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Die Hölle auf Erden

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Seit der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 gibt es das Flüchtlingslager Moria auf Lesbos. Die Lage dort verschlechtert sich stetig. Jetzt, im März 2020 und mit einem drohenden türkischen Präsidenten im Nacken, hat sich Deutschland entschlossen, anderthalbtausend Kinder aus den griechischen Lagern herauszuholen. Für die verbliebenen Menschen bleibt es fürchterlich.

In den vergangenen Wochen sind die griechischen Inseln, insbesondere Lesbos, Chios und Samos, durch eine beispiellose Krise gegangen. Die Pläne zur Eröffnung eines geschlosenen Internierungslagers, um das überfüllte Camp in Moria zu ersetzen, führte zu Protesten, gefolgt von Gewalt – wobei die griechischen Behörden verzweifelt versuchen, die immer heftigeren Spannungen im Zaum zu halten.

Seit der Öffnung der türkischen Grenze kamen immer mehr Menschen auf den Inseln an. Eine Minderheit von Einheimischen, Rechtsradikalen und Faschisten bildete daraufhin Milizen und schuf ein Klima der Feindseligkeit, das zu Übergriffen und Attacken auf Geflüchtete, NGOs und freiwillige Helfer führte. Viele haben die Insel mittlerweile verlassen.

Unsere Autorin Ophélie Lawson ist eine freie Journalistin aus Frankreich, die sich für Menschenrechte und sozialen Wandel einsetzt. Lawson lebte lange in Athen und leitete dort die Einrichtung "Safe Place", die sich um homosexuelle Geflüchtete kümmert. Sie besucht Lesbos und das Lager Moria regelmäßig und versucht, "das Bewusstsein für die Krise zu schärfen." 

Währenddessen leiden die Menschen in den überfüllten Camps unter unmenschlichen Bedingungen. Die Lager empfinden sie als Gefängnisse. Viele befürchten, dass sich die aktuelle politische Situation negativ auf ihre Asyl-Anträge auswirken könnte.

Im Lager von Moria scheinen die Geflüchteten bereits ihre Belastungsgrenze erreicht zu haben. Mehr als 20.000 Asylsuchende leben hier an einem Ort zusammengedrängt, der eigentlich für 3000 Menschen ausgelegt war. 

"Die Situation ist sehr schwierig", sagt Jonathan, ein Geflüchteter aus dem Kongo. "Wir leben hier wie Tiere. Jeder Tag ist gleich. Wir warten und warten. Weil alle gereizt sind und die Anspannung nur zunimmt, müssen wir jeden Tag noch vorsichtiger sein, wenn wir aus unseren Zelten herauskommen."

Der Zugang zu Wasser und Strom ist eingeschränkt

Schon bevor der Türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan entschieden hatte, die Grenzen zu Griechenland zu öffnen, war Moria ein Krisenherd in Bezug auf die EU-Politik und Menschenrechte. Ein Ort, an dem die europäischen Ideale unter Gleichgültigkeit, mangelndem politischen Willen und Vernachlässigung zusammengebrochen sind.

"Bis vor kurzem", sagt Jonathan, "haben wir hier so viele Neuankömmlinge gesehen. Vergangene Woche kam fast jeden Tag eine ganze Wagenladung von Menschen an. Aber die meisten wurden schon in die Türkei zurückgeschickt. Und diese Woche haben wir keine Neuankömmlinge mehr gesehen."

Nachdem der türkische Präsident öffentlich erklärte, dass die Grenzen seines Landes zur EU offen stünden, strömten tausende Geflüchtete zur griechischen Grenze. Griechenlands Reaktion war es, Menschen mit Tränengas abzuwehren und einen Monat alle Asyl-Anträge auszusetzen.

"Wir haben alle Angst davor, was mit uns passiert", fährt Jonathan fort. "Aber wir sterben hier sowieso schon, was auch immer passiert, die Situation ist jetzt schon schlecht für uns."

Ende Februar sind hunderte Geflüchtete auf die Straßen gegangen, um gegen ihre entsetzlichen Lebensbedingungen zu demonstrieren. Während der Proteste wurde die Essensversorgung für drei Tage ausgesetzt. "Manche von uns hatten in dieser Zeit nichts zu essen. Wir wissen nicht genau, warum sie die Essensausgabe gestoppt haben", erinnert sich Jonathan. "Wahrscheinlich wegen all der Gewalt. Glücklicherweise hatten einige in meinem Zelt noch etwas Geld übrig, Geld, das wir jeden Monat von der UN bekommen sollen. Damit konnten wir ein paar Sachen an informellen Essensständen im Lager kaufen. Wirklich gut ist das nicht, aber wenigstens konnten wir essen."

Jonathan erzählt mir, wie dürftig das Lager mit Elektrizität versorgt ist, und von dem stark begrenzten Zugang zu sauberem Wasser. Er befürchtet, selbst das könnte in der momentanen Situation noch schlechter werden: "Strom haben wir von 8 bis 9 Uhr, dann wieder von 13 bis 15 Uhr und von 17 bis 2 Uhr nachts. Das reicht nicht. Zugang zu Wasser haben wir nur von 10 bis 16 Uhr und dann von 20 bis 2 Uhr." Um auf die Toilette zu gehen, müssen die Menschen manchmal mitten in der Nacht anstehen, um sie am frühen Morgen benutzen zu können.

Bis zur Anhörung dauert es Monate

Jonathan lebt seit November 2019 im Camp. In einem Zelt, vollgestopft mit elf anderen Männern. Sechs von ihnen sind aus dem Kongo, die anderen aus Burundi. Die Kommunikation ist nicht einfach, nur wenige Kongolesen sprechen Englisch, und wenn, dann meist gebrochen.

Jonathans Anhörung für sein Asylverfahren ist für Oktober dieses Jahr angesetzt. "Ich habe Glück", sagt er. "Manche, die später kamen, haben ihre Anhörung erst 2021."

Südwesten kündigt Hilfe an

Das Land Baden-Württemberg will, ausdrücklich mit Zustimmung von CDU-Innenminister Thomas Strobl, nun doch Geflüchtete aus überfüllten griechischen Lagern aufnehmen. Monatelang hatten sich auch im Südwesten viele in der Union gegen den grünen Koalitionspartner gesträubt – immer mit dem Argument, dass Einreiseerleichterungen ein falsches Signal an Migranten und vor allem Schlepper seien. Armin Schuster, der Innenexperte der CDU-Bundestagsfraktion aus Lörrach, erklärte erst vor wenigen Tagen, Humanität gebe es nur auf der Basis von Sicherheit und Ordnung. Vor Ort in den Kommunen wunchs und wächst allerdings die Zahl der Bürgermeister und Gemeinderäte, die konkret helfen wollen.

Einzelne CDU- und viele SPD-, sowie Linken- und Grünen-Politiker wollten die Situation nicht mehr hinnehmen – vor allem, weil es freie Kapazitäten für die Unterbringung gibt. Stuttgarts Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) bat bereits das Jugend- und das Sozialamt, "die Aufnahme der Kinder konkret vorzubereiten". Er sei froh, so Strobl am vergangenen Dienstag nach der Kabinettsitzung auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne), "dass die entsprechenden Verhandlungen auf der Bundesebene und auch mit der Europäischen Kommission exakt in diese Richtung gehen".

Das Land sei bereit, seinen Beitrag im Rahmen einer "Koalition der Willigen" zu leisten und einen "angemessenen Anteil" zu übernehmen. Es handele sich dabei um Kinder, die entweder wegen einer schweren Erkrankung dringend behandlungsbedürftig oder aber unbegleitet und jünger als 14 Jahre alt sind, die meisten davon Mädchen. Auch der SPD-Landes- und Fraktionschef Andreas Stoch begrüßte "die Bewegung". Und er erklärte, weiter Druck machen zu wollen, "sollte, wie schon in den vergangenen Wochen, aus den Ankündigungen abermals nichts werden".  (jhw)

Die Zelte, in denen die Menschen leben, sind instabil und sehr dicht nebeneinander gestellt. Bei starkem Regen werden sie überflutet. Die sanitären Bedingungen sind entsetzlich. Frauen berichten, dass sie im Lager ständiger Unsicherheit ausgesetzt sind. Laut "Human Rights Watch" würden sie die "griechische Regierung darum bitten, Maßnahmen zu ergreifen, um sichere und menschenwürdige Bedingungen für Frauen und Mädchen zu gewährleisten, in Einklang mit den internationalen Menschenrechtsverpflichtungen und -standards für humanitäre Notfälle".

Moria ist das größte Flüchtlingscamp in Europa, und es ist komplett überfüllt.

Vor dem Migrationsabkommen zwischen der EU und der Türkei 2016, konnten Asylsuchende noch aufs griechische Festland, um dort einen Antrag zu stellen. Nun ist jeder Asylsuchende, selbst die Verwundbarsten, verpflichtet, sich auf der ersten Insel, auf der er landet, anzumelden und dort zu bleiben, bis er akzeptiert wird. Mit einer Wartezeit, die Jahre dauern kann.

"Wir können nicht mal in die Stadt gehen, weil die Griechen sauer sind. Man hat uns empfohlen, im Camp zu bleiben und uns so wenig wie möglich zu bewegen. Seit letzter Woche hat sich das Narrativ, das sowieso nie für uns war, verändert und steht nun völlig gegen uns", sagt Jonathan. 

Die Entscheidung der Türkei bedeutet für Geflüchtete, die bereits in Griechenland festsitzen, eine Zunahme der Feindseligkeit aus der lokalen Bevölkerung. Lagerhäuser von freiwilligen Helfern werden angezündet, Helfer auf den Straßen attackiert. Vergangene Woche wurde das "One Happy Family"-Gemeinschaftszentrum, das für Geflüchtete auf der Insel gebaut wurde, bis auf die Grundfesten niedergebrannt. Es hatte sogar eine Schule, um das Menschenrecht auf Bildung für die auf Lesbos gefangenen Flüchtlingskinder umzusetzen.

"Das Zelt meines Freundes wurde am Wochenende mitten in der Nacht attackiert", berichtet Jonathan. "Sie sind mit Messern gekommen und haben alles gestohlen. Einige Syrer wurden von der Polizei angegriffen und geschlagen. Es gibt Gerüchte, dass einer totgeschlagen wurde, aber es gibt keine Berichte darüber."

Überall auf der Welt problematisieren Journalisten, Hilfsorganisationen und Menschenrechtsaktivisten die dramatische Lage für Geflüchtete in Griechenland. Viele von ihnen fordern Europa auf, die Grenzen zu öffnen. Angesichts der Gewalt, der anhaltend unmeschlichen Bedingungen, psychischer Folter und eklatanter Menschenrechtsverletzungen stellt sich die Frage, wie Europa reagieren wird.

 


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2 Kommentare verfügbar

  • Jue.So Jürgen Sojka
    am 12.03.2020
    Antworten
    Auf dieser Seite unter _Passend zum Thema_ der KONTEXT-Artikel vom 04.03. „Die Maske der Zivilisation“ Grundrechte sollten der Minimalkonsens jeder demokratischen Gesellschaft sein. …

    Jetzt würde passender sein, so nicht das Wort „Grundrechte“ sondern „Menschenrechte“ angewandt sein würde, sind…
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