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Scheingenossen aus der Kommunistenburg

Scheingenossen aus der Kommunistenburg
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Wer soll für bezahlbaren Wohnraum sorgen? Die Genossenschaften? Die tragen oft selbst zur Vertreibung der ärmeren Mieter bei. Ebenso die kommunalen Wohnungsgesellschaften. Der "Mietentscheid Stuttgart" will das ändern.

"Bauen muss vermehrt ohne Neubau auskommen", stellt der Bund Deutscher Architekten (BDA) in seinem im Mai verabschiedeten Positionspapier "Das Haus der Erde" unmissverständlich fest: "Priorität kommt dem Erhalt und dem materiellen wie konstruktiven Weiterbauen des Bestehenden zu und nicht dessen leichtfertigem Abriss." Die Baugenossenschaft Zuffenhausen scheint da anders zu denken. Ihre allererste Siedlung, vor 100 Jahren erbaut, will sie abreißen.

Die Genossenschaft wurde ihrer eigenen Homepage zufolge von "beherzten Männern" gegründet, "um die nach dem 1. Weltkrieg entstandene Wohnungsnot zu lindern." Eigentlich könnte der Wohnblock auch unter Denkmalschutz stehen, denn es gibt aus dieser Notzeit keine vergleichbar gut erhaltene genossenschaftliche Wohnanlage in Stuttgart. Schön passt sich der dreieckige Block, im Volksmund " Kommunistenburg" genannt, der Kurve der Stammheimer Straße vor dem Bahndamm an.

"Graue Energie" und steigende Mieten sprechen für Erhalt

Aber Denkmalschutz ist nicht alles. Nur zwei Prozent der Bestandsbauten sind geschützt. Doch das bedeutet gerade nicht, dass alle anderen weg können. Im Gegenteil: viele Gründe sprechen fast immer für einen Erhalt, wie der BDA in der aktuellen Ausgabe seiner Zeitschrift "der architekt" zeigt. Einer davon: in dem Zuffenhausener Wohnblock stecken die Erinnerungen von Generationen. Niemals kann ein Neubau dieselbe Atmosphäre bieten.

Für Erhalt spricht vor allem die "graue Energie", die in den Gebäuden steckt: Selbst wenn ein Bestandsbau durch ein Nullenergiehaus ersetzt wird, dauert es immer noch rund dreißig Jahre, bis die bessere Dämmung die bei Abriss und Neubau aufgewendete Energie aufwiegt. Die üblichen Polystyrol-Verbundplatten sind dann zu diesem Zeitpunkt bereits wieder Sondermüll. Sie können nicht recycelt werden.

Ein weiteres Argument sind die steigenden Mieten. Nur in Bauten wie dem Wohnblock an der Stammheimer Straße gibt es noch Mieten unter sechs Euro pro Quadratmeter. Neu gebaute Sozialwohnungen sind deutlich teurer. Die Baugenossenschaft Zuffenhausen rechnet bei Neubauten mit 9,50 Euro. Abriss und Neubau sind aber nach einer vor drei Jahren erschienenen Studie des Deutschen Instituts für Urbanistik (difu) der Hauptgrund für die Vertreibung der ärmeren Mieter: die Gentrifizierung.

Mieter haben sich offenbar selbst ihrer Rechte beraubt

Susanne Bödecker war die einzige, die versucht hat, sich gegen den Abriss zu wehren. Rechtzeitig vor der Mitgliederversammlung im Juni 2016 stellte die Bezirksbeirätin, die in einer anderen Siedlung der Baugenossenschaft wohnt, den Antrag, den Stammheimer Block zu erhalten – mit Unterschriften von 20 Mietern. Die lapidare Antwort: "Gemäß unserer Satzung (§ 32, Abs. 3 und § 34) fällt Ihr Antrag nicht in die Zuständigkeit der Mitgliederversammlung."

Wie kann das sein? Eine Genossenschaft ist der Definition nach ein gemeinschaftlich betriebenes Wirtschaftsunternehmen. Die Mitglieder einer Baugenossenschaft sind nicht einfach Mieter, sie sind Miteigner, die Vorstände ihre Angestellten. Offenbar haben die Mitglieder der Baugenossenschaft Zuffenhausen in der Vergangenheit einer Satzungsänderung zugestimmt, mit der sie sich selbst ihres Rechts beraubt haben, über die Mitgliederversammlung Einfluss zu nehmen.

Damit nicht genug: Die "Kommunistenburg" steht bereits leer. Die Bewohner haben allesamt einen so genannten Ablösevertrag unterschrieben, in dem sie darauf verzichten, in dem Block wohnen zu bleiben, wenn ihnen die Genossenschaftsleitung im Gegenzug bis zu drei Ersatzwohnungen anbietet. Eine Ersatzwohnung steht ihnen sowieso zu, aber durch ihre Unterschrift haben sie sich verpflichtet, auszuziehen. Warum geben sie so leichtfertig ihre Rechte aus der Hand? "Sie hoffen, dass die Genossenschaft sie schon nicht hängen lassen wird", meint Susanne Bödecker. Dass sie sich um ihre Mieter kümmert.

Niemand kümmert sich.

Ein kurzer Augenschein soll den Abriss begründen

Eine Genossenschaft, die ihre Satzung dahingehend ändert, dass die Mitglieder nichts mehr zu sagen haben, die sie über Ablöseverträge in teurere Ersatzwohnungen drängt, trägt den Namen Genossenschaft nur noch zum Schein. Leider handeln seit der Aberkennung der Gemeinnützigkeit 1990 viele Genossenschaften so.

Derzeit steht nur noch das Gründungsgebäude der Genossenschaft zur Debatte, das als prägender Bau an der Heimstättenstraße 1 sein Gesicht der Ortsmitte zukehrt. Um dem Bezirksbeirat und dem Gemeinderat den Abriss des Wohnblocks schmackhaft zu machen, hatte die Baugenossenschaft angeboten, diesen Bau zu erhalten. Nun hat sie im August einen Gutachter hingeschickt, der nach "kurzer augenscheinlicher Begutachtung" zu dem Ergebnis gelangt, der Bau sei nicht zu erhalten.

Die Gründe? Er entspräche nicht den heutigen Standards; es gäbe keine Balkone und keine Aufzüge; die Wohnungen seien nicht behindertengerecht; die Holztreppen im Treppenhaus entsprächen nicht der Brandschutzverordnung. All dies nachzurüsten, käme teurer als Abriss und Neubau. Diese Kriterien zugrunde gelegt, könnten sämtliche Altstädte, jedenfalls die 98 Prozent der Bestandsbauten, die nicht unter Denkmalschutz stehen, flächendeckend abgerissen werden. Mit verheerenden Folgen für Klima, Stadtbilder und Mietentwicklung.

Die Fraktion aus Linken, SÖS, Piraten und Tierschutzpartei hat nun im Gemeinderat den Erhalt des Gebäudes beantragt. Die Genossenschaftsleitung selbst hüllt sich in Schweigen. "Wie Sie vielleicht wissen, ist unser Stammheimer Block derzeit ein Thema im Gemeinderat", antwortet der Vorstandsvorsitzende Hanns Hub auf Kontext-Anfrage. "Die BGZ will deshalb aktuell keine weiteren Informationen dazu veröffentlichen." Das Thema steht am 3. Dezember auf der Tagesordnung für die öffentliche Sitzung des Ausschusses für Stadtentwicklung und Technik.

Mag sein, dass die Ersatzwohnungen, die den Bewohnern des Stammheimer Blocks angeboten wurden, nicht sehr viel teurer sind. Die Durchschnittsmiete lag bei der Baugenossenschaft Zuffenhausen im Vorjahr bei 6,62 Euro. Teile von Zuffenhausen gehören noch zu den wenigen "einfachen Lagen" in Stuttgart. Trotzdem beträgt die Miete in Zuffenhausen laut Marktbericht 2016/17 der Tolias Immobilien GmbH im Schnitt zehn Euro.

Für den Erhalt von Sozialwohnungen fühlt sich niemand zuständig

Stuttgart teurer als München

Jahrzehntelang lag München unter den deutschen Großstädten bei den Mieten an erster Stelle. Immerhin gibt es dort 85 000 städtische Wohnungen, davon 43 000 Sozialwohnungen, während Stuttgart über die SWSG nur 18 000 Mietwohnungen besitzt. Nun hat Stuttgart München überrundet. Nach dem Index des Unternehmens F+B beträgt die Durchschnittsmiete hier 10,41, in München 9,74 Euro pro Quadratmeter. Und im Umland ist es keineswegs besser: In Leinfelden-Echterdingen liegen die Mieten so hoch wie in Stuttgart, in Tübingen und Ludwigsburg ungefähr so hoch wie in München und damit deutlich über dem Bundesdurchschnitt von 7,04 Euro. (dh)

Nun erklärt die Genossenschaft, die Modernisierung des Bestands käme teurer als Abriss und Neubau. Dies entspricht einer in Stuttgart seit langer Zeit eingespielten Praxis: Allein die Behauptung reicht aus. Alternativen prüfen? Nicht nötig. Zwar ist Umbau, wie es in "der architekt" heißt, "die anspruchsvollere Disziplin". Dennoch: "Für den Umbau spricht eigentlich alles". Und dabei stehe keineswegs immer von vornherein fest, dass Umbau die teurere Variante darstelle.

Ärmere Mieter könnten ja Wohngeld beantragen, lautet ein anderes Argument. Allerdings haben in Stuttgart 100 000 Mieter Anspruch auf eine Sozialwohnung – doch nur 14 000 wohnen in einer, wie Britta Mösinger feststellt. Die gelernte Diplom-Betriebswirtin ist Mitinitiatorin des Leerstandsmelders. Während das Genossenschaftsmodell ursprünglich einen Akt der Selbstermächtigung darstellt, durchleuchtet das Wohnungsamt noch die hintersten Ecken der Einkunfts- und Vermögensverhältnisse – eine teilweise Entmündigung der Mieter.

Wenn schon Genossenschaften ihren Anspruch aufgeben, diejenigen mit Wohnungen zu versorgen, die am wenigsten verdienen, stellt sich die Frage, wer für Krankenpfleger und Erzieherinnen bezahlbaren Wohnraum zur Verfügung stellen soll. Historisch waren dafür seit den 1920er-Jahren die öffentlichen Wohnungsgesellschaften zuständig: in Stuttgart etwa die 1933 gegründete SWSG oder früher die Landesentwicklungsgesellschaft (LEG), 2007 umgewandelt zur LBBW Immobilien. Die Wohnungen gehören heute der Vonovia.

Doch auch die kommunalen Wohnungsunternehmen gehen bei ihren Bauten nicht anders vor als die Baugenossenschaft Zuffenhausen; etwa die halb-städtische Esslinger Wohnungsbau GmbH (EWB) oder eben die SWSG. Auf der Homepage behauptet die SWSG zwar, sie stelle "preisgünstigen Wohnraum für breite Schichten der Bevölkerung bereit." Zuständig ist hier die Stadt Stuttgart, die aber, statt ihren Wohnungsbestand auszubauen, sogar Grundstücke und Wohnungen an ihre eigene Wohnungsgesellschaft verkauft. Tatsächlich zieht die reiche Stadt auf diese Weise aber sogar die Mieter zur Konsolidierung ihres Haushalts heran, statt sie zu unterstützen, wie Ursel Beck von den Mieterinitiativen moniert.

Bürgerbegehren macht der Stadt Druck

Deshalb gibt es den "Mietentscheid": ein Bürgerbegehren, initiiert nach einer Demo im Frühjahr vom Aktionsbündnis Recht auf Wohnen. Susanne Bödecker, Britta Mösinger und Paul von Pokrzywnicki, der unter anderem beim Mietersyndikat in Tübingen Projektberatungen macht, sind in die Kontext-Redaktion gekommen, um über das Anliegen Auskunft zu geben.

Das Bündnis stellt sechs Forderungen: Die Stadt soll keine Wohnungen und Grundstücke mehr verkaufen. Sie soll ihren eigenen Wohnungsbestand verdoppeln. Die SWSG soll zu 100 Prozent geförderten Wohnraum anbieten. In allen städtischen Wohnungen soll die Kaltmiete auf fünf Euro begrenzt werden. Für ungenutzte Grundstücke soll die Stadt, bei Strafe der Enteignung, ein Baugebot erlassen. Und sie soll zur Verhinderung von Leerstand und Zweckentfremdung elf zusätzliche Planstellen schaffen.

Die Forderungen sind von einem Anwalt geprüft worden. Dass in Stuttgart bisher noch jedes Bürgerbegehren aus rechtlichen Gründen abgelehnt wurde, steht auf einem anderen Blatt. Doch selbst wenn dies erneut der Fall sein sollte: Das Bündnis will vor der Bürgermeisterwahl am 8. November 2020 den Druck erhöhen. Schließlich machen sich laut einer repräsentativen Umfrage 73 Prozent der Befragten Sorgen um "zu hohe Mieten". Und Stuttgart ist mittlerweile die teuerste Stadt in ganz Deutschland.

Wohnungsnot im ganzen Land

Wohnen ist mehr als ein Dach überm Kopf. Es ist ein Menschenrecht – oft nur auf dem Papier. MieterInnen werden ausgepresst. Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht.

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2 Kommentare verfügbar

  • Wollo
    am 02.12.2019
    Antworten
    Es ist erschreckend. Wir sind hier in Freiburg und erleben mit unserer Genossenschaft genau das gleiche. Als ich den Artikel gelesen habe fand ich so viele parallelen.
    Die Satzung unserer Genossenschaft, die es verhindert dass wir als Genossen die Geschäftspolitik mitbestimmen, die Art und Weise,…
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