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Die Früchte der neuen Lernkultur

Die Früchte der neuen Lernkultur
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Jetzt ist er also endgültig Geschichte, der Unterricht, wie er einmal war und schon lange nicht mehr sein sollte. Denn im veralteten dreigliedrigen Schulsystem, das CDU und FDP so lange gehätschelt haben, wird der Neustart aus der Corona-Krise nicht gelingen.

So nah waren sich Schulen und Familie noch nie. Und alle lernen sich neu kennen: Kollegien und RektorInnen, Verantwortliche vor Ort und in der Verwaltung, Eltern und ihre Kinder. "Die einen stellen fest, dass die Anforderungen für ihre Sprösslinge viel zu gering sind", schreibt eine Lehrerin in einem der vielen Foren, "andere müssen erkennen, wie wenig ihre Kinder wirklich können, und es gibt Eltern, die ihre Einstellung zu unserer Arbeit gerade ändern, weil sie sich endlich mehr mit dem Schulalltag befassen müssen, oder sogar weil sie erleben, wann und wie ihre Kinder die Mitarbeit konsequent verweigern." Eltern seien die neuen Lernbegleiter.

Schon dieser Begriff bringt konservative und liberale BildungspolitikerInnen oder solche, die es noch werden wollen, auf die Palme. Die grün-rote Vorgängerregierung habe Lehrer zu Lernbegleitern degradiert, fabulierte CDU-Fraktionschef Wolfgang Reinhart während der grün-schwarzen Koalitionsverhandlungen 2016. Der neue Typ PädagogInnen stünde für eine falsche Lernkultur ohne Noten, Leistungserwartung und pädagogische Verbindlichkeit, frei nach dem Motto "Jeder macht, was er will, aber keiner muss mehr können, was er eigentlich können sollte". Georg Wacker (CDU), bis 2011 Staatssekretär im Kultusministerium und inzwischen Toto-Lotto-Chef, machte einen diskriminierenden Unterschied zwischen "Lernbegleiter" und "Orientierung gebender Lehrerpersönlichkeit". Timm Kern (FDP) prognostizierte "Niveauverluste", wenn mit Arbeitspapieren in Lernateliers Aufgaben eigenständig gelöst und "Schüler begleitet statt von Lehrern unterrichtet werden".

Und nun nach vier Wochen Schule at home? Nun ist guter Rat teuer, weil alle jene, die die Sinnhaftigkeit neuer Lern- und Lehrformen so massiv in Abrede stellten, weit über den eigenen Schatten springen müssten, um die richtigen Lehren aus der Krise zu ziehen. Denn Grundlage aller Neuerungen müsste die Analyse von Soll und Haben des Einsatzes digitaler Hilfsmittel sein. Viele Schulen haben Hervorragendes geleistet, nur eine Schulart sticht allerdings als Ganzes hervor: ausgerechnet die bei CDU und FDP so ungeliebte Gemeinschaftsschule. Denn eigenverantwortliches Lernen ist dort eine Selbstverständlichkeit, seit Winfried Kretschmanns grün-rote Landesregierung ihr 2012 zum Neustart verhalf, ebenso der Umgang mit dem Computer, oder dass Kinder und Jugendliche mit der Hilfe von Kompetenzrastern sich selber einschätzen.

Vor allem aber wird der Umgang mit unterschiedlichen Niveaus ein Schlüssel zum Erfolg bei der Rückkehr in den Schulbetrieb sein. Denn die einen werden mehr und die anderen weniger aus den Wochen daheim mitbringen. Gerade ambitionierte Eltern, die ihre Kinder als doch nicht so leistungsstark oder arbeitsam erlebt haben wie erwartet, werden sich nicht damit zufriedengeben, dass der eigenständig und/oder begleitet erarbeitete Stoff in ein, zwei oder drei Stunden wiederholt und womöglich prompt zum Gegenstand der nächsten Klassenarbeit(en) wird. Davon dürfte es in den nächsten Wochen überdurchschnittlich viele geben, weil die Zeit drängt bis zu den Pfingst- und dann zu den Sommerferien. Dass Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) Erwartungen auf eine weniger strenge Benotung weckte, wird da zur Beruhigung allein nicht reichen. Der Landesschülerbeirat hat in einem zu Ostern veröffentlichten Forderungskatalog verlangt, über außerhalb der Schule Erarbeitetes überhaupt keine Klassenarbeiten oder Klausuren stattfinden zu lassen.

Selbstständiges Arbeiten gewohnt

Real wie digital gut vernetzte und im Erfahrungsaustausch längst bewanderte Gemeinschaftsschulkollegien fühlen sich auf der vergleichsweise sicheren Seite. "Die Kinder fehlen mir sehr, weil sie nicht um mich herumwuseln", berichtet Lehrerin Ann-Kathrin Michel von der Gemeinschaftsschule Neuenstein, "aber im Prinzip hat sich an unserem Alltag wenig geändert." Alle wüssten genau, was zu tun ist, "sie haben ihre Lernpläne und sind ohnehin gewohnt selbstständig zu arbeiten". Zudem gelte, was immer gilt: "Es geht um Herzensbildung und darum, dass sich die Kinder so wohl wie möglich fühlen."

Pädagogisch und politisch müsse auch über die Konsequenzen diskutiert werden, verlangt Hannah Beck, Oberstudienrätin aus Tübingen, die an der Oberstufe unterrichtet und sich ausdrücklich selbst als Lernbegleiterin bezeichnet. Seit Herbst 2017 werden die drei Gemeinschaftsschulen in der Universitätsstadt in einer gemeinsamen Oberstufe weitergeführt. Mit dabei ist die Geschwister-Scholl-Schule samt Gymnasium. "Wir lernen unseren Beruf gerade ganz neu", so beschrieb Rektor Joachim Friedrichsdorf schon vor acht Jahren beim Besuch von Bundespräsident Joachim Gauck das neue Konzept. Man könne sich da nicht wie früher vorn hinstellen und allen das Gleiche erzählen: "Wer traditionelle Lehrermethoden anwendet, wird scheitern."

Seither haben sich viele und längst nicht nur Gemeinschaftsschulen weiterentwickelt. "Aber an Gemeinschaftsschulen ist im Bereich flexibler digitaler Lern- und Unterrichtsformate Pionierarbeit geleistet worden", sagt die Grünen-Fraktionsvize im Landtag Sandra Boser. Deshalb müssten nach der Krise gerade diese Erfahrungen gesammelt und gemeinsam ausgewertet werden, damit gewonnene Erkenntnisse nicht verlorengehen. "Jetzt wird vieles, was an Gemeinschaftsschulen selbstverständlich ist, plötzlich zum großen Vorteil", weiß auch die GEW-Landesvorsitzende Doro Moritz. Zum Beispiel das Arbeiten ganz ohne Schulbücher oder mit den von vielen Fans klassischer Methoden in die Nähe von Voodoo gerückten Kompetenzraster, mit denen SchülerInnen nichts anderes tun als ganz selbstverständlich ihre Lernfortschritte einzuordnen.

"Die Technik folgt der Pädagogik"

Eine Plenarrede des FDP-Abgeordneten Timm Kern, der vor seinem Wechsel in den Landtag am Friedrich-List-Gymnasium in Reutlingen unterrichtete, liest sich wie die Beschreibung eines Instrumentenkastens für die Schule at home. Mit dem Schönheitsfehler, dass er all die Errungenschaften der Gemeinschaftsschule anprangert, allen voran die "Pädagogik des selbst gesteuerten Lernens". Für den Liberalen ist sie nichts weiter als ein "grün-roter Fixstern, an dem sich alle anderen Schularten nun zu orientieren haben, ob sie dies wollen oder nicht". Müssen heißt es in Zeiten der Corona-Krise, denn ungezählte Rückmeldungen aus Kollegien aller Schularten zeigen, dass der Weg zum Erfolg am Küchen-, am Wohnzimmer- oder am Schreibtisch zu Hause genau über diese Pädagogik führt – und ganz sicher nicht nur über die Ausstattung mit Tablets, Smartphones oder Laptops.

Im Bildungskapitel der Digitalisierungsstrategie der Landesregierung heißt es programmatisch: "Die Technik folgt der Pädagogik." Ein Satz, über den noch viel gegrübelt, diskutiert und gestritten werden wird, wenn es um die richtigen Schlüsse aus den Erkenntnissen des mehrwöchigen schulischen Ausnahmezustands geht. Genauso wie darüber, dass der vielgerühmte und milliardenschwere "Digital-Pakt" von Bund und Ländern die mit ihm verbundenen Hoffnungen bisher kaum hat erfüllen können, weil nur eine Handvoll Anträge bewilligt werden konnte.

Wie’s nicht geht, ist ohnehin vielfach illustriert. Thomas Strobl (CDU) steht in einer langen Reihe von LandespolitikerInnen, die die "Kreidezeit" beenden wollten. Nicht einmal, sondern immer wieder, griff der Innenminister, der unbedingt für die Digitalisierung zuständig sein wollte, zu diesem Wortspiel. Es sollte die Anstrengungen im Land unterstreichen, das wieder einmal den gefühlten Spitzenstammplatz auf der wettbewerbsföderalistischen Überholspur nicht räumen mochte. Das klägliche Ende kam, als die bundesweit natürlich einmalige Bildungsplattform "ella", die im Schulbetrieb all jene vernetzen sollte, die bis drei nicht auf dem Baum waren, kurz vor dem Start im Probebetrieb floppte.

Jetzt wird herumgedoktert, als sei für die zuständigen PolitikerInnen ein Lernfortschritt durch den Blick zurück Luxus. Schon seit Mitte der Achtziger Jahre mahnen WissenschaftlerInnen zeitgemäße Konzepte zum Umgang mit Computern an. In Landtagsanhörungen oder auf der Bildungsmesse "Didacta" wurde in immer neuen Analysen davor gewarnt, den zweiten Schritt vor dem ersten zu tun. Mehrfach warb Hartmut Binder von der PH Karlsruhe für mediendidaktische Forschungsprojekte, um "pädagogisch zu begründen, inwieweit der Einsatz von Computern im Unterricht gerechtfertigt ist", inklusive der Frage, wo er sich aufdrängt und wo nicht. Auch Beispiele wurden aufgelistet, etwa Simulationen im Physikunterricht.

Niemand braucht einen Hardware-Friedhof

Aufhorchen lässt eine der ersten Stellungnahmen des Landeselternbeirats, die vergleicht zwischen Computereinsatz und jenen Sprachlabors, die in vielen Schulen eingerichtet wurden, um bald nur noch brach zu liegen: "Wir hegen die Befürchtung, daß Computer in der Schule sich als so überflüssig erweisen könnten wie Sprachlabors, weil es nicht gelingt, die Lehrer rechtzeitig fortzubilden." Das Papier stammt aus dem Jahr 1984, die Vorsitzende hieß Marianne Schultz-Hector, die aber später in ihrer Zeit als konservative Kultusministerin keine Mittel und Wege fand, neuen Technologien zum sinnvollen Durchbruch im Unterricht zu verhelfen.

Genauso wenig wie ihre Nachfolgerin Annette Schavan (CDU), die in den 50.000 Rechnern, die sie bei ihrem Amtsantritt 1995 in den Schulen im Land vorfand, eine "gute Ausgangslage für eine Zukunftsoffensive" sah, "um die Arbeit mit dem Computer in allen Bereichen schulischen Lernens zu befördern". In der Folge ging es vor allem um Hardware und weniger um Lern- und Lehrkonzepte. Um die Jahrtausendwende gab es ein neues Programm mit 50 Millionen Euro für die Weiterbildung von Lehrkräften, aber 100 Millionen Euro für den Ankauf von "multimediafähigen Computern" an flächendeckend allen gut 4000 Schulen zwischen Main und Bodensee. Später stellte sich heraus – siehe Sprachlabor –, "dass an mindestens der Hälfte der Standorte Rechner ungenutzt herumstehen".

Volker Arntz, Leiter der Gemeinschaftsschule in Durmersheim, übersetzt solche und andere Erkenntnisse in den einfachen Satz: "Wir brauchen keinen Hardware-Friedhof." An Smartphones und Tablets ist kein Mangel, wie sein Hilferuf zum Start in den Unterricht zeigt. Innerhalb von Stunden wurden die notwendigen Geräte organisiert, um alle Kinder zu versorgen. Neu sei der Lernort, nicht aber die Lernart, "unser Grundverständnis musste nicht verändert werden", berichtet Arntz. Statt tatsächlich zusammenzukommen, findet jeden Morgen eine Videoschalte statt, "und dann wissen sie alles, was sie zu tun haben". Auch der Rektor hat nicht wenige der Kinder und Jugendlichen neu kennengelernt, etwa wenn sie viel strebsamer und interessierter zur Sache gingen als erwartet. Arntz ist optimistisch und meint, dass alle Schulen - unabhängig von der Schulart - , "die schon immer Wert auf gutes Lernen gelegt haben, mittelfristig sehr ordentlich aus der Krise kommen werden".

Von mittelfristig kann vorerst allerdings keine Rede sein, denn selbst der kurzfristige Zeitplan ist umgestellt. Nicht wie vorgesehen am kommenden Montag, sondern eher am 27. April werden die ersten Klassen in die Zeit nach Corona starten. Es könnten, wie Eisenmann verdeutlicht, die sich als CDU-Spitzenkandidatin für die Landtagswahl im nächsten Frühjahr auf besonders dünnem Eis bewegt, die Abschlussklassen in allen Schularten sein. Und sie verspricht, "mit Hochdruck" an Lösungen zu arbeiten.

Bis die vorliegen, bleibt gerade den SkeptikerInnen oder gar den VerächterInnen einer neuen Lernkultur Gelegenheit, sich neu zu orientieren. Gerade angesichts des Engagements so vieler – Eltern wie Lehrer – beim Corona-bedingten Unterricht daheim hätten es alle Beteiligten verdient, nicht durch bildungspolitisches Gezänk verunsichert zu werden, auch nicht von der realitätsfernen Sehnsucht nach möglichst homogenen Klassen, aus denen Leistungsschwächere durch Sitzenbleiben einfach aussortiert werden. Und wem das bildungspolitische Dickicht zu verworren erscheint, für den hat Winfried Kretschmann einmal in einer Late-Night-Talkshow einen Merksatz gesagt, der dann die Runde machte in den entsprechenden Internetforen: "Wer ein ordentlicher Lehrer sein will, muss Kinder lieben." Wenn sich BildungspolitikerInnen bei der Aufarbeitung der Krise genau daran halten, steigen die Erfolgschancen erheblich.


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2 Kommentare verfügbar

  • NKs
    am 20.04.2020
    Antworten
    Die Träume der digitalen Bildungspolitiker werden Realität; ähmm kommen in der Realität an.

    Man wird feststellen, wie auch bei Homeoffice und Videokonferenzen, dass die Angebote eine gute Ergänzung sein können. Nicht mehr und nicht weniger.

    Von dem Problem der Teilhabemöglichkeiten, die der…
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