KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

"Querdenken"-Demos

Ganz normale Leute

"Querdenken"-Demos: Ganz normale Leute
|

Datum:

Vom Friedensbewegten bis zum Neonazi: Bei den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen verblüfft auf den ersten Blick die Vielfalt der gemeinsam demonstrierenden Gruppierungen. Was hat es mit dieser Mischung auf sich?

Krisen wie die gegenwärtige sind Situationen, in denen etwas Altes, Bekanntes in die Brüche geht und das Neue, das darauf folgt, noch nicht gefunden ist. Für diejenigen, über die die Krise "hereingebrochen" ist, bedeutet ein solcher Zustand eine massive, oft existentielle Verunsicherung. Nicht nur, dass seit März die Alltagsroutine gestört ist, die aktuelle Lage geht vielen auch ökonomisch an die Substanz. Die Frage, wie sicher der eigene Job ist, dürfte zurzeit fast jeden beschäftigen. Auch die ausgefallene Schulausbildung der Kinder erzeugt Angst davor, dass diese Kinder ökonomisch abgehängt werden.

In einer Krisensituation ist ein gesunder sozialer Reflex, die Nähe und Gesellschaft von anderen zu suchen, sich mitzuteilen, Erfahrungen auszutauschen, um die eigene Situation und die der anderen zu verstehen und bestenfalls nach Lösungen zu suchen. Solche Orte des Zusammentreffens sind etwa der Arbeitsplatz, die Kneipe, die Schule, öffentliche Kulturveranstaltungen, in Stuttgart die Montagsdemos, der Sport- oder ein sonstiger Verein. Wegen der staatlich verordneten Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus waren diese Orte zu Beginn der Corona-Krise geschlossen, das spontane Treffen und der Austausch mit anderen fast unmöglich. Eine wirkliche Öffentlichkeit, in der auch Meinungs- oder Urteilsbildung hätte stattfinden können, gab es zunächst nicht.

Stattdessen fand plötzlich eine doppelte soziale Isolierung statt, die immer noch nachwirkt: Während man sich außerhalb der eigenen Wohnung nicht zu nahe kommen durfte, wurde es zuhause, innerhalb der Familie oft zu eng. Wer als Single wohnt, war mit sich selbst allein. Von einem Tag auf den anderen war die gesamte Gesellschaft zu einem anderen sozialen Verhalten gezwungen. Da brechen vertraute Gewohnheiten weg, Rituale sind gestört und Gruppenzugehörigkeiten stehen in Frage. Die verordnete soziale Distanz ist folglich weit mehr als ein physischer Abstand. Sie befördert eine soziale Atomisierung der Individuen und geht einher mit einer Furcht vor dem Anderen. Denn wer einem zunahe kommt, könnte infiziert sein und wird als potentielle Bedrohung des eigenen Lebens wahrgenommen. Dies geht nicht selten einher mit einer Furcht um die wirtschaftliche Existenz. Das ist zutiefst verstörend.

Demos mit Happening-Charakter

Da bieten die Demonstrationen von "Querdenken" scheinbar eine Möglichkeit, endlich herauszukommen aus der Situation des mentalen sowie physischen Eingesperrt-Seins und Andere zu treffen, denen es ähnlich geht. Für viele der normalen Leute waren diese Zusammenkünfte ein Ausbruch aus der sozialen Isolierung und eine Möglichkeit, ihre Furcht öffentlich zu machen. Die Sozialpsychologie kennt dieses Phänomen: Etwa vier Monate lang lassen sich Menschen durch Angst zu einem bestimmten Verhalten veranlassen. Dann kehrt allmählich ein Selbstinteresse zurück.

Diese Versammlungen, die hin und wieder Happening-Charakter hatten, könnte man fast pluralistisch nennen. Jeder scheint willkommen: Impfgegner, katholische Christen, Stuttgart 21-Gegner, verunsicherte Eltern, meditierende Junghippies, Mitglieder des Naturschutzbundes, Leute aus der Friedensbewegung, viele, die einfach mal sehen wollten, was da so los ist und wer da so hingeht – kurz: Da waren vor allem sehr viele "ganz normale Leute". Aber da waren und da sind eben auch die Rechtsextremen, die Reichsbürger und die QAnon-Anhänger, die Trump für einen Erlöser halten. Angeführt werden die "Querdenken"-Demonstrationen, auf denen Freiheit versprochen wird, auch von Marketing-Profis. Man könnte sie auch Propaganda-Spezialisten nennen. Die wiederum sind entweder politisch völlig naiv oder ausgesprochen hintertrieben.

Da werden Teilnehmerzahlen gefälscht und die Existenz der Pandemie geleugnet. Wie üblich bei solchen Versammlungen stellte sich für die Masse der Leute ein Erlebnis ein, das der Soziologe Emil Durkheim "kollektive Efferveszenz" nennt, eine euphorisch erlebte Interaktionssituation. Und tatsächlich hat es ja etwas befreiendes, wenn man nach Wochen und Monaten der plötzlichen Reglementierung des Alltags wieder in einer Menge, in der Öffentlichkeit ist, sich zeigen kann und endlich wieder gesehen wird. Was diese Masse vereint, ist, dass sie sich nicht bevormunden und reglementieren lassen will. Das scheint ein emanzipatorischer Anspruch. Klopft man die Redebeiträge vom Podium oder aus dem Publikum allerdings auf die Frage ab, wofür sie auf die Straße gehen, welche zukunftsorientierten Forderungen sie haben, dann findet man so gut wie nichts. Gefordert wird, dass alle möglichen Personen "weg müssen", etwa Merkel, Spahn oder Bill Gates. Aber was dann?

Feindbilder als verbindendes Element

Selbstverständlich werden auch keinerlei Vorschläge unterbreitet, wie die Seuche sinnvoll bekämpft werden könnte. Was die "Querdenken"-Proteste auszeichnet, ist, dass sie sich hinter Feindbildern versammeln. In der Verschiedenheit ihrer Zusammensetzung zeigt sich keineswegs ein Pluralismus, sondern eine Masse vereinzelter Einzelner, die durch Gegnerschaft zusammengehalten werden, während ihre Anführer Lügen verbreiten, um Fiktionen zu erzeugen. Auch Hanna Arendt hat hingewiesen auf "die außerordentlich zentrale Rolle, welche die Fiktion von Weltverschwörungen für totalitäre Bewegungen spielt".

Dabei greifen die Anführer gesellschaftliche Stimmungen auf, die sich zurzeit auch in Symbolen äußern. Sie verschaffen die Vergewisserung der Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Zu einem Identität stiftenden Symbol ist etwa die Maske geworden. Wer sich eine Weile im "Mittelwesten" Baden-Württembergs herumtreibt – sagen wir im Dreieck von Ravensburg, Sigmaringen und Überlingen – dem dämmert bald, dass hier am Tragen der Maske die Frage "Freund oder Feind" geklärt wird. Die mit der Maske gelten als die angepassten Angsthasen, die sich "denen da oben" unterwerfen. Die ohne Maske, das sind die coolen Furchtlosen. Die Maske zu tragen oder nicht stiftet Zugehörigkeitsgefühle und Identität. Denn bereits die Zugehörigkeit zu einer Gruppe – zu der mit oder der ohne Maske – verspricht Sicherheit, nämlich einen vermeintlichen Standpunkt in der unübersichtlich gewordenen Gesellschaft. Der Einsatz für diese Querulanz ist natürlich nicht besonders hoch, aber wer keine Maske trägt, fühlt sich wenigstens so, als zeige er es "denen da oben" mal so richtig.

Derlei kümmerliche Rebellion findet in Deutschland ihre parteipolitische Anerkennung nur von der AfD. Nicht nur bezweifeln zahlreiche Vertreter dieser Partei den Nutzen der Masken, verschiedene Abgeordnete rufen zur Teilnahme an den "Querdenken"-Demonstrationen auf. Damit sind die AfD und ihre Anhänger auf einer Linie mit dem weltweit bekanntesten Corona-Verharmloser, dem US-amerikanischen Präsidenten Trump. Der wiederum führt eine, wie der Philosophieprofessor Jason Stanley von der Universität Yale meint, "faschistische soziale und politische Bewegung" an. Die Vertreter der fundamentalistischen und rassistischen QAnon-Gruppe, die in Berlin mitdemonstrierten und US-amerikanische Flaggen herumschleppten, halten ihn für "einen Engel". Diejenigen, die Trumps Rat befolgten und Putzmittel tranken, um sich vor Corona zu schützen, können sich freilich nicht mehr äußern. Wie der einflussreiche und reaktionäre Experte der Massenpsychologie, Gustav LeBon, verrät, waren "die großen Führer aller Zeiten (…) sehr beschränkt und haben deshalb den größten Einfluss ausgeübt".

Solche Bewegungen, in denen sich ganz normale Leute aus verschiedensten Protestgruppen versammeln, sind in Deutschland nicht neu. Naturschützer – etwa der Bund für Umwelt und Naturschutz – Denkmalschützer, Tierschützer, Reklame-Gegner, Reformpädagogen, Anhänger der Jugendreformbewegung, evangelikale Jugendliche, Sozialisten und Nationalisten – sie alle, ganz normale Leute, versammelten sich, damit ihre partikularen Interessen endlich wahrgenommen werden, in einer wirkmächtigen totalitären Bewegung: in der faschistischen Bewegung der Nationalsozialisten. Ein wesentliches Kennzeichen der faschistischen Ideologien ist, dass sie sich allen Unzufriedenen anbiedert und Versprechungen macht. "So ist der Faschismus in der Praxis immer vorgegangen: Wenn er etwas war, dann opportunistisch", schreibt die Literaturwissenschaftlerin Sarah Churchwell.

Rebellische Gefühle, reaktionäre Ziele

Die Masse derer, die dem Nationalsozialismus hinterherliefen und ihn stark machten, waren keineswegs von Anfang an überzeugte Faschisten, sondern "ganz normale Leute", antisemitisch und vor allem aus der Mittelschicht. Die Sozialpsychologie erklärt derlei Verhalten mit der Evidenz eines inneren Konflikts. Sie befinden sich in einem Widerspruch und sind weder eindeutig progressiv, noch eindeutig konservativ. Der Mittelständler rebelliert in der Krise zwar gegen "das System", wird aber trotzdem reaktionär. Er befindet sich im Widerspruch zwischen rebellierendem Fühlen und reaktionären Zielen. Hannah Arendt meint zu dieser Widersprüchlichkeit Folgendes: Menschen schließen sich einer totalitären Bewegung an, "nicht weil sie dumm sind oder schlecht, sondern weil im allgemeinen Zusammenbruch des Chaos diese Flucht in die Fiktion ihnen immerhin noch ein Minimum von Selbstachtung und Menschenwürde zu garantieren scheint."

Wie sich die meisten Anführer von "Querdenken" systemsprengend geben, tat dies auch der Nationalsozialismus. Vor der Machtübergabe wetterte Hitler gegen die Banken und die großen Warenhäuser. Die nationalsozialistische Bewegung war erfolgreich, weil sie sich auf den Mittelstand, also auf Millionen Beamte, mittlere Kaufleute sowie mittlere und kleinere Bauern stützen konnte. Egal in welchem Land er auftrat, der Faschismus war ursprünglich eine kleinbürgerliche Bewegung ganz normaler Leute. Ohne Hitlers Versprechen, gegen das Großkapital zu kämpfen, wären diese Mittelstandsschichten nie zu den Nationalsozialisten gegangen. Erst später wurde der Nationalsozialismus eindeutig zum imperialistischen Vertreter der großkapitalistischen Wirtschaftsordnung. Die ganz normalen Leute aus dem Mittelstand waren in Bewegung geraten und traten in Gestalt des Faschismus als gesellschaftliche Kraft auf. All diese einander widersprechenden Erscheinungen charakterisieren die Widersprüchlichkeit totalitärer Bewegungen.

Bei den Demonstrationen "Querdenken", die von einer Masse ganz normaler Leute getragen werden, handelt es sich um ein dumpfes autoritäres Aufbegehren. Sie verweisen auf berechtigte, aber verdrängte Ängste – etwa die vor dem Verlust des Jobs oder um die Zukunft der Kinder – und sie artikulieren eine Verärgerung darüber, in die Entscheidungen zur Eindämmung der Pandemie nicht einbezogen worden zu sein. Nur eins sind sie bestimmt nicht: emanzipatorisch. Wer hier mitläuft, lässt sich um das betrügen, was die Organisatoren der Demonstrationen versprechen: die Verwirklichung von Freiheit.

Der politisch-ökonomische Zweck, den ein Verzicht auf die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie – vor allem Shut-Downs oder Abstandsregeln – erfüllen soll, offenbart sich in einer Aussage des texanischen Gouverneurs und Leutnant Dan Patrick. Er verlangte bereits im März dieses Jahres, dass Alle ganz schnell wieder zur Arbeit gehen sollten. Auf die Gefährdetsten, die älteren Menschen, solle man keine Rücksicht nehmen. Sie sollten sich für die Ökonomie des Landes opfern. Diesem Zweck, die Unterordnung des Einzelnen unter das Primat der kapitalistischen Ökonomie und sei es bis zur Selbstaufgabe, dem die Zwänge einer angeblichen "Corona-Diktatur" gegenübergestellt werden, dienen letztlich auch die Demonstrationen von "Querdenken". Obgleich sie das Gegenteil behaupten.


Annette Ohme-Reinicke, Jahrgang 1961, ist Soziologin, Lehrbeauftragte an der Uni Stuttgart, Mitbegründerin des Hannah-Arendt-Instituts für politische Gegenwartsfragen und Vorsitzende der Anstifter.  


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


21 Kommentare verfügbar

  • Steiner
    am 21.09.2020
    Antworten
    Wer bei Nazis mitläuft, outet sich selbst als Nazi! Auch wenn notorisch behauptet wird, dies würde absolut nicht stimmen. 1945 hat man versäumt, die Millionen von "Mitläufer" als belastet einzustufen, damals ein Großteil des deutschen "Volkes". Und als sich selbst verharmlosende Mitwisser und…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!