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Die Hoffnung stirbt

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Baden-Württemberg konnte immer schon gut mit Potentaten, wenn es darum ging, dass in heimischen Unternehmen der Rubel rollt. Die Wirtschaftsbeziehungen zu Ungarn knüpfte Lothar Späth lange vor dem Fall des Eisernen Vorgangs. Jetzt schreckt Günther Oettinger nicht vor der Zusammenarbeit mit Viktor Orbán zurück.

In Budapest patrouilliert das Militär, Armeeoffiziere überwachen die Produktion in Betrieben und die Arbeit in den seit vielen Jahren unter den Fidesz-Regierungen auf Dritte-Welt-Niveau heruntergewirtschafteten Krankenhäusern. Der "Viktator" ("Spiegel") kann per Dekret und Verordnung regieren und alle Gesetze außer Kraft setzen. Begründet wird das mit der Corona-Krise – aber wann sie zu Ende ist, und deshalb der Notstand aufgehoben werden kann, das bestimmt der Regierungschef. Die entsprechende Verfassungsänderung ist bereits älteren Datums und von der EU zwar heftig, aber ohne jeden Erfolg gerügt worden.

"Dass Ungarn im Rahmen einer Notstandsgesetzgebung per Dekret regiert wird, ist mehr als empörend", sagt die langjährige EU-Abgeordnete und Parlamentsvizepräsidentin Evelyne Gebhardt. Die Europäische Union habe jetzt also eine Diktatur in ihren Reihen. Ein anderer sagt etwas ganz anderes. Die Wege der beiden haben sich jahrelang regelmäßig gekreuzt. Zur Durchsetzung der europäischen Werte haben die Sozialdemokratin und der Christdemokrat oft an einem Strang gezogen. Jetzt allerdings schlägt Günther Oettinger den Weg in die Gegenrichtung ein. Er ist nach der – allerdings übereilten – Berichterstattung in den weitgehend gleichgeschalteten ungarischen Medien zum Co-Vorsitzenden des neu gegründeten Nationalen Rats für Wissenschaftspolitik ernannt.

Oettinger als Orbáns Aufpasser?

Die erste Sitzung fand schon im März statt, der frühere baden-württembergische Ministerpräsident wartet aber noch auf die Entscheidung der unabhängigen Ethikkommission der EU, ob er als ausgeschiedener Kommissar eine derartige Aufgabe überhaupt übernehmen darf. Dass er gerne würde, darüber lässt er im Gespräch mit Kontext keinen Zweifel. Und das Motiv? Oettinger sagt, er wolle "seinen Beitrag dazu leisten, dass klar bleibt, wie wichtig die Freiheit der Wissenschaft ist".

Er will verdeutlichen, dass "Einschränkungen bei Forschung und Entwicklung in die Irre führen müssen". Und vor allem: Der selbstbewusste Schwabe aus Ditzingen traut sich zu, auf den Potentaten Einfluss nehmen zu können. "Ich kenne Viktor Orbán lange, seine Strategie ist immer davon geprägt, die Grenzen auszuloten nach dem Motto 'Drei Schritte vor und dann doch wieder einen zurück'." Erkennbar reizt ihn die Herausforderung, die Idee, angesichts der Entwicklung, ziemlich Unmögliches möglich zu machen. Außerdem habe Baden-Württemberg in Ungarn schon sehr lange einen sehr guten Ruf, und auch das mache "klare Ansagen" möglich.  

Die Beziehungen zwischen Württemberg, Baden und Ungarn wurzeln im 18. Jahrhundert, als die Habsburger mit der Ansiedlung von Handwerkern und Bauern aus Süddeutschland, die keine Leibeigene mehr waren, verödete Landschaften auf dem Balkan landwirtschaftlich nutzen wollten. Aus vielerlei Gründen – vom ungewohnten Klima über den Amtssprachenstreit bis hin zu ungeklärten Besitzverhältnissen – wurde der Bevölkerungstransfer zwar keine Erfolgsgeschichte. Trotzdem überlebte der Ruf der sogenannten Donauschwaben als unermüdliche und erfinderische Schaffer viele Auseinandersetzungen und zwei Weltkriege.

Baden-Württemberg sah sich als Paten- und seit der Ära Späth als Partnerland. Nach dem ersten Besuch des umtriebigen Ministerpräsidenten im Sommer 1984 "in außerordentlich freundschaftlicher Atmosphäre" wurde die Hauptstadt Budapest von Fachkommissionen aus dem damaligen Musterländle förmlich überrollt. Der Austausch von WissenschaftlerInnen und Doktoranden lief rasch an. Bei Bundeskanzler Helmut Kohl setzte Späth, das vielbeschriebene "Cleverle", sogar wirtschaftliche Erleichterungen für Kontakte mit dem Comecon-Staat durch. Nicht ohne Hintergedanken natürlich, denn die Ungarn waren in diesem Zusammenschluss der UdSSR mit ihren Satellitenstaaten auf die Autobus-Fabrikation spezialisiert. "Ikarus" galt als eine Ikone im Fuhrpark des Ostblocks und über viele Jahre führend in der Herstellung von Oberleitungsbussen.

Arbeiter verdienen nicht einmal 9.000 Euro im Jahr

Der politischen Türöffnung folgte das wirtschaftliche Engagement. Für Bosch ist Ungarn besonders wichtig mit zahlreichen Standorten, darunter Hatvan, jahrlang eine Hochburg der rechtsradikalen Jobbik. Daimler produziert in Kecskemét, wo viele Anhänger des neuen alten Großungarn unter Einschluss von Teilen der Slowakei zu Hause sind, unter anderem die A- und die B-Klasse, Coupés und eine Limousine mit langem Radstand vor allem für China. Attraktiv waren nicht nur die Ansiedlungshilfen, gern ohne jede Transparenz ausverhandelt und mit Orbáns Team höchstpersönlich. Attraktiv sind die niedrigen Lohnkosten, die mit anderen, viel schwieriger zu erreichenden Weltgegenden locker mithalten.

Der Hund bellt, die Karawane folgt

Die folgenden Worte, hier als Dokumentation des Zeitgeschehens festgehalten, veröffentlichte Ungarns Außenminister Péter Szijjártó am 30.3.2020 auf Facebook:

"Der internationale liberale Mainstream hat Ungarn wiederholt in Brand gesteckt: der gefallene linke italienische Premierminister, die deutschen Sozialisten, die nie gewählten österreichischen Grünen und die luxemburgischen Kommunisten sowie die äußerst intoleranten Nordliberalen. Ihr Angriff ist heute nicht überraschend: Wenn wir das ungarische Volk vor großen Schwierigkeiten schützen, greifen sie uns immer an.

Wir wurden zehn Jahre lang vom internationalen liberalen Mainstream angegriffen, als wir den IWF nach Hause schickten und Steuern anstelle von Sparmaßnahmen senkten, Arbeitsplätze anstelle von Hilfe gaben und so Ungarn vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch schützten. Wir wurden fünf Jahre lang vom internationalen liberalen Mainstream angegriffen, als wir verbindliche Quoten für die Neuansiedlung illegaler Migranten ablehnten, einen Zaun an der südlichen Grenze errichteten und der Polizei und dem Militär befahlen, die Sicherheit des ungarischen Volkes zu schützen.

Der internationale liberale Mainstream hat uns jetzt angegriffen, als wir vom demokratisch gewählten ungarischen Parlament den Auftrag erhielten, unser Land gegen die Weltpandemie zu verteidigen. Die internationalen liberalen Mainstream-Parteien und -Politiker sind frustriert und neidisch: Sie können nur von der Art der sozialen Unterstützung träumen, die die ungarische Regierung bei den letzten drei Parlamentswahlen mit Zweidrittelmehrheit gewonnen hat.

Internationale liberale Mainstream-Parteien und -Politiker sind zutiefst antidemokratisch, weil sie den Willen des ungarischen Volkes vernachlässigen oder sogar in Frage stellen. Den Willen des ungarischen Volkes, dass wir autoritär regieren. Der internationale liberale Mainstream-Glaube ist bereits langweilig. Deshalb ist es uns egal. Wir haben wichtigere Dinge zu tun: Die Ungarn vor der Pandemie schützen und unsere Wirtschaft neu starten. Der Hund bellt, die Karawane bewegt sich."

Bei der Eröffnung des Werks, natürlich an der Autobahn, machte Daimler-Produktionsvorstand Wolfgang Bernhard öffentlich, dass der Unterschied satte 70 Prozent ausmacht. Details blieben unter Verschluss. Die deutsch-ungarische Handelskammer ging vor zehn Jahren von einem Arbeiter-Jahresgehalt von unter 9.000 Euro aus und für Fachkräfte unter 16.000. Zugleich zeigte eine Studie, dass viele Alltagsprodukte oder Benzin kaum billiger waren als in Deutschland.

Immer wieder allerdings kommen ausländische Investoren unter Druck. Sondersteuern werden verordnet, Orbán liebäugelt immer wieder mit Enteignungen und verfällt auf skurrile Ideen, um die traditionell leeren Kassen zu füllen. Als Gegenleistung für den Kauf von Staatsanleihen im Wert von 250.000 Euro wollte er ohne Ansehen der Person die ungarische Staatsbürgerschaft verkaufen, bis die EU ihn stoppte.

Die Ausschaltung des Parlaments durch die Zweidrittelmehrheit von Orbáns Fidesz-Partei – ein einziger Abgeordneter brachte den Mut zum Nein auf – ist allerdings von anderer, ganz neuer Qualität. Das Machtnetzwerk des Alleinherrschers übersteigt alles bisher in einer parlamentarischen Demokratie Dagewesene. Theoretisch hätte Staatspräsident Janos Ader dem Ermächtigungsgesetzespaket seine Unterschrift verweigern können. Aber auch er gehört zum Kreis der engen Orbán-Vertrauten, die inzwischen an allen Schaltstellen sitzen. Und JournalistInnen werden mit mehrjährigen Haftstrafen bedroht, wenn sie schreiben und senden, was von oben als fake news verunglimpft wird. "Jetzt ist dem letzten Fünkchen Pressefreiheit das Licht ausgegangen", klagt der in Budapest geborene Publizist Paul Lendvai. Im österreichischen Fernsehen zitiert er wörtlich aus Orbáns Radio-Ansprache vom vergangenen Freitag: "Zu den lebenswichtigen Firmen habe ich Militärstäbe beordert. Falls die Übernahme der Aufsicht oder die Leitung notwendig werden sollte, dann müssen dort Polizisten und Soldaten bei der Hand sein."

Nach derartigen Äußerungen sieht sich Oettinger erst recht gegenüber Unternehmen wie Bosch und Daimler oder Audi in Györ verpflichtet. Das dicke Ende kommt, wenn WissenschaftlerInnen in und vor allem außerhalb Ungarns zu dem Ergebnis kommen, das Land habe die Pandemie im Griff. Denn dann müsste die Notverordnung wieder aufgehoben werden.

Hoffen auf Vernunft

"Die Chancen", sagt nicht nur Lendvai, "sind aber schlecht." Denn: 2022 steht die Wiederwahl des Staatschefs an, dem nicht entgangen ist, dass sein Stern im Volk sinkt. Das zeigten die Kommunalwahlen 2019, als die Hauptstadt an Gergely Karácsony fiel, den erst 35-jährigen Kandidaten der mitte-links-grünen Opposition. Günther Oettinger stellt zwar fest, dass sich in Europa die Machtverhältnisse von der Legislative wegbewegen hin zur Exekutive – "wie auch in anderen Ländern, zum Beispiel in Frankreich, zu beobachten ist, wo der Präsident sogar von Krieg spricht". Aber er hofft auf Vernunft und auf die Rückkehr zur Kontrolle der Regierung durch das Parlament, wie das eben elementar ist für eine Demokratie. Und wenn nicht? "Dann muss neu entschieden werden." Spätestens dann wird er sich den Vorwürfen stellen müssen, doch nicht mehr als ein Feigenblatt zu sein.

Die bisher einzige offizielle Reaktion von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ist jedenfalls regelrecht desaströs. In ihrem täglichen Video philosphiert sie über die Bedeutung von Vitaminen, und ihr Sprecher präsentiert später eine schwammige Erklärung, in der Ungarn nicht einmal namentlich erwähnt wird. Ein Schelm, der Böses dabei denkt! Die frühere Verteidigungsministerin war bei ihrer Wahl in Brüssel auf die Fidesz-Stimmen angewiesen. 

In den bewegten Wochen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs war Erwin Teufel, noch als  Fraktionschef, vor ziemlich genau drei Jahrzehnten nach Budapest gereist, auch um sich mit den Vertretern der neuen bürgerlichen Opposition noch in deren Notquartier aus den Tagen des Untergrunds zu treffen. Er wolle, so Oettingers Vorgänger, mit dem sofortigen Besuch "die Rückkehr des Landes nach Europa" unterstreichen. Zu dessen Geist habe sich "Ungarn immer zugehörig gefühlt und sich selbst unter der Diktatur nicht davon verabschiedet". In der kommunistischen Diktatur nicht, in der gelenkten Demokratie stirbt die Hoffnung zuletzt. Wie heißt es in den letzten Zeilen der zu Herzen gehenden ungarischen Nationalhymne: Dieses Volk hat schon gebüßt. Für Vergangenes und Kommendes.


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1 Kommentar verfügbar

  • Rolf
    am 01.04.2020
    Antworten
    Dem Kapitalismus ist es scheißegal, ob er in demokratischen oder totalitär regierten Staaten seinen Profit abschöpfen kann.
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