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S 21: Volles Rohr

S 21: Volles Rohr
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Immer mehr Häuser im Stuttgarter Kernerviertel bröseln. Schuld sind Tunnel, die die Deutsche Bahn unter dem Stadtteil für Stuttgart 21 bohren lässt und Zement, der in den Untergrund gespritzt wurde. Jüngst ist ein Abwasserrohr geplatzt und ein Hof abgesunken.

Man muss sich Stuttgart vorstellen als eine Stadt, die einmal in eine Senke hineingebaut worden ist. Das Zentrum liegt am tiefsten Punkt, drum herum rahmen Hügel und Berge die Stadt ein. Der große Graben, das Loch, in dem gerade der neue Hauptbahnhof entsteht, liegt unten in der Stadt. Südlich davon sind die alten Mehrfamilienhäuser des Kernerviertels den Hang hinauf gebaut. Viele davon sind ausgesprochen hübsch, Gründerzeit, ausgehendes 19. Jahrhundert.

Das Kernerviertel ist der neuralgische Punkt für Stuttgart 21. Die Dichte der nachhaltigen Stuttgart 21-Gegner ist in diesem Stadtteil vergleichsweise hoch, die Tiefe, in der die Bahn ihre Tunnel vom Stadtrand in Richtung Bahnhof bohrt, dafür gering. Schlappe acht Meter sind es beispielsweise von der Tunneloberseite bis zum Kellerboden der Urbanstraße 49, in deren Hinterhof mittlerweile ein großes Loch im Asphalt klafft. Acht Meter, das ist nicht viel.

Bis Ende 2015 schienen die beiden zweigleisigen Tunnelröhren, die unter der Urbanstraße und dem Kernerviertel gebohrt werden, für die Ingenieure der Bahn kein Problem zu sein. Zwar senkt sich beim Tunnelbohren generell der Untergrund ab, auf dem die Häuser obendrüber stehen –"bei einem Abstand von 20 bis 45 Metern zur Tunneldecke", zitiert die Stuttgarter Zeitung 2016 aus einem Gutachten des Ingenieurbüros, das die Bahn berät, etwa "vier bis fünf Zentimeter". Das aber sei in Stuttgart durchaus beherrschbar. Also kein Problem.

Ein paar Monate später, im Dezember, klang das schon anders. Da eröffnete die Bahn den Bewohnern des Kernerviertels, dass einige der dortigen Immobilien ein bisschen angelupft werden sollen. Das Verfahren nennt sich Hebungsinjektion und war 2005 schon mal in der Baugenehmigung für Stuttgart 21 vermerkt gewesen, allerdings nur für ein paar Gebäude. In fächerförmiger Anordnung werden tausende perforierter Rohre unter den Häusern verlegt. Durch die kleinen Löcher in den Rohren wird Beton in den Untergrund gedrückt. Dadurch hebt sich das Areal und soll stabilisiert werden. Wenn sich der Boden wegen des Tunnelbaus absenkt, soll durch einmal anheben und dann wieder absacken bestenfalls das Ursprungs-Niveau erreicht sein. Ganz normales Verfahren, sagte die Bahn.

Pudding lässt sich schlecht anheben

Frank Schweizer vom Netzwerk Kernerviertel, einem sublokalen Zusammenschluss von Stuttgart 21-KritikerInnen, sieht das naturgemäß anders. Der Untergrund sei porös, ausgelaugter und verwitterter Anhydrit mit Löchern und Mulden. In die laufe der Injektions-Zement dann eben auch rein. "Das ist ja nicht so, als würden sie ein Backblech anheben", sagt er. "Stellen Sie sich vor, Sie müssten einen Pudding anheben."

Zunächst ging es nur um acht anzuhebende Immobilien. Wenig später waren es schon zwanzig Gebäude, die mit Hebung wie Stabilisierung beglückt werden sollten. Auf keinen Fall aber, weil sich da ein Problem anbahnte, nein, die Technik für solcherlei Hebungsinjektionen sei weiterentwickelt worden und könne nun größere Flächen anheben, ließ die Bahn verlauten. Na Gott sei dank, kein Grund zur Sorge.

Das erste Gebäude, das Schaden nahm, war die Kernerstraße 30. Dort tauchten im Februar dieses Jahres plötzlich Risse in der Fassade auf. Das Nebenhaus, die Schützenstraße 14, sollte eigentlich per Beton-Injektion angehoben werden. Dabei ging der Bahn aber das Detail verloren, dass das Haus Kernerstraße 30 mit einem etwa drei Meter breiten Zwischenbau direkt mit dem Haus Schützenstraße 14 verbunden ist. Die Schäden an diesem Zwischenbau sind mittlerweile so groß, dass der Gebäudeteil abgerissen wird – Einsturzgefahr. Laut Bahn sei zwar die Tunnel-Bohrerei tatsächlich schuld an der Rissbildung. Die Ursache allerdings liege in den Gebäuden selbst, denn die seien nach der Zerstörung im zweiten Weltkrieg "nicht fachgerecht" wieder aufgebaut worden. Die Rissbildung: ein Einzelfall.

Risse und Alpträume im Kernerviertel

Gegenüber der Kernerstraße 30 liegt die Kernerstraße 47. Unter diesem Haus wird kein Tunnel gebohrt, es wird auch nicht angehoben und stabilisiert, es scheint sozusagen auf sicherem Terrain. Dieses allerdings hat an den Ecken des Gebäudes jeweils ungleich nachgegeben: Auf der einen Seite ist es zwei Zentimeter abgesunken, auf der anderen 6,4. Im Flur klaffen breite Risse, ebenfalls in den einzelnen Wohnungen. In einer davon ganz besonders, handbreit fällt der Putz von der Wand, die Risse, sie sind überall. Die Bewohnerin der Wohnung ist von Angst und Alpträumen geplagt. Nachts, im Traum, wird sie von Trümmern des eigenen Zuhauses begraben. Ursächlich für die Zerstörung sei vor allem die spezielle geologische Situation unter dem Haus, sagt die Bahn.

Auch das Gebäude Werastraße 33, ein Stück die Straße rauf, hat seit dem Frühjahr Risse in der Wand. Die Türen und Fenster lassen sich nicht mehr normal öffnen und schließen, weil sich das Haus verzogen hat.

Mitte Oktober begann es im Keller des Wohnhauses Urbanstraße 49 furchtbar nach Fäkalien zu stinken. Der Keller war feucht, außen im Hof hat sich der Asphalt abgesenkt – sichtbar an Rissen an den Hofrändern, in den Ecken, in den Kanten zu den Häusern 49A und 49. Handwerker haben nun einen Schacht gegraben und das Abwasserrohr gereinigt. Soweit es ging, denn die Rohrreinigungsspirale steckte nach zehn Metern fest. Befund: Zement im Rohr. Hebungsinjektionen sind ins Rohr anstatt in den Untergrund gelaufen. Die Bahn sieht sich "für die von uns verursachten Schäden (...) schon immer und auch weiterhin absolut in der Pflicht." Das ist erfreulich.

Schräg gegenüber der Urbanstraße 49 ist der Hof der Urbanstraße 64 mit quadratischen Betonplatten ausgelegt. Normalerweise sind sie ebenerdig, mittlerweile wölben sie sich nach oben wie kleine Zeltstädte für Mäuse. "Verformungen durch den Tunnelbau hatten zu Spannungen im Plattenbelag des Innenhofs geführt", schreibt ein Sprecher der Bahn zur Erklärung. Die Bahn hat auch einen Zettel an die Haustüre geklebt: "Um schnellstmöglich einen verkehrssicheren Zustand herstellen zu können, hat sich die DB Projekt Stuttgart-Ulm GmbH entschlossen, vorerst provisorische Maßnahmen einzuleiten". Dann ist es ja gut.

Gebäude verhalten sich planmäßig, sagt die Bahn

Über dem Durchgang vom Hof zur Straße und zwischen den Häuser 62 und 64 ist ein Übergang von einem Haus zum nächsten gebaut. Auch diese Fassade zieren feine Risse. Dort sei es "erwartbar zu Bewegungen" gekommen, schreibt die Bahn, "Grund zur Sorge besteht nicht." Die Gebäude Urbanstraße 62 und 64 hätten sich "nach Abschluss der Hebungsinjektionen und des Tunnelbaus planmäßig verhalten."

Auch links der Einfahrt von Nummer 64 zieht sich ein Riss bis in die vierte Etage unters Dach. Die Bahn schickte Gutachter, erzählt der Immobilienbesitzer. Zwei Tage später habe ein Mitarbeiter angerufen und mitgeteilt: die Brandmauer zwischen Nummer 64 und Nummer 66 sei nur einfach ausgeführt, dabei müsste die doppelt gemauert sein. Baurechtlich sei quasi schon die Grundsubstanz des Hauses nicht in Ordnung.

Der Hauseigentümer sagt: "Wenn die Bahn mitten im Orkan bauen möchte, sollte man doch meinen, sie habe alle verfügbaren Informationen vor dem Baustart eingeholt". Alle Daten über den Untergrund des Viertels, die Architektur der Gebäude, die Leitungen und Rohre, die im Boden verlaufen. Damit nicht im Wochentakt an jeder Ecke ein neues Haus bröselt. Der Eigentümer bringt es auf den Punkt: "Es ist ganz schön viel, was die Bahn im Sinne des Allgemeinwohls von uns verlangt."


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19 Kommentare verfügbar

  • Die Lerche
    am 12.11.2019
    Antworten
    Alle, die sich hier über die (Nicht-)Berichterstattung der Stuttgarter Zeitungen (zu Recht) beschweren, sollten bedenken, dass hier nicht der richtige Platz für solche Klagen ist. Sie sollten sich zusammentun und auf der "Säufzerbrücke" der StZ (Leserbriefseite) ihren Unmut über die mangelhafte…
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