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Black Lives Matter

Zeit, Rassismus zu verlernen

Black Lives Matter: Zeit, Rassismus zu verlernen
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Was darf man sagen, was nicht? Wird Rassismus in Deutschland endlich wahrgenommen? Unsere Gastautorin, Kulturanthropologin an der Freiburger Uni, bleibt skeptisch. Über BLM, Stammbaumrecherche und Deutschland.

Wenn man in meiner Jugend sagte, etwas sei "aus Amerika", dann war das cool. Amerika, das war das Land der Verheißung, aus dem Popkultur, Lifestyle, Mode und der neue heiße Scheiß aus der Technologie kam. Vietnam und Segregation kannten wir Teenager zwar aus Filmen, doch das beschädigte unser Bild von Amerika kaum. Die präzisen, technologisch kalten Videoaufnahmen der Bombardements aus dem Golf-Krieg erschütterten diese Verklärung und brachten meine Generation dazu, die Schule zu schwänzen und auf Friedensdemos zu protestieren. Spätestens seit der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA werden wir erneut Zeugen einer Demontage. Fassungslos sehen wir zu, wie demokratische Institutionen ausgehöhlt und verhöhnt werden, Rassismus und Polizeigewalt aufflammen.

Die Black Lives Matter Bewegung erreichte ihren traurigen Höhepunkt durch den Mord an dem schwarzen Amerikaner George Floyd während seiner Verhaftung durch einen weißen Polizisten. Dieser rassistische Angriff jagte Schockwellen durch die Welt, die auch nach Deutschland gelangten. Tausende gingen auf die Straße. Allein in Freiburg kamen Anfang Juni zu einer Mahnwache zehntausend Menschen.

Black Lives Matter, verkürzt auf den Hashtag #blm, dominierte für viele Tage Social Media. Der Hashtag und die Bewegung waren Inspiration und Anstoß auch für andere Menschen, um auf den Rassismus gegen ihre eigene Gruppe hinzuweisen.

Zum Tod Georg Floyds folgte kein ARD Brennpunkt. Dafür lieferte ihn die Comedian Carolin Kebekus in ihrer Sendung. Acht Minuten und sechsundvierzig Sekunden, so lange hatte Georg Floyd um sein Leben gekämpft, dauerte der Clip, in dem schwarze Deutsche von ihren Erfahrungen berichteten und an dessen Ende mein Mann und ich mit den Tränen kämpfen mussten. Beide aus unterschiedlichen Erfahrungen heraus. Mein Mann ist Deutscher. Für mich aber gehört Rassismus, Ausgrenzung, Benachteiligung zum Alltag. Das Bewusstsein des Andersseins ist mein ständiger Begleiter. Fragen wie Woher kommst du? sind stete Erinnerungshilfen dafür, dass ich für manche nicht ganz hierher gehöre.

Kanaken ist doch kein Schimpfwort – ach wirklich?

BLM hat viele mitgerissen. Menschen haben sich solidarisch gezeigt und organisiert. Denke ich, dass sich nun viel ändern wird? Dass Rassismus endlich in Deutschland anders wahrgenommen, von der Bevölkerung überhaupt in seiner Existenz akzeptiert wird?

Schwierig. Dazu eine Anekdote: Frau A geht jeden Morgen im Park joggen. Meist ruht sie sich anschließend auf einer Parkbank aus. Einmal spricht sie ein älterer Herr von der Nachbarbank an. Man kommt ins Gespräch und der Herr sagt, er habe Kummer. Seine türkischen Nachbarn hätten ihn Nazi genannt. "Wissen Sie, wer die Nazis waren? Das waren ganz schlimme Leute. Das bin ich doch nicht. Das hat mich sehr verletzt." Frau A rückt etwas näher. Sie schluckt. Hier sitzt ihr Nachbar Herr D und die "türkischen Nachbarn", von denen er spricht, das sind sie und ihre Familie. Herr D hatte ihren kleinen Sohn einen Kanaken genannt und die schwarzen Nachbarskinder N***r gerufen. Frau A überlegt, sollte sie sich zu erkennen geben? Sie sagt: "Sehen Sie Herr D, ich bin's, die Frau A, und so wie es Sie verletzt hat, dass Sie Nazi genannt wurden, so hat es uns verletzt, wie sie unseren Sohn und die Nachbarskinder beschimpft haben." Herr D reibt sich die Augen und sagt: "Aber die Nazis, die haben Schreckliches angerichtet. N***r ist doch kein Schimpfwort." Frau A dachte, dieser Mann ist wirklich verletzt, und er muss doch jetzt sehen, dass wir es auch sind.

Frau A ist meine Schwester, die mir diese unglaubliche Geschichte erzählt hat. Mein kleiner Neffe sollte nicht Kanake genannt werden. Er sollte diesen Schmerz nicht weitertragen, dieses Trauma, dass schon sein Großvater so gerufen wurde, nicht weiter erleben müssen. Übrigens hatten wir unserem Neffen zwar beigebracht, wer und was die Nazis waren, aber nicht, was ein Kanake ist. Das haben dann andere erledigt. Leider.

Alle Debatten um Rassismus sind schwierig und kompliziert, weil Geschichte widersprüchlich und kompliziert ist. Die Kontroversen, wie etwa in Ulm um den Begriff Mohr oder um die stereotype Darstellung eines schwarzen Heiligen, werden sehr emotional geführt. Menschen, die sich etwa gegen eine Streichung des Begriffs "Mohr" wehren, sagen, "das gehört zu uns." Warum fällt es vielen Menschen schwer zu akzeptieren, was sich betroffene Menschen wünschen? Überhaupt, warum fällt es in Deutschland so schwer, sich mit dem Rassismus vor der eigenen Haustür zu befassen?

BLM hat auch in Deutschland Wunden geöffnet

Ist es Scham, die die deutsche Gesellschaft davon abhält, Rassismus zu sehen und sich verantwortlich zu fühlen, gegen ihn anzugehen? Ist es der Gedanke, dass bei uns Rassismus nicht sein kann, weil das doch alles in 70 Jahren Aufarbeitung und 'Nie wieder!' abgefrühstückt sei? Dass nicht sein kann, was nicht sein darf? Seltsam, wie anders doch die Reaktionen auf die Morde von Hanau waren.

Hanau. Die Mutter eines Toten sagte in die Kamera: "Unsere Kinder waren keine Arbeitslosen." Ich wurde nicht damit fertig, dass es die Mutter in der schlimmsten Stunde ihres Lebens für nötig hielt, auf klare Vorurteile zu reagieren und ihren toten Sohn zu verteidigen. Und wenn er der größte Gangster von Hanau gewesen wäre, dachte ich, niemand hat es verdient, so und aus diesen Gründen zu sterben.

BLM hat mir den Schlaf geraubt, hat Wunden geöffnet, an Traumata gerührt. Wird BLM in Deutschland ein Lifestyle-Moment sein, ein viraler Hashtag, oder wird sich etwas verändern? Ja, wir sind nicht die USA, aber wir haben einige der Probleme von "Drüben" auch.

Prompt kam es zu "Krawallnächten" mit "marodierenden Migranten". Das Schlagwort Stammbaumrecherche fiel und mir die Kinnlade runter. Noch ein Stich ins Herz. Noch eine Welle der Traurigkeit, die über unsere Haut kräuselt, ganz dicht unter der Oberfläche noch wummert. So ein kurzer Schockmoment. Ein sehr vertrauter Schmerz. Diese kleinen Schläge, Micro-Aggressionen, so werden sie genannt.

Rasse ist ein soziales Konstrukt. Die Forschung weiß das schon lange, in Politik und Gesellschaft scheint das noch nicht ganz angekommen zu sein. Welchen Sinn hat es für die Polizei herauszufinden, ob junge Männer aus den fraglichen Krawallnächten einen Migrationshintergrund haben? Warum wollen sie wissen, ob der Opa Gastarbeiter war? Das macht mich wütend, aber mehr noch traurig. Seit Jahrzehnten immer dieselben Argumente und Themen.

Rassismus macht krank

Welche Signale sendet die Gesellschaft, sendet Politik an die Nachfahren von Migranten, an nicht-deutsche Bürger dieses Landes? Papiere sind uns egal, nur dein Blut zählt? Dein Stammbaum? Ja seid ihr irre?, möchte ich da rufen.

Wie viel Schmerz kann man ertragen? Was wird da überhaupt verlangt? Wer bestimmt,  wer wann dazu gehört? Und du, kleiner Schwarzkopf, du kommst hier net rein! Und wenn du in der vierten Generation ein Blondie geworden bist, dann ist uns das auch egal, denn dein Opi, das war ein Ali. Einer mit Migrationshintergrund.

Der kommt nicht in die Discos rein, in die Clubs, der wird selbst im Tod für einen Kriminellen gehalten, weil er in einer Shisha-Bar saß, für einen potenziellen Vergewaltiger und Drogendealer, er ist der Krawallmacher. Und selbst wenn er für die Nationalmannschaft spielt, aber Blödsinn anstellt, dann wird ihm die Zugehörigkeit entzogen, seine Loyalität in Frage gestellt, dann fällt die Maske. Niemand hat gefragt, was das für eine Botschaft an junge Menschen gesendet hat. Mein Bruder hat geweint. Einer, der in einem großen deutschen Unternehmen in einer Führungsposition arbeitet, musste sich wochenlang von seinen Kollegen Bildzeitungsschlagzeilen anhören. Ich habe das nicht vergessen. Micro-Aggression. Verletzung. Unsere Wunden müssen wir selber verarzten. Heilen, dazu bleibt keine Zeit. Denn der nächste Schlag kommt.

Einmal saß ich in einem Restaurant. Am Nachbartisch ging es laut zu. Eine gefärbte Blondine führte das Gespräch an. "Ja, bei uns hat ja eine Shisha-Bar eröffnet. Oh, das riecht immer so gut. Ich würde ja so gerne da reingehen. Aber es geht halt nicht. Man weiß ja, was für eine Klientel sich dort aufhält." Also gibt es keine Räume für diese "Klientel", aber ihre eigenen Räume sollen sie eben auch nicht haben. Sechs Monate später dann Hanau.

Und wieder haben wir still geweint. Die Tränen verstohlen getrocknet. Wir sind wieder rausgegangen. Ich habe meinen deutschen Mitbürgern weiterhin guten Tag gesagt, ich bin weiterhin in diesem Land geblieben. Aber diese Micro-Aggressionen sind in unsere Seelen gesickert, haben sich in unsere Textur eingewoben. Rassismus macht krank. Rassismus macht depressiv und Rassismus tötet. Das wissen wir. Das ist für manche eine Absichtsbekundung und für andere bittere Realität.

Und für einige offenbar ein Abstraktum in einer Gleichung, bei der auf sonderbare Weise herauskommt, dass es keine Studie zu Polizei und Gewalt geben muss, weil dort Gewalt (und Rassismus) sowieso verboten sei, also auch gar nicht geben könne. Ja, so wie Drogenkonsum verboten ist und es diese Dezernate bei der Kriminalpolizei nicht gibt, wie ja jeder weiß. Rassismus ist so abstrakt, dass es trotz Drohmails aus der Polizei auch an den Bürgermeister meiner Heimatstadt Hannover und an die Kabarettistin Idil Baydar ("Jilet Ayse") weiterhin keinen Aufschrei und keine Gesten gibt, die uns trösten könnten oder schützen.

Wer ist eigentlich wir?

Wie können der Diskurs und das Gespräch aufrechterhalten werden, darüber, wie wir nicht nur mit unserer Gegenwart, sondern auch mit der (kolonialen) Vergangenheit Deutschlands umgehen? Dazu gehören auch die Sensibilisierung und Empathie für die Bedürfnisse und Geschichten der Betroffenen. Zuhören, wenn ein schwarzer Mensch sagt, nein, du kannst nicht N***r sagen. Zuhören. Nicht sofort in die Verteidigungshaltung gehen. Lernen. Verstehen, dass der "Verlust" von Straßennamen, die Antisemiten und Kolonialisten ehren, kein Verlust sein kann. Fühlen, was der Schmerz des anderen ist. Wissen, dass es wie bisher nicht weitergehen kann.

Sehen, dass alle in der Gesellschaft in allen Bereichen abgebildet und repräsentiert sein möchten. Wer sitzt in den Redaktionen, wer steht auf den Bühnen, hinter Kameras, wer in Rundfunkräten, Kulturgremien, Preisvergabe-Kommissionen, Literaturhäusern? Wer lächelt von Zeitschriftencovers? Wer putzt nachts Krankenhäuser? Wer schlachtet Schweine und Rinder? Wer steht auf Baustellen in brütender Sonne? Wem gehören große deutsche Unternehmen? Wer steht vor deutschen Klassen? Wer spielt in deutschen Kindergärten? Von wem handeln Vorabendserien? Wer läuft über rote Teppiche? Wer schreibt Leitartikel? Kolumnen? Reportagen? Wer ist Wir?

Was vielleicht schwerfällt, hierzulande zu benennen, vielleicht auch aus Scham, das ist möglicherweise "leicht" gefallen, als es um das Ereignis aus der Ferne ging. Um die USA.

Deutlich ist dabei geworden, dass es hier einen klaren Generationenbruch gibt. BLM hat die Frage, was für eine Gesellschaft wir sein wollen, ganz klar in den Focus gerückt. Sexistisch, homophob und rassistisch, rücksichtslos gegen Mensch und Schöpfung, die Güter der Welt ungerecht verteilt, Wohlstand für einen kleinen Teil der Menschheit auf dem Leid der anderen begründet: Das lehnt die junge Generation ab. BLM ist nur eine logische Fortsetzung dieses Strebens nach einer anderen Welt. "Zeit, Rassismus zu verlernen", wie eine Protagonistin in einem Youtube-Video fordert.


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