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Das Wort zum Montag

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Stuttgarts Stadtflaneur hat Halt gemacht auf der 500sten Montagsdemo gegen S 21 "und gegen nationale Esel". Seine Rede im Wortlaut, flankiert von den Beiträgen der Verkehrsexperten Heiner Monheim und Hermann Knoflacher.

Die Rede des Verkehrswissenschaftlers Heiner Monheim hier als Text und mit Klick auf den Pfeil als Video.

Hochverehrte Protest-Gesellschaft von Stuttgart,

ich grüße Sie vor unserer Bahnhofsruine, die uns schon heute verkehrs- und klimatechnisch große Vorteile garantiert: In der Zeit, in der Sie sich auf diesem Bahnhof zu Ihrem Gleis durchkämpfen, können Sie locker die Strecke nach Ulm mit dem E-Bike bewältigen.

Damit bin ich bei unserem Sportsfreund Kuhn, bekannt auch als Fritz der Große. Neulich hat er bei der Bewerbung um die Internationale Automobil-Ausstellung – diese Schau der Stink- und Protzkisten – getönt, Stuttgart sei "die Heimatstadt der Mobilität". Und: "Alles was sich bewegt und nachhaltig unterwegs ist, heißen wir herzlich willkommen." Gemeint hat er vermutlich unsere nachhaltig verstopften Straßen und all die S-Bahnen, die nur noch mit Verspätungsrekorden unterwegs sind.

Mit Klick aufs Bild: Rede des Verkehrswissenschaftlers Hermann Knoflacher. Screenshots: Youtube

Jetzt aber zu unserer Nummer 500 – unglaublich. Darauf, dass die Zahl schon in der Bibel eine große Rolle spielt, kann ich hier nicht näher eingehen, nur so viel: Der allseits berühmte Hiob beispielsweise hatte "500 Eselinnen, zwei Mal 500 Rinder, zwölf Mal 500 Kamele und 14 Mal 500 Schafe." Ich muss Ihnen nicht sagen, dass wir angesichts von Stuttgart 21 sehr wahrscheinlich mehr Rindviecher, Schafe und ähnliche Esel in dieser Stadt finden.

Andererseits bin ich mit runden Zahlen etwas vorsichtig, damit wir hier beim Protest gegen das Immobilien- und Stadtzerstörungs-Projekt nicht in eine Art Jubiläums-Euphorie geraten. Erst letzten Herbst haben wir im Theaterhaus unter Anteilnahme weiter Kreise der Bevölkerung "zehn Jahre Montagsdemo" gefeiert. Heute ist die 500ste, im Juli steht das Datum "zehn Jahre Mahnwache" an, und im September werden wir uns zum zehnten Jahrestag des Schwarzen Donnerstags versammeln. Es war in Wahrheit ein dreckiger Donnerstag, wenn man die politisch Verantwortlichen hinter den brutalen Angriffen auf unsere Versammlungsfreiheit betrachtet.

Glanznummern strunzdummer Propaganda

Inzwischen haben wir eine andere Regierung – und noch schärfere Polizeigesetze. Einer von dieser Regierung – er heißt Kretschmann – hat neulich gesagt, die Volksabstimmung über S 21 habe das Volk "befriedet". Die Realität ist eine andere: Mit ihrer heuchlerischen Abstimmung haben die Grünen nicht uns befriedet, sondern nur sich selbst befriedigt. So erklärt sich ihre Selbstzufriedenheit als Wendehals-Karrieristen.

Liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter, gerade haben uns zwei hochkarätige Verkehrswissenschaftler den Unsinn dieses als Verkehrsprojekt getarnten Profit-Unternehmens bestens erklärt. Deshalb darf ich jetzt guten Gewissens die Gleise in eine andere Richtung biegen. Es wird immer saukomisch, wenn man den Geist hinter Stuttgart 21 betrachtet. Meine erste Rede auf einer Demo gegen S 21 habe ich 2010 gehalten. Damals hatten Pro-ler mit ihrer Rohr- und Tunnel-Intelligenz gerade T-Shirts mit dem Aufdruck verteilt: "Tu ihn unten rein!" Das war unter dem damaligen Regierungsbullen Mappus die logische Fortsetzung von Kohls Lebensmotto "Entscheidend ist, was hinten rauskommt."

Heute werden solche Glanznummern noch getoppt. So liest man auf Transparenten in der mit Kunstlicht verhunzten Bahnhofsruine die strunzdumme Propaganda, es gebe bald einen "neuen Bonatzbau". Das entspricht dem Vorhaben, ein Bild von Picasso zu zerhacken, die Reste zu einem Bettvorleger zusammenzuflicken, sie frisch anzustreichen – um sie dann als "neuen Picasso" zu verscherbeln. Tatsache ist: Die Architektur von Paul Bonatz, die laut FAZ "Stuttgart vor hundert Jahren mit einem Schlag in die Moderne katapultierte", ist für immer zerstört.

Jetzt wird ein Vier-Sterne-Hotel in den Bahnhof gemauert, finanziert von dem Unternehmen "me and all", an dem unter anderem der berüchtigte Fleischfabrikant Clemens Tönnies beteiligt ist. Welche Gesinnung das Bahnhofshotel beherrscht, habe ich auf der Homepage der Firma "me and all" gelesen. Achtung, ich zitiere: "Wir gehen nach Stuttgart – YEAH JIPPIE YEAH! In drei gläserne! [Ausrufezeichen] Etagen, in den historischen Bonatzbau. Wer dann im Stuttgarter Hauptbahnhof ankommt, kommt auch im me and all stuttgart an. Also fast. Zentraler geht's definitiv, überhaupt ganz und gar nicht. Und spektakulärer kaum: Die drei Etagen werden nämlich als Glaskubus ins historische Drumherum integriert und auf ein Shopping-Center gesetzt. Auch die Fassaden und alten Schalterhallen bleiben erhalten. Das wird der Hammer! Die me and all lounge wird riiiesig. Und es wird ein me and all businesscenter mit 10 Boardrooms für Meetings geben. On top of all. Wir sind ja jetzt schon ein bisschen geflasht. Und können auch die Feierabend-Beats in unserer Stuttgarter Lounge irgendwie schon hören."

Dieser Text, dessen Dumpfbacken-Beats uns voll flashen, erzählt viel über das Verhältnis gewisser Marketing-Leuchten zur Geschichte. Und damit komme ich zu einem wichtigen Punkt unseres Protests. Wenn Stuttgart-21-Befürworter in ihrer Überheblichkeit spotten, wir hier seien die Ewiggestrigen, dann offenbaren sie nur ihre verantwortungslose Sicht auf politische Entwicklungen.

Keine Geschichtsvergessenheit, keine Nostalgie

Wer sich ernsthaft mit der Vergangenheit befasst, wird begreifen: Geschichte ist nicht Vergangenheit. Geschichte ist immer Gegenwart. Und eine Protest-Bewegung, vor allem eine so lang anhaltende wie unsere, hat die Pflicht, über ihr ureigenes Thema hinauszuschauen. Ein Motiv für unseren Protest war und ist es, demokratische Rechte zu nutzen und zu verteidigen. Und seit vielen Jahren begegnen wir immer mehr Feinden der Demokratie, die den Gestrigen nacheifern. Ich spreche von den neuen Faschisten, von den Rechten und Völkischen vor unserer Haustür mit ihren nationalistischen, rassistischen Machenschaften.

Deshalb ist es auch unsere Aufgabe, diesen Bahnhof als ein in der Gegenwart zerstörtes Denkmal aus einer Zeit zu sehen, die in unsere Gegenwart hineinreicht. Die Auseinandersetzung mit Geschichte hat nichts, aber auch gar nichts mit Nostalgie zu tun. Sie konfrontiert uns vielmehr mit dem Hier und Jetzt. Und wir müssen uns heute solidarisch mit all denen zusammentun, die sich gegen die Zersetzung demokratischer Rechte wehren. Die sich wehren gegen die Attacken und den Terror von rechts auf unsere internationale Kultur und Lebensart. Wir erleben gerade einen Kulturkampf von rechts, nämlich die Angriffe "nationaler Esel", wie Tucholsky sie genannt hat – und es sind leider nicht nur 500.

Zum Abschied heute, meine Damen und Herren, heiße ich Sie willkommen in den neuen zwanziger Jahren. Die Demos müssen weitergehen, damit uns die Geschichte von Stuttgart 21 eine Warnung bleibt, wie man mit Lügen und Phrasen von Zukunft und Fortschritt unsere Gegenwart ausbeutet und zerstört. Und so dichte ich zum Schluss die Mobilitäts-Poesie unseres großen Fritz ein wenig um: Alles, was sich bewegt und nachhaltig unterwegs ist gegen die Verbreiter des Hasses, gegen die Feinde der Menschlichkeit und des klaren Verstands, heißen wir herzlich willkommen.

Bis bald – und auf die nächsten 500 Montagsdemos!


Die Rede von Joe Bauer, Stadtflaneur und Journalist, gehalten auf der 500sten Montagsdemo am 3. Februar 2020, veröffentlichen wir hier leicht gekürzt. In voller Länge ist sie hier zu sehen. 


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