechen mir sehr aus dem Herzen.

    Ich war schon auf dem Weg zur Gedenkveranstaltung/ Demo, ein Jahr nach Hanau, als ich in den Medien erfuhr, dass sie ausfiel.
    Dass ein Jahr danach die Aufarbeitung noch nicht so weit war, dass das in ARD und ZDF in den Nachrichten als Skandal dargestellt…
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