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Klassenkampf auf Schienen

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Die S-Bahnen sind bis zum Bersten gefüllt. Doch nicht überall: Die Wagen der 1. Klasse nutzt kaum jemand. In Hamburg entpuppte sich das als Verlustgeschäft – arm subventioniert reich. Wie sieht das in Stuttgart aus? Die Deutsche Bahn rückt lieber keine Zahlen raus.

Gerade in den Morgenstunden kann es kuschlig werden in den Stuttgarter S-Bahnen. Nach einer Umfrage des Verkehrs- und Tarifverbunds Stuttgart (VVS) empfinden es Fahrgäste als unangenehm, wenn in Langzügen mit drei Waggons mehr als 138 Menschen stehen müssen. Doch jeden Tag gibt es laut Statistik 14 Zugfahrten in der Landeshauptstadt, bei der etwa 280 Personen keinen Sitzplatz finden. Dann wird's eng.

Doch ab wann ist ein voller Zug zu voll? Hierfür gebe es "unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe", wie es in einer Vorlage für den Verkehrsausschuss der Stuttgarter Regionalversammlung heißt. Dort wurde am 17. Juli darüber debattiert, wie die S-Bahn-Fahrzeuge in der Metropolregion rund um die Landeshauptstadt bis 2027 "redesignt" werden sollen. Gemessen an der Zahl der Sitzplätze, teilt die Verwaltung mit, ist nach den Angaben des Herstellers Bombardier eine Auslastungsquote von bis zu 268 Prozent zumutbar – heißt also, dass auf jeden Sitzenden fast zwei Leute stehen können sollen.

Die Fahrgäste selbst sehen das ein wenig anders. Für sie ist bereits eine kritische Grenze überschritten, wenn diese Quote 125 Prozent übersteigt. Das ist in Stuttgart, insbesondere im Berufsverkehr der Morgenstunden, regelmäßig der Fall, und der Stehplatzanteil stieg 2018 im Vergleich zum Vorjahr: Viele Züge sind bis zum Bersten gefüllt.

Allerdings nicht überall.

Selbst zwischen 7 und 8 Uhr, der Stunde mit dem höchsten Fahrgastaufkommen, wird in der 1. Klasse der S-Bahnen nur jeder Dritte Sitzplatz genutzt. Über den Tag verteilt sinkt die Auslastungsquote auf zehn Prozent. In manchen Regionen wird das Angebot so gut wie gar nicht nachgefragt. Auf den vier Stationen von Backnang nach Marbach etwa verkehren an einem durchschnittlichen Werktag nur fünf bis sieben Personen erstklassig. Nicht pro Zugfahrt, sondern insgesamt.

So überflüssig wie der Adel?

Angesichts dieser Zahlen hält Christoph Ozasek von der Linken für "schwierig vermittelbar", wenn die 1. Klasse in den Stuttgarter S-Bahnen auch bei hohem Fahrgastaufkommen völlig oder weitestgehend leer bleibt. Er will sie daher abschaffen. Die Kapazitätszuwächse wären überschaubar, räumt Ozasek ein – pro Langzug geht es um 48 Sitzplätze. "Aber anstatt in der Rushhour Luft zu transportieren, ist es doch besser, sie Menschen zur Verfügung zu stellen." Bei der SPD sieht man das ähnlich: "So wenig wie eine Gesellschaft den Adel braucht, braucht die S-Bahn eine Tarifaristrokratie", zitierten die StZN den Ditzinger Oberbürgermeister Michael Makurath Ende Mai. Die Mehrheit der Regionalversammlung kam am 17. Juli jedoch zu einem anderen Urteil: Mit Stimmen von CDU, FDP, Freien Wählern und Grünen entschied sich der Verkehrsausschuss dafür, die Klassentrennung beizubehalten.

Einerseits, erläuterte Bernhard Maier von den Freien Wählern, sei das Reisen in der 2. Klasse häufig "kein Vergnügen". Wer bereit sei, für mehr Komfort draufzuzahlen, dem wolle man diese Möglichkeit nicht nehmen. Eva Mannhardt von den Grünen sieht zudem "keinen vernünftigen Grund", die erste 1. Klasse abzuschaffen und auf die zusätzlichen Einnahmen zu verzichten, welche die 1. Klasse erwirtschaftet. Diese beziffert die Verwaltung der RV mit etwa 0,5 Millionen Euro im Jahr. Was keinen gewaltigen Brocken darstellt, sondern laut Vorlage vielmehr die "insgesamt eher verhaltene Nutzung der 1. Klasse bestätigt".

Hinzu kommt: Ertrag ist nicht mit Gewinn gleichzusetzen. Und daher ist durchaus fraglich, ob der Betrieb einer 1. Klasse in den Stuttgarter S-Bahnen überhaupt rentabel ist. In Hamburg nämlich handelte es sich um ein Verlustgeschäft: "Die deutlich unterfrequentierten 1.-Klasse-Mittelwagen der Züge", berichtete die "Welt" schon 2010, "machten sich für die S-Bahn GmbH schmerzlich-defizitär bemerkbar." Der hanseatische Senat entschied daher, dem ein Ende zu setzen: nur noch eine Klasse.

Darauf nimmt auch der regelmäßig mit der Bahn reisende Journalist Bernd Kramer in einem Kommentar auf "Spiegel Online" Bezug. Er sprach sich im Oktober 2016 generell für eine Abschaffung der 1. Klasse bei der Deutschen Bahn aus, weil er die soziale Trennung für einen Anachronismus hält. Besonders ärgern ihn solche S-Bahnen und Regionalzüge, in denen "nur noch die Farbe der Sitzbezüge die erste und zweite Klasse trennen – und eine Glastür zwischen den Wagen". Eine Beschreibung, die auch auf Stuttgart zutrifft. "Ökonomisch geht das nicht immer auf", schreibt Kramer: "Im Zweifel subventionierten hier die Fahrgäste in der zweiten Klasse mit ihren Tickets die vielen freien Plätze in der ersten."

Nur, ist das auf Stuttgart übertragbar? Wie kommt die Bahn dazu, im Verkehrsausschuss von einem "Mehrertrag von mehr als 500 000 Euro" zu sprechen, die sie mit der 1. Klasse erziele? Ein Mehrertrag im Vergleich zu was? Gibt es eine Berechnung, die sich dem theoretischen Szenario einer klassenlosen S-Bahn widmet und zu dem Befund kommt, dass potenzielle Kundenzuwächse durch freigewordene Kapazitäten zu normalen Tarifen den Einnahmenverlust nicht kompensieren könnten? Wie hoch ist der erwirtschaftete Gewinn?

Ein Sprecher der S-Bahn Stuttgart, angesiedelt bei der Deutschen Bahn, erklärt auf Anfrage von Kontext: "Wir können dazu keine Zahlen mitteilen." Er bekennt sich aber zu einer "breiten Produktpalette", die sie im Nahverkehr anbieten und verweist auf Menschen, die auf dem Weg zur Arbeit ihre Ruhe wollen. Also noch einmal konkret gefragt: Ist der Betrieb der 1. Klasse defizitär? "Dazu äußern wir uns nicht."

Solidarität mit den Erstklässlern

Deshalb nachgehakt bei der S-Bahn in Hamburg. Dort heißt es, es lasse sich nur schwer ein Vergleich zur Landeshauptstadt ziehen: "Die regionalen Rahmenbedingungen der Systeme in Hamburg, Stuttgart beziehungsweise anderen Städten sind dafür zu verschieden." Der Verkehrs- und Tarifverbunds Stuttgart betont gegenüber Kontext: "Von einer Subventionierung der 1. Klasse kann nicht die Rede sein. Es ist zu sehen, dass der Nahverkehr insgesamt defizitär ist." Zahlen werden hier aber auch keine genannt.

In jedem Fall bleibt offen, ob sich die Umsätze durch klassenlose Waggons nicht verbessern lassen könnten. Denn wenn die durchschnittliche Auslastung der 1. Klasse in Stuttgart nur bei zehn Prozent liegt und die Tickets etwa 50 Prozent teurer sind, würden die ausfallenden Einnahmen bereits ab einer geringfügigen Steigerung der Nachfrage kompensiert werden.

Die grüne Verkehrsexpertin Eva Mannhardt geht allerdings davon aus, dass mehr Sitzplätze in der zweiten Klasse gar nicht zu mehr Fahrgästen führen würden. In der Verwaltungsvorlage zur Regionalversammlung heißt es zwar: "Ein wesentliches Element, um den starken Nachfragespitzen zu begegnen, ist eine Erweiterung von Kapazitäten." Doch Mannhardt entgegnet auf Anfrage: "Zeigen Sie mir nur einen Autofahrer, der nach Abschaffung der 1. Klasse mit der S-Bahn fahren würde." Für sie wäre es sogar irrelevant, wenn die Reisenden zweiter Klasse die der ersten subventionieren würden. "Denn letztlich wird der Nahverkehr ja gemeinschaftlich-solidarisch finanziert." Und daher will sie nicht zwischen verschiedenen Gruppen von Fahrgästen unterscheiden.


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11 Kommentare verfügbar

  • Markus
    am 25.07.2019
    Antworten
    Zitat in dem Artikel : "Die S-Bahnen sind bis zum Bersten gefüllt. Doch nicht überall: Die Wagen der 1. Klasse nutzt kaum jemand. In Hamburg entpuppte sich das als Verlustgeschäft – arm subventioniert reich."

    Das ist definitiv nicht so!

    In Hamburg würde in den S-Bahnen S1, S2, S3, S11, S21,…
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