Zum anderen – und das fällt für mich noch mehr ins Gewicht – sind Lebensmittel nicht vergleichbar mit ausrangierten Stühlen oder alten Fernsehern. Generationen sind mit der Maxime erzogen worden, dass das Wegwerfen von Brot und Lebensmittel ein Frevel ist. Da in unserer Überflussgesellschaft Nahrungsmittel und Fertigessen an jeder Straßenecke verfügbar sind, ist diese moralisch-soziale Maxime löchrig geworden. Dennoch ist davon auszugehen, dass immer noch eine Mehrheit der Bevölkerung der Meinung ist, dass die Vernichtung von Lebensmitteln sich schlicht nicht gehört und sozial nicht akzeptabel ist.
Juristisch könnte man das Vernichten von Lebensmitteln auch als ein deviantes Verhalten bezeichnen, das bedeutet, ein von der gesellschaftlichen Norm (Lebensmittel darf man nicht vernichten) abweichendes Verhalten, das gesellschaftlichen Regeln und Erwartungen nicht entspricht.
Und diese Devianz, die sozialwidrig von der Norm abweicht, aber noch nicht strafrechtlich verfolgt wird, wird durch den Beschluss des Verfassungsgerichts geadelt, indem sie mit dem Schutz des Strafrechts versehen wird. Das missachtet die Sozialpflichtigkeit des Eigentums. Das verabsolutiert den Schutz des Eigentums bis zur Perversion. Das kann nicht sein, das darf keinen Bestand haben.
Ermutigendes Beispiel aus Tübingen
Deshalb müssen die Container-AktivistInnen medial, politisch und gesellschaftlich solange mit Verve und Nachdruck unterstützt werden, bis die Justiz oder die Politik endlich einsichtig wird. Solange wir aber eine Landwirtschaftsministerin haben, deren politischer Schwerpunkt zur Zeit darin liegt, eine täglich zweimalige Pflicht zum Gassi-Gehen mit dem Hund gesetzlich zu verankern, ist Hopfen und Malz verloren.
Ermutigend ist das jüngste Beispiel aus Tübingen. Dort hat ein übermotivierter Rewe-Geschäftsführer den ContaineraktivistInnen nachts um 22.30 Uhr aufgelauert, um sie zu überführen. Was dann auch mit mehreren Einsatzfahrzeugen der Polizei gelang, mit Blaulicht, Handschellen und dem ganzen Programm für die Festnahme von Verbrechern. Die Tübinger Staatsanwaltschaft ließ sich davon wenig beeindrucken und stellte das Verfahren sang und klanglos ein, womöglich auch wegen der Welle medialer Aufmerksamkeit und der Solidarität der Stadtgesellschaft. Der Geschäftsführer wurde ausgewechselt, der neu bestellte Geschäftsführer nahm als erste Amtshandlung die Strafanzeige zurück, was allerdings keine Relevanz mehr hatte, da die Einstellung schon verfügt war.
So wie in Tübingen kann und sollte es weiter gehen: Sowohl was die Justiz als auch die Aktionen der ContaineraktivistInnen angeht. Dann bin ich guter Hoffnung, dass die Politik endlich aufwacht, und dass das Bundesverfassungsgericht über kurz oder lang doch noch die soziale Wirklichkeit zur Kenntnis nimmt. Damit das Strafrecht zur Sanktion derjenigen eingesetzt wird, die Lebensmittel verschwenden und vernichten. Und nicht die verfolgt werden, welche überschüssige Lebensmittel vor der Vernichtung bewahren und einer sozial sinnvollen Verwendung zuführen.
18 Kommentare verfügbar
Karl P. Schlor
am 28.08.2020"straflosen Mundraub" solcher weggeworfener, noch eßbarer Lebensmittel!
Ähnlich verhält es sich bei der "Müllentnahme", und es gibt hier bei weitem, wie eine Zuschrift äußert, keine einheitliche Regelungen…