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Stuttgarter Krawallnacht

Von der Tarantel gestochen

Stuttgarter Krawallnacht: Von der Tarantel gestochen
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Der Württembergische Kunstverein (WKV) wird plötzlich zum Drogenumschlagplatz, wenn es die Staatsgewalt so will. Das erstaunt, geht doch auch die Polizei dort auf die Toilette. Eine zornige Replik.

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Manche Augenblicke ziehen mehr Stechmücken an als andere. Grundsätzlich fühlt man sich aber von einem Mückenstich in der Regel nicht gleich wie von der Tarantel gestochen. Was zurzeit in Stuttgart passiert und vielleicht das Angestochensein des gesamten politischen Systems beschreibt, ist jene Melange aus Krisenszenarien, die maßlos überzeichnet werden, um die Fluchtbewegung des politischen Felds vor den tatsächlich realen Krisen zu kaschieren, und einer Eskalationspolitik, die einen zwingend nervös machen muss.

Beginnen wir weiter vorne. Die Direktion des Württembergischen Kunstvereins (also Iris Dressler und ich) erhält aus einem Landesministerium die folgende E-Mail: "Aufgrund der Ausschreitungen in der Nacht vom 20. auf den 21. Juni 2020 ist eine Arbeitsgruppe zur Sicherheit im Schlossgarten unter Federführung des (...) ministeriums gegründet worden. Das (...) ministerium hat nun mitgeteilt, dass in der ersten Besprechung dieser Arbeitsgruppe die Polizei mitgeteilt hat, dass der Terrassenbereich des Kunstgebäudes (vor dem Glastrakt) und die im Kunstgebäude befindliche Toilettenanlage ein Umschlagplatz für Drogen sei. Es wurde in diesem Zusammenhang die Frage nach den Öffnungszeiten des Glastraktes und der WC-Anlage im Kunstgebäude gestellt. Ich bitte Sie um Mitteilung, ob die Toilettenanlage im Kunstgebäude allgemein zugänglich ist, ob und zu welchen Zeiten die Tür im Glastrakt bzw. der Zugang zur Toilettenanlage geöffnet ist und um Ihre Einschätzung zur Sicherheitslage im Umfeld des Kunstgebäudes und insbesondere im Terrassenbereich."

Krawalle und Fleischskandal

Ein zweiter Text von Hans D. Christ, erschienen im Online-Magazin "Marlowes", trägt die Überschrift "Der Glaube an den Rechtsstaat". In ihm untersucht er den Zusammenhang zwischen den Krawallen in Stuttgart und den skandalösen Vorgängen in den Fleischfabriken von Clemens Tönnies. In beiden Fällen sieht er Menschen, die räumlich wie rechtlich ausgesondert werden.

Kontext hat die Berichterstattung über die Nacht vom 21. auf 22. Juni mit der Botschaft "Stuttgart steht noch" begonnen. In diesem Sinne folgt auch die Aufarbeitung danach. Bisher sind folgende Beiträge erschienen:

–  Der wilde Südwesten
–  Leichen
–  "Rassistisches Gendankengut auch bei der Polizei"
–  Racial Profiling, postmortal
–  Nur Kanaken
–  Stuttgart steht noch

Wir antworten wie folgt: "Die Toilettenanlage des Kunstvereins ist kein Drogenumschlagplatz. Es gab vor ca. drei Jahren erhebliche Probleme, die von uns eigenständig durch direkte Ansprache, entsprechende Verweise und Kontrollmaßnahmen gelöst wurden. In dieser Phase war es in einem Fall notwendig, die Polizei einzuschalten. Der Zugang zum Glastrakt ist auch während der Öffnungszeiten (Di - So 11:00 - 18:00 Uhr, Mi 11:00 - 20:00 Uhr) reguliert und die Nutzung der WC-Anlagen ist nur auf Nachfrage möglich. Die Kolleg*innen von der Polizei müssten dies eigentlich wissen, da sie selber Nutzer*innen unserer WC-Anlagen sind und das Regelwerk kennen. Auf der Plattform machen Leute im Tagesbetrieb Yoga, trainieren mit ihrem BMX-Rad, machen Fashionfotos vor der Stammheim-Skulptur oder Teenager machen Tanzübungen. Wir können selbstverständlich nicht beurteilen, was auf der Plattform zu Nachtzeiten passiert, wenn der Kunstverein geschlossen ist. Grundsätzlich haben wir ein ausgesprochen entspanntes Verhältnis zu den Nutzer*innen des Oberen Schlossgartens und fühlen uns absolut sicher."

Am selben Tag verkündet der SPD-Kandidat für die nächste OB-Wahl in Stuttgart, dass er einen "Wumms" durch die Ökonomie der Stadt schicken will, in dem er Konsumscheine an die Gesamtbevölkerung verschickt. WählerInnen sind, wenn man dieser Logik folgt, korrumpierbare KonsumentInnen, käufliche, a-politische, auf billigste Weise Manipulierbare, die einer zuckersüß-ummantelten Karotte folgen.

Eine "Partyszene" unter Generalverdacht

Draußen vor der Tür des Kunstvereins fährt das Technische Hilfswerk (THW) auf und verteilt um den Eckensee mit einem Aggregat betriebene Großscheinwerfer. Zur Erinnerung, das ist der See, von dem die schwerwiegende, das ganze Land erschütternde, in keiner Form zu duldende, die gesamte Stadtgesellschaft in Frage stellende "Randalenacht" ausgegangen ist. Normalerweise für den Ausnahmezustand nach Erdbeben und Flutwellen gedacht, um Leben zu retten, sollen die Scheinwerfer jetzt die gesamte unter Generalverdacht stehende "Partyszene" im grellen LED-licht zur absoluten Sichtbarkeit zwingen und in ihrer gesamten kriminellen Dimension für die Massenrazzia der Polizei erleuchten. Der Generalverdacht, am falschen Ort zur falschen Zeit zu sein, reicht für Passkontrollen, Leibesvisitationen, Platzverweise. Vorausgesetzt, man passt in das Racial-Profiling-System, von dem die Polizei behauptet, dass dieses Profiling zu keiner rassistisch-bedingten Polizeigewalt führt.

Ich frage mich schon seit längerem, wie es den Vollzugsexperten gelingt, dieses Paradoxon scheinbar mühelos aufzuheben. Das Verhältnis von "Recht-erhaltender und Recht-setzender Gewalt" (Walter Benjamin) kann nicht auf einer rassistischen Verallgemeinerung beruhen, die letztendlich bedeutet, Bevölkerungsgruppen rechtswidrig zu homogenisieren, das heißt, außerhalb des Rechts zu definieren und damit willkürlicher Polizeigewalt auszusetzen. "Im Polizeilichen verrottet das Recht im Inneren des Rechtssystem, in dem die Polizei Recht erfindet." (Walter Benjamin paraphrasierend)

Dass jetzt der politische Handlungshorizont nichts anderes vorweisen kann, als diesem Verfallsprozess des Rechts politische Legitimation zuzuliefern, bedeutet nichts weniger, als die Anerkennung des Rechts vollständig auszuhöhlen. Anstatt sich zum Beispiel endlich mit der Anerkennung von Flüchtlingen als Staatsbürger und damit als vollwertige Rechtssubjekte zu befassen, fixiert man sie im Schattenreich der Halblegalität und im Dauermodus der Abschiebungsgefahr.

Hannah Arendt hat schon 1955 in "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" auf den Zusammenhang zwischen der Entstehung des europäischen Faschismus und den Massen an Flüchtlingen nach dem Ersten Weltkrieg hingewiesen, denen auf Grund der sich neustrukturierenden Nationalstaaten keinerlei Rechtsstatus zugewiesen wurde. Wir sollten nicht erneut in dieselbe Falle tappen, in dem wir den Rechtsstatus zwischen den Anteilslosen und der so genannten Mehrheitsgesellschaft – wen auch immer man ihr zurechnen will – ungleich verteilen.


Hans D. Christ leitet den Württembergischen Kunstverein seit 2005, zusammen mit Iris Dressler. Der WKV grenzt direkt an den Stuttgarter Schlossgarten, was dem Hausherrn genaue Blicke auf das Geschehen erlaubt. Die Fotos oben hat er in der Freitagnacht vom 3. Juli 2020 gemacht.


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