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Rechtsstaat nach Gusto

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Der Aufschrei war groß 2018: "Asyl-Aufstand" in Ellwangen! Großrazzia! Polizisten verletzt! Die Bilder waren martialisch, die Worte auch – Social Media kochte über vor Wut auf Flüchtlinge, die sich der deutschen Polizei widersetzen. Aber das Ende vom Lied, fast zwei Jahre später? Interessiert kaum.

"In unserem Rechtsstaat gibt es eindeutige rote Linien, die mittlerweile beinahe täglich von Asylbewerbern vorsätzlich überschritten werden." So kommentierte der baden-württembergische CDU-Innenpolitiker Armin Schuster eine verhinderte Abschiebung in der Landeserstaufnahmestelle für Flüchtlinge in Ellwangen. Am 30. April 2018 hatten sich rund 150 Geflüchtete mit einem Togolesen solidarisiert, der im Rahmen der Dublinregelung nach Italien abgeschoben werden sollte. Die Polizei zog damals, wohl überrascht von der Menge beteiligten BewohnerInnen, erst einmal unverrichteter Dinge wieder ab.

Es folgte bundesweite Empörung in Politik und Medien über den "Asyl-Aufstand" im Ostalbkreis. Bundesinnenminister Seehofer sprach von einem "Schlag ins Gesicht der rechtstreuen Bevölkerung". Die Bildzeitung echauffierte sich: "150 Asylbewerber verjagen Polizei." In den sogenannten sozialen Medien war die Aufregung, gerade unter AfD-Anhängern, riesig. Und die Wütenden wurden erhört: Drei Tage nach der verhinderten Abschiebung, am 3. Mai 2018, stürmten über 500 PolizistInnen die Flüchtlingsunterkunft. Die "Welt" stellte mit Genugtuung fest: "Die Razzia war ein Signal, das in die ganze Republik dringen sollte." Welches Signal der damalige Polizeigroßeinsatz in Ellwangen aber eigentlich gesetzt hat und welche rote Linien dort und auch in anderen Flüchtlingslagern immer wieder, mit Armin Schuster gesprochen, vorsätzlich überschritten werden, das erscheint bald zwei Jahre nach den Ereignissen in der LEA Ellwangen in einem ganz anderem Licht. Das allerdings nimmt offenbar kaum jemand wahr. 

Letztes Strafverfahren gegen Geflüchteten eingestellt

Mitte Februar wurde nun das letzte von vormals mehr als 25 Strafverfahren eingestellt. In diesem Fall ging es um einen mittlerweile 29-jährigen nigerianischen Geflüchteten, dem die Polizei vorgeworfen hatte, beim Großeinsatz in der LEA am 3. Mai Widerstand geleistet zu haben. Im Beschluss des Amtsgerichts Ellwangen heißt es: "Dem Angeklagten wird ein Vergehen des Widerstands gegen Vollstreckunsgbeamte zu Last gelegt. Seine Schuld erscheint jedoch gering. Ein öffentliches Interesse an der Verfolgung besteht nicht. Das Verfahren wird daher (...) mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft eingestellt."

Wie bitte? Ein öffentliches Interesse an einer Strafverfolgung besteht nicht? Dabei hatten die Flüchtlinge in der Landeserstaufnahmestelle Ellwangen doch, gemessen an den Reaktionen, halb Deutschland in Aufruhr versetzt. Das Polizeipräsidium Aalen hatte in einer Presseerklärung nach dem Großeinsatz verkündet, es habe in der LEA am Tag der verhinderten Abschiebung "ernst zu nehmende Aussagen" gegeben, "dass man sich bei einem erneuten Auftreten der Polizei nicht nur wieder in ähnlicher Form zur Wehr setzen werde, sondern dass man sich durch Bewaffnung auf die nächste Polizeiaktion vorbereiten wolle". Afrikaner, die erst mit Gewalt eine Abschiebung verhindern und sich dann auch noch bewaffnen, um dem deutschen Schutzmann entgegenzutreten. Bei diesen Bildern kochte die Wutbürgerseele. Auch Ministerpräsident Kretschmann (Grüne) war zur Stelle und dankte nach der Razzia der Polizei dafür, dass sie "mit der erforderlichen Konsequenz und Härte reagiert hat".

Gewalt und Waffen gab es nicht

Aber war die Verhinderung der Abschiebung überhaupt gewaltsam abgelaufen und konnte man wirklich von einer Bewaffnung der LEA Bewohner ausgehen? Zahlreiche überregionale Medien, wie etwa die "Welt" übernahmen die Polizeimeldung jedenfalls gerne ("Flüchtlinge wollten sich bewaffnen"). Eine Ausnahme stellte Christian Jakob dar, der für die taz journalistisch und nicht sensationslüstern recherchierte. Dafür reichte es schon, einfach bei der Polizei nachzuhaken.

Aus einem durch Faustschläge beschädigten Dienstwagen wurde plötzlich eine "Eindellung" und ein "nicht so immenser" Schaden. Aus der dpa-Meldung von drei leicht verletzten Polizisten bei der Großrazzia wurde ein Polizist, der sich "ohne Fremdeinwirkung" verletzt hatte. Und was war mit der Bewaffnung? Er könne nicht genau sagen, wie der Verdacht auf Waffenhortung entstanden sei, erklärte ein Polizeisprecher gegenüber der taz.

Dieser Realitätscheck erhielt allerdings weit weniger Aufmerksamkeit als die aufgebauschte, durch die Polizei zusätzlich angefeuerte Sensationsberichterstattung. Die Stimmen der Geflüchteten aus Ellwangen, die betonten, "niemand hat die Polizei berührt", "wir möchten, dass die Deutschen wissen, dass wir niemals die Polizei angegriffen haben" und "die einzige Sache, die wirklich passiert ist, als sie eine Person aus dem Lager bringen wollten, ist, dass wir uns zu einem friedlichen Protest getroffen haben", wurden weit weniger stark rezipiert als die Polizeipressmitteilungen und die "Hart durchgreifen"-Rhetorik diverser Innenpolitiker.

Folgen für die Flüchtlinge aus Ellwangen

Für die PolizistInnen waren die Einsätze in der LEA Ellwangen weit weniger bedrohlich als medial und durch die Polizei selbst dargestellt. Für zahlreiche BewohnerInnen der Erstaufnahmeeinrichtung hatten sie hingegen gravierende Folgen. Die Polizei war am 3. Mai, unter anderem mit Spezialeinsatzkräften, vermummt und um 5.15 Uhr in die Unterkunft gekommen. Nicht verschlossene Türen wurden nicht normal geöffnet, sondern eingeschlagen. Zahlreiche Schutzsuchende wurden mit Handschellen gefesselt. Ein unverantwortliches Vorgehen gegenüber Menschen, die in ihren Herkunftsregionen teilweise traumatisierende Gewalt erlebt haben.

Knapp drei Monate nach der Großrazzia wurde der erste Geflüchtete aus der LEA infolge der Polizeirazzia am Amtsgericht Ellwangen verurteilt. Manadou B. wurde nach übereinstimmenden Zeugenaussagen von zwei Polizisten im Schlaf die Decke wegzogen und er wurde am Arm aus der oberen Etage eines Stockbetts gezerrt. Er soll einem Polizisten zwei bis drei Mal auf den Helm geschlagen und sich sonst "gesperrt" beziehungsweise in Panik herumgezappelt haben. Selbst die beiden Polizisten gaben vor Gericht an, nicht verletzt worden zu sein. Ein später hinzugekommener Polizist erklärte eine leichte Prellung am Ellbogen gehabt zu haben, von der er nicht wisse, wie sie entstanden sei. Das Gericht verurteilte Manadou B. trotzdem wegen "tätlichen Angriffs auf Polizeibeamte" zu sechs Monaten Haft ohne Bewährung. AsylbewerberInnen werden durch solche Verurteilungen gleich doppelt bestraft. Ein Vorstrafe steht einem Aufenthaltstitel entgegen.

Richter bezweifelt Rechtmäßigkeit der Razzia

Erst im Frühjahr 2019 befasste sich, wohl auch aufgrund der stetigen Öffentlichkeitsarbeit der Initiativen refugees4refugees, der Aktion Bleiberecht und des baden-württembergischen Flüchtlingsrates, ein Richter am Amtsgericht Ellwangen mit der grundrechtlichen Bedeutung des Polizeieinsatzes. So heißt es in der gerichtlichen Verfügung vom 5. März 2019: "Das Gericht hat Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit des polizeilichen Handelns und der damit einhergehenden Strafbarkeit." Der Amtsrichter stufte die Zimmer der LEA als Wohnung ein, für die das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung gilt und die Polizeiaktion somit als Wohnungsdurchsuchung. Da die verhinderte Abschiebung drei Tage vor der Durchsuchung stattgefunden hatte, sei "eine Gefahr im Verzug offensichtlich nicht gegeben" gewesen. Es hätte nach Auffassung des Richters ein Durchsuchungsbeschluss vorliegen müssen, den es im Fall der Razzia nicht gegeben hat.

"Wenn es um rechtlich fragwürdige Praktiken seitens der Behörden gegenüber Menschen in den Erstaufnahmeeinrichtungen geht, bleibt der Aufschrei meist überschaubar", hatte der Flüchtlingsrat schon am 4. Mai in weiser Voraussicht in einer Stellungnahme erklärt. Zwar wurden die Zweifel des Richters an der Rechtmäßigkeit der Polizeiaktion am 3. Mai 2018 in mehreren Medien aufgegriffen, anders als die anfänglichen (Falsch-)Meldungen um den "Asyl-Aufstand" ein Jahr zuvor, wurde dies aber nicht zu einem bundesweit diskutierten Thema. Dass der Einsatz von über 500 PolizistInnen bei dem Türen einer staatlichen Einrichtung zertrümmert und zahlreiche Schutzsuchende in Angst und Schrecken versetzt wurden, auch noch ohne Rechtsgrundlage erfolgte, erzeugte keine große Empörung.

Das jetzt das letzte laufende Strafverfahren gegen einen Geflüchteten aus Mangel an öffentlichem Interesse an einer Strafverfolgung eingestellt wird, lässt sich auch so interpretieren: Die Staatsanwaltschaft hat kein Interesse daran, die Rechtswidrigkeit der Polizeirazzia in einem Urteil bestätigt zu bekommen.

Bemerkenswert an der jetzigen Verfahrenseinstellung ist, dass bereits über 20 Geflüchtete entweder zu hohen Strafen verurteilt wurden, oder ihre jeweiligen Strafbefehle akzeptiert haben und somit nun Geldstrafen zu zahlen haben und vorbestraft sind. Nur vier der Betroffenen haben überhaupt Einspruch gegen ihre Strafbefehle eingelegt. Der Zugang zum Rechtsweg ist den meisten Flüchtlingen allein schon durch finanzielle und sprachliche Hürden versperrt. Hinzu kommt verständlicherweise oft der Glaube, sich auch rechtlich nicht gegen polizeiliches Handeln wehren zu können. Die Initiative refugees4refugees fordert angesichts der jüngsten Verfahrenseinstellung nun, dass alle Verurteilten aufgrund der offensichtlichen Rechtswidrigkeit des Polizeieinsatzes entschädigt werden. Dass das passiert, scheint unwahrscheinlich.

Rechtsfreie Räume

So gibt es also de facto rechtsfreie Räume für Geflüchtete nicht nur in Griechenland und an der türkisch-griechischen Grenze, sondern auch in deutschen, in baden-württembergischen Flüchtlingslagern. CDU-Innenminister Thomas Strobl hatte noch 100 Tage nach der Polizeirazzia erklärt, das Signal des Einsatzes in der LEA sei sehr deutlich: "Rechtsstaat und Polizei setzen sich durch, nicht der Mob!" Richtiger müsste es heißen: Der rechte Mob hat sich durchgesetzt und die Polizei rechtsstaatliche Grundsätze ignoriert. Aber der Rechtsstaat wird nur ins Feld geführt, wenn das Konzept der Rechtfertigung der eigenen, rechtlich fragwürdigen Praxis dient.

"Die Polizei setzt den Rechtsstaat nicht durch, sondern der Rechtsstaat soll die Menschen vor dem exekutiven Gewaltmonopol der Polizei schützen", erklärt der Rechts- und Politikwissenschaftler Maximilian Pichl. Leider versagt der Rechtsstaat oftmals. Die Polizeirazzia in Ellwangen war nämlich kein Einzelfall. Ähnliche Großeinsätze fanden auch in Deggendorf, Donauwörth und Stephansposching in Bayern statt. Stets werden in der Folge Flüchtlinge verurteilt. Immer wieder wird das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung ignoriert und Geflüchtete nicht ausreichend durch den Rechtsstaat geschützt. Seit September 2018 ist beim Verwaltungsgericht Stuttgart eine Klage gegen den Polizeieinsatz in Ellwangen am 3. Mai anhängig.

Wird, wenn sich das Gericht schließlich bemüßigt, über die Klage zu entscheiden, das öffentliche Interesse vergleichbar sein mit der Aufregung von Anfang Mai 2018? Wird sich Ministerpräsident Kretschmann bei den Betroffenen des Polizeieinsatzes dafür entschuldigen, dass er einen offensichtlich rechtswidrigen Einsatz gegen sie verteidigt hat und sie als Kriminelle hinstellte? Wird es eine Änderung der Polizeipraxis geben? Wird man gar auf den Gedanken kommen, dass es keine gute Idee ist, zahlreiche, oftmals traumatisierte Menschen auf engstem Raum in große Lager unterzubringen, weil dies nur Angst schürt und stigmatisiert? Wohl kaum.

 


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