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Die Zementierung des Schandflecks

Die Zementierung des Schandflecks
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Fast 50 Millionen Euro möchte die Stuttgarter Stadtverwaltung investieren, um eine Unterfahrung auf der B14 um 100 Meter zu verlängern. Dabei läuft parallel ein städtebaulicher Wettbewerb, der den Autoverkehr auf der Stadtautobahn halbieren soll.

"Einer von vielen Schandflecken der Stadt" – so bezeichnet eine Bildergalerie der "Stuttgarter Zeitung" über "Stuttgarts hässlichste Orte" den Gebhard-Müller-Platz. Eine weitere Bildunterschrift lautet: "Die Verkehrskreuzung an der Staatsgalerie ist so lebensfeindlich, dass es einen schier schaudert." Eine dritte: "Der Verkehrsknotenpunkt Gebhard-Müller-Platz ist ein Paradebeispiel, wenn es darum geht, Stuttgarts punktuelle Hässlichkeit zu visualisieren." Und in einer vierten, noch immer derselben Straßenkreuzung gewidmet, heißt es: "Blechlawinen so weit das Auge reicht: Der Mensch fühlt sich fremd in solcher Umgebung. Solche Plätze und Gebäude verfinstern das Gemüt."

Das Gemüt von Kommunalpolitiker Hannes Rockenbauch verfinstert sich bis zu einem Punkt, wo es bis zum Gewitterausbruch nicht mehr weit sein kann, wenn er an eine Beschlussvorlage denkt, über die der Gemeinderat am morgigen Donnerstag abstimmen soll. "Stuttgart 21: Verlängerung Unterfahrung Gebhard-Müller-Platz", steht darüber. Grundlage ist der Planfeststellungsbeschluss PFA 1.1 des Projekts Stuttgart 21 aus dem Jahr 2002 und eine fünf Jahre später von Stadt und Bahn ausgehandelte Vereinbarung zur Gestaltung der Kreuzung.

Denn der Gebhard-Müller-Platz ist eigentlich gar kein Platz: nach einer Lexikondefinition eine "freie, unbebaute Fläche in einem bebauten Bereich, z.T. durch Brunnen, Plastiken, Blumen und/oder Grünanlagen architektonisch gegliedert" oder, so Wikipedia, "das zentrale Thema und Raumelement des Städtebaus" – und weiter: "Zentrale Plätze sind die 'gute Stube' vieler Städte und repräsentieren die Stadtherren oder Bürgerschaft."

Die Gebhard-Müller-Kreuzung

Von wegen gute Stube: Der Gebhard-Müller-Platz ist nichts als die große Straßenkreuzung zwischen Staatsgalerie, Opernhaus, Königin-Katharina-Stift und Stuttgart 21-Baustelle. Die vier-, an der Kreuzung siebenspurige Schillerstraße zwischen Wagenburgtunnel und Bahnhofsvorplatz trifft auf die Bundesstraße 14, in der einen Richtung Konrad-Adenauer-Straße, landläufig Kulturmeile genannt, in der anderen Willy-Brandt-Straße. Eine Ödnis. Einer der Gründe – neben den hausgemachten –, warum so wenig Besucher den Weg zum wichtigsten Museum des Landes finden.

Schlusslicht Stuttgart

"Die Zahl der Menschen, die während der Coronavirus-Pandemie auf öffentlichen Plätzen Fahrrad fahren oder zu Fuß gehen, ist in die Höhe geschossen", schreiben die Autoren einer Studie zu den weltweiten Auswirkungen des Corona-Shutdowns auf die CO2-Emissionen im Online-Wirtschaftsmagazin "Makronom". "Städte von Bogota bis Berlin und Vancouver haben Radwege und öffentliche Wege ausgebaut, um dem zusätzlichen Verkehr gerecht zu werden. In Paris werden 650 Kilometer Fahrradwege errichtet, um die Peripherie an die Stadt anzubinden." Sogar Böblingen hat kürzlich von der Calwer Straße – der vierspurigen Hauptverbindung zwischen Stadtzentrum und Industriegebiet – zwei Spuren dauerhaft für den Radverkehr umgewidmet. Und Stuttgart? Die Stadt will nicht einmal temporär weitere Radstreifen einrichten. "Stuttgart verpasst genau jetzt die Mobilitätswende", bemerkt dazu die Grünen-Stadträtin Christine Lehmann in ihrem Fahrrad-Blog "Radfahren in Stuttgart".

Die B14 wiederum besteht jeweils beidseits der Kreuzung aus fünf oberirdischen und vier unterirdischen Fahrspuren, also der bereits erwähnten "Unterfahrung". Diese soll nun um 100 Meter in Richtung Neckartor verlängert werden. So will es die Beschlussvorlage des Technikbürgermeisters Dirk Thürnau (SPD). Das Neckartor ist deutschlandweit bekannt als der Ort mit den höchsten Feinstaub- und Stickoxidwerten. Einer der Gründe, warum der Gemeinderat im vergangenen September beschlossen hat, einen städtebaulichen Wettbewerb auszuschreiben mit dem Ziel, "das heutige Verkehrsaufkommen auf der B14 in der Innenstadt durch eine Halbierung der Verkehrsfläche für den motorisierten Individualverkehr um 50 Prozent zu reduzieren."

Stadt und Land haben eigentlich gar keinen Spielraum. Ein Gerichtsurteil, vom Bundeverwaltungsgerichtshof im Februar 2018 in letzter Instanz bestätigt, läuft darauf hinaus: Um die Stickoxidgrenzwerte einzuhalten, muss der Autoverkehr reduziert werden. Dazu kommt, dass insbesondere die Initiative Aufbruch Stuttgart mit ihren gut besuchten Veranstaltungen deutlich gemacht hat: Sehr viele Stuttgarter wollen eine Abkehr von der "autogerechten Stadt". Das sind Wählerstimmen, welche die in Stadt und Land regierenden Grünen tunlichst nicht ignorieren sollten.

Die Stadtverwaltung sieht keinen Widerspruch

Der städtebauliche Wettbewerb sollte eigentlich am 20. Mai schon entschieden sein. Nun ist die Abgabe wegen Corona auf den 15. Juli und die Sitzung des Preisgerichts auf Mitte September verschoben worden. In die Lücke grätscht Bürgermeister Thürnau mit seiner Vorlage, die den Beschluss von vor sieben Jahren im wahrsten Sinne des Wortes zementieren will. Der ging allerdings noch davon aus, dass auf der B14 auf keinen Fall auch nur ein einziges Fahrzeug weniger verkehren dürfe.

Die Begründung lautet nun: Die Verlängerung der Unterfahrung und des darüber zu legenden Deckels sei bereits beschlossen. Die Planungen wurden seit 2013 weiter konkretisiert und die Mittel für die Baumaßnahme wurden bereits in den Doppelhaushalt 2016/17 eingestellt und erneut, nachdem sich die Fertigstellung der neuen Stadtbahnhaltestelle Staatsgalerie verzögert hatte, in den Doppelhaushalt 2020/21. Mit der Bahn wurde 2013 ausgehandelt, dass sie die Baumaßnahmen durchführt. Aber die Stadt zahlt.

Nun ist die neue Stadtbahnhaltestelle, etwas höher und näher am Park, fast fertig, aber vom angrenzenden Kernerviertel aus nicht mehr direkt erreichbar. Die Bahn hatte dafür einen Fußgängersteg vorgesehen. Die Stadt möchte eine ebenerdige Querung. Deshalb der Deckel über der verlängerten Unterfahrung. Die Bahn soll nun die Arbeiten bereits ausgeschrieben haben. Noch einmal innezuhalten, könne die Stadt 5,4 Millionen kosten, habe Thürnau den Gemeinderäten im Ausschuss für Stadtentwicklung und Technik zugerufen, so Rockenbauch – in der Beschlussvorlage steht es nicht.

"So werden wir als Abgeordnete informiert", schimpft der SÖS-Fraktionsvorsitzende und fragt sich, warum nicht im Herbst mit der Bahn nachverhandelt wurde, nachdem der Beschluss über den städtebaulichen Wettbewerb doch eine neue Grundlage geschaffen habe. In der Gemeinderatsvorlage steht schlicht, die Baumaßnahmen stünden "nicht im Widerspruch zum geplanten Wettbewerbsverfahren 'Neuer Stadtraum B14'." Was man durchaus anders sehen kann.

Zum Ideenwettbewerb herabgestuft

"Als zentrale Bereiche gelten im Wettbewerb die bisher vorgeschlagenen drei Abschnitte Österreichischer Platz–Wilhelmsplatz, Wilhelmsplatz–Charlottenplatz, Charlottenplatz–Gebhard-Müller-Platz", behauptet die Vorlage. Der Gemeinderat hatte aber das Wettbewerbsgebiet ausdrücklich auf den gesamten innerstädtischen Bereich der B14 vom Portal Schwanenplatztunnel bei den Mineralbädern bis zum Portal Heslacher Tunnel am Marienplatz erweitert. Also auch auf die Willy-Brandt-Straße und darüber hinaus.

"Die vorgesehene Gestaltung in der Willy-Brandt-Straße fügt sich mit den angewendeten Planungsgrundsätzen bereits in die Vorgaben des Wettbewerbs für die Gesamtkonzeption ein", steht in Thürnaus Vorlage. Sieht man sich aber die Pläne näher an, so ist da zwar auf der Seite der Ministerien ein 2,50 Meter breiter Radweg eingezeichnet, aber nur dort, auf der anderen Straßenseite nicht. Und die Willy-Brandt-Straße ist wie bisher eine sechsspurige Autostraße. Die Aufgabenbeschreibung des Wettbewerbs fordert aber eindeutig eine "Reduzierung der Verkehrsflächen für den MIV [motorisierter Individualverkehr] zugunsten der Gewinnung von öffentlichem Raum" und "die Reduzierung des motorisierten Individualverkehrs um 50 Prozent", um "die trennende Wirkung der B14 zu beseitigen."

In der Präsentation, die den Gemeinderäten in der Sitzung vom 28. Mai vorgeführt werden soll, wird der städtebauliche Wettbewerb auf einmal zu einem Ideenwettbewerb herabgestuft. Wo man nach dem neuen Tiefbahnhof suchen würde, ist alles grün. Auf den Betondeckeln über Straßen-, Bahn- und Stadtbahntunneln wachsen jede Menge Bäume – die dort freilich nur sehr eingeschränkt wurzeln könnten. Den Teilnehmern sei mitgeteilt worden, heißt es in der Vorlage, "dass im Bereich Gebhard-Müller-Platz die Deckelverlängerung realisiert wird."

Der Mensch ist kein Maulwurf

Das sei eine Unterwanderung des Gemeinderatsbeschlusses vom September, protestiert Rockenbauch. 50 Millionen für die Verlängerung der Unterfahrung auszugeben, würde zudem wohl unweigerlich dazu führen, dass diese Unterfahrung längerfristig bestehen bleibt, und damit auch die trennende Wirkung der B14 zwischen Staatsgalerie und Opernhaus. Auch bei der Opernsanierung bringe sich die Stadt unnötig in eine Zwangslage, moniert Rockenbauch. Denn ohne die Unterfahrung ergäben sich für den Neubau des Kulissengebäudes, aber auch für Fuß- und Radwege ganz andere Gestaltungsspielräume.

In einem "Workshop Verkehrswende" hat die Initiative Aufbruch Stuttgart im November fünf Stadt- und Verkehrsplanungsbüros eingeladen, ihre Ideen zu entwickeln. "Mal schauen, was andere so machen", schlägt beispielsweise das Wiener Büro Komobile vor und zeigt, wie in Utrecht oder Seoul Stadtautobahnen komplett zurückgebaut wurden. "Der Mensch ist kein Maulwurf (und gehört nicht unter die Erde)!", meint Stefan Bendiks vom Büro Artgineering aus Brüssel und schlägt ebenerdige Querungen an jeder Querstraße vor.

"Gesamtanzahl Fahrstreifen kann in Frage gestellt werden!", hält Jochen Richard vom Büro Richter Richard aus Aachen fest. Eine "Verringerung Kfz-Verkehrsaufkommens" hält er für eine "wesentliche Voraussetzung, auf der B14 und damit auch am Neckartor eine nachhaltige Lösung zu finden".  Er betont, eine "Entscheidung über weiteren Umgang mit den Bauwerken", also auch die Unterfahrungen, sei notwendig. Das Büro R+T Verkehrsplanung aus Darmstadt nennt sogar unter seinen Entwurfsgrundsätzen an erster Stelle: "keine Unterführungen, Brücken, Rampen, Umgestaltung aller Knotenpunkte zu plangleichen Knotenpunkten."

In den Plänen der Büros Basler & Hofmann und Van de Wetering bleibt zwar die Unterfahrung am Wilhelmsplatz bestehen. Aber nicht, weil die Schweizer Stadtplaner solche Verkehrsbauten für unverzichtbar hielten. Sondern, wie sie betonen: "Für die Verkehrswende sind schnell sichtbare Maßnahmen nötig." Also nicht erst ein Ideenwettbewerb, dann eine Machbarkeitsstudie und vielleicht in zehn Jahren einmal eine Veränderung. Am Gebhard-Müller-Platz sehen die beiden Büros nurmehr zwei Fahrspuren auf der Schillerstraße und nur noch sechs statt neun auf der B14 vor.


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2 Kommentare verfügbar

  • Peter Kurtenacker
    am 01.06.2020
    Antworten
    Es hat mich jetzt noch einmal selber interessiert und ich habe noch einmal einige offizielle Dokumente überschlägig durchgeschaut. Nach dem Messungen der Bahn ist im gesamten Stadtbereich Stuttgart im Sachen Staub, Schall, usw. oberhalb des erlaubten nie etwas passiert. Es gibt aber interessante…
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