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Fly me a River

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Die Welt ist buchstäblich am Brennen. Doch im schönen Baden-Württemberg, unbehelligt von Taifunen, Tsunamis und Gletscherschmelzen, freuen sich die regierenden Grünen über mehr Flugverkehr im Ländle und fliegen auch selbst immer mehr. Ein Meinungsbeitrag.

Stell Dir vor, die Arktis brennt. Nicht so ein bisschen. Ein Mega-Katastrophen-Brand. Der wahrscheinlich größte in der Menschheitsgeschichte. Das Klima eskaliert härter als turbobesoffene Trachtenträger auf dem Oktoberfest-Kotzhügel. Und eine Partei, die sich die Grünen nennt, freut sich über mehr Flugverkehr im Ländle. Immer neue Passagierrekorde, krass.

Klingt wie der bizarre Fiebertraum eines übereifrigen Absurdisten? Dann schlag mal die Zeitung auf, du Olm!

FUCK, die Arktis brennt ja wirklich. Okay, das tut sie eigentlich recht oft. Aber: So schlimm wie jetzt war es noch nie. Und es ist ein dramatisches Bild, das besser zieht als staubtrockene Schilderungen abstrakter Bedrohungslagen. Ein weniger anschauliches, aber viel beunruhigenderes Beispiel: Der kanadische Permafrost schmilzt, und das viel früher als befürchtet. "An allen untersuchten Stellen", informiert das Geophysikalische Instituts in Fairbanks, Alaska, "traf oder übertraf die maximale Auftautiefe seit 2003 die in einem Szenario des UN-Weltklimarats IPCC für 2090 prognostizierten Werte."

Dem Klimaschwindel auf die Schliche gekommen

Einige ausgefuchste Zeitgenossen meinen, hier einen großangelegten Betrug zu durchschauen, und wollen den menschengemachten Klimawandel als geschickte Marketingmaßnahme einer einflussreichen Ökolobby entlarvt haben: In sinistrer Komplizenschaft mit zigtausenden renommierten Wissenschaftlern, die ihren guten Ruf auch nur ihrer Linientreue zu verdanken haben, macht eine grüne Industrie mit dieser apokalyptischen Panikmache das Geschäft ihres Lebens.

Nur: Seit wann genau haben Photovoltaik-Befürworter und Gezeitenkraft-Aktivisten einen größeren Einfluss auf Industrie und Politik als die Kohle- und Atomkraftlobby? Seit wann finanzieren Öl-Giganten wie Exxon eigentlich milliardenschwere Verleumdungskampagnen gegen fossile Energieträger – und nicht mehr gegen Wissenschaftler, die ihre Profite schmälern könnten? Und wann wurde nochmal der letzte Angriffskrieg ausgefochten, um sich den Zugriff auf ein besonders windhöffiges Gebiet zu sichern?

Während also besonders helle Leuchten angesichts einer vermeintlich interessengeleiteten Klimahysterie vor überstürzten und irrationalen Schnellschüssen warnen, ist vielmehr das Gegenteil der Fall: Über eine Katastrophe, die sich in kürzer werdenden Intervallen immer drastischer verschärft, wird eher zu verharmlosend berichtet. So bezeichnet etwa das ZDF schon die Ankündigung (!) von Regierungssprecher Steffen Seibert, eine "rechtlich verbindliche Umsetzung" der eigenen Klimaschutzziele vorzubereiten (!), als "höchst ambitioniert". Sieben von 15 Ministern im Kabinett seien dafür (also eine Minderheit). Die Gretchenfrage sei nicht, ob man CO2 einsparen wolle – sondern wie: "Denn dass der Industriestandort Deutschland, das Wirtschaftswachstum also, darunter leidet, will niemand."

Pessimismus ist noch zu optimistisch

Niemand – unter keinen Bedingungen? Das ist sinnbildlich für eine verheerende Mentalität: Klimaschutz befürwortet man ja schon irgendwie, aber Einschränkungen will man nicht hinnehmen. Die Mobilitätswende soll bitte kommen, aber nichts kosten. Flugverkehr ist krass umweltschädlich, aber Kerosin bleibt steuerfrei. Verzicht ist notwendig, muss aber freiwillig sein. Kohlekraft hat keine Zukunft, außer eben die nächsten paar Jahre noch. Ach, und diese Jugend: Früher wollte ich ja auch mal die Welt retten! Aber zu utopistisch sollte es halt nicht werden. Und überhaupt: Irgendwie wird man das mit der Umwelt ja wohl in den Griff kriegen. Hat ja beim Waldsterben und sauren Regen auch geklappt.

Dass die Klimakrise sich von diesen Beispielen fundamental unterscheidet, wird größtenteils verkannt. Hier geht es nicht darum, dass ein bisschen Natur verschandelt wird – der Zusammenbruch der Zivilisation oder sogar die Selbstausrottung unserer Spezies sind, wissenschaftlich untermauert, realistische Szenarien. Da ist es nur schwer zu vermitteln, dass das Wirtschaftswachstum und der Industriestandort Deutschland Vorrang haben sollen. Unter diesen Bedingungen werden plötzlich auch Einbußen bei Produktivität und Wertschöpfung zu vergleichsweise kleinen Übeln, und auch das Extremszenario eines kollabierenden Finanzsystems erscheint auf einmal als relativ attraktive Option, wenn die Alternative das Ableben der Menschheit ist.

Nun konnte man sich eine Zeitlang damit beruhigen, dass die Möglichkeit einer Selbstvernichtung zwar von der Wissenschaft bejaht wird – die tatsächliche Eintrittswahrscheinlichkeit jedoch als gering gilt. Problem: "Neueste Forschungen der Klimawissenschaft bestätigen eine deprimierende Tendenz bei der Erforschung des Treibhauseffektes", berichtet der Journalist Tomasz Konicz auf "Telepolis". "Es kommt immer schlimmer als befürchtet." Das schrieb er allerdings bereits im Juni 2018, als empirische Daten erneut Hinweise darauf lieferten, dass es sich bei den sehr pessimistischen Langzeitprognosen um die realistischeren handelt. Wobei auch diese oft noch zu hoffnungsvoll sind: Mit dem Schmelzen des Permafrosts in Kanada hätten Forscher erst in 70 Jahren gerechnet. Uff. Das war eine der kritischen Schwellen, die besser nicht hätte überschritten werden sollen, um eine folgenschwere Kettenreaktion zu vermeiden.

Claus Kleber ist beunruhigt, Olaf Scholz nicht

Angesichts dieser "enormen Beschleuningung", sagte der für gewöhnlich gefasst auftretende ZDF-Moderator Claus Kleber am 4. Juli im "heute journal" mit etwas brüchiger Stimme, "ist mir beim Durcharbeiten des Materials zu diesem Bericht wirklich flau geworden". Die NASA hält einen Anstieg des Meeresspiegels um mindestens einen Meter (schlecht für Hamburg) schon seit 2015 für nicht mehr vermeidbar – selbst unter Idealbedingungen.

Bis in die regierende Politik haben sich diese dramatischen Erkenntnisse offenbar noch nicht herumgesprochen. Wie gesagt: Nur sieben von 15 Ministern der Bundesregierung befürworten es aktuell, die eigenen Klimaschutzziele – die allerhöchstens ein super zaghaftes Minimalprogramm darstellen – auch verbindlich und damit einklagbar zu machen. Sozialdemokrat Olaf Scholz hat als Herr der Bundesfinanzen kein Geld übrig für energetische Gebäudesanierungen, stellt aber ein bisschen was für Klimastrafen der EU zurück: Weil er offenbar davon ausgeht, dass es mit dem CO2-Sparen nicht so recht klappen wird, sind in den Jahren 2020 bis 2022 bereits 300 Millionen Euro für fällig werdende Strafzahlungen eingeplant.

In der Opposition radikal, beim Regieren eher nicht

Viele hoffen aktuell auf die Grünen. Die anhaltend hohen Umfragewerte dürften auch damit zusammenhängen, dass viele Menschen das Bedürfnis nach einer intakten Umwelt verspüren, die möglichst bewohnbar an nachfolgende Generationen übergeben werden kann. Grund zur Sorge liefert da jedoch die konkrete Regierungspolitik, insbesondere in Baden-Württemberg, dem grünsten aller Bundesländer. "Auch wir werden unser Klimaschutzziel verfehlen", kündigte Umweltminister Franz Untersteller (Grüne) schon im September 2017 im Interview mit Kontext an, auch weil viele Probleme gar nicht auf Landesebene lösbar seien.

Andere aber schon. Arbeiten ließe sich etwa am Individualverhalten einer Landesverwaltung, die immer häufiger per Flugzeug reist. 2013 waren es noch 72,6 Millionen Flugkilometer, fünf Jahre später schon 120,5 Millionen, berichtet die "Heilbronner Stimme". Das geißelt nun ausgerechnet der konservative Juniorpartner in der Koaltion. Die Landtags-CDU trägt das grüne Verkehrsministerium zum Jagen und regt an, öfter mal Bahn zu fahren: die Verwaltung müsse schon 2022 und nicht erst 2040 klimaneutral sein.

Im Bundestag wollen die Grünen nun eine Kerosinsteuer und Inlandsflüge bis 2035 "weitestgehend obsolet machen", wie es in einem Papier heißt, das der "Süddeutschen Zeitung" vorliegt. Ihre klimapolitische Sprecherin Lisa Badum fordert sogar schon länger ein generelles Verbot ab 2038.

Ob diese Vorschläge mit den Kollegen auf Landesebene abgesprochen sind? In Hamburg etwa, wo die Grünen zusammen mit der SPD regieren, lehnten sie erst vor wenigen Wochen einen Antrag ab, sich auf verbindliche Klimaziele beim Flugverkehr zu einigen – ohne Diskussion. "Nicht einmal eine Überweisung in den zuständigen Fachausschuss zur weiteren Debatte wurde zugelassen", berichtet die taz.

Auch in Baden-Württemberg scheint die Ökopartei die Vorzüge des Flugverkehrs nicht missen zu wollen. Hier überwiegt die Freude über immer mehr Passagiere am Stuttgarter Flughafen: Bis 2030 soll die Zahl der Reisegäste von aktuell zwölf auf 17 Millionen pro Jahr steigen. Eine "Prognose, die sich aus der Nachfrage ergebe", wie Stuttgarts Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) und Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) offenbar gleichlautend auf Nachfrage der "Stuttgarter Zeitung" mitteilen. Der Airport sei sogar "rechtlich verpflichtet", dieser Nachfrage gerecht zu werden, "die Fluggesellschaften hätten darauf einen entsprechenden Anspruch."

Dass die beiden daran etwas ändern wollen würden, ist nicht überliefert. Im Gegenteil: Der Flughafen sei für den Wirtschaftsstandort Stuttgart "nicht wegzudenken", heißt es von der Stadt, und das Verkehrsministerium appelliert an die Eigenverantwortung der Konsumenten. Die könnten ja freiwillig auf "billige Einkaufsflüge" verzichten. Na und das hat ja – bekanntermaßen – ganz wunderbar geklappt bisher. 

Demo-Bußgeld teurer als ein Billigflug

Landesvater Winfried Kretschmann (Grüne), der beliebteste Regierungschef der Republik, sagte Anfang April über die Fridays-for-Future-Streiks, es wäre zwar in Ordnung, einmal zu schwänzen. Das falle noch unter zivilen Ungehorsam. Aber: "Das kann keine Dauerveranstaltung sein." Und wer Regeln verletzt, gehört bestraft: "Wenn man dann sanktioniert wird, darf man nicht jammern."

Vergangene Woche wäre es beinahe so weit gekommen. Erstmals in Deutschland sollte an einer Mannheimer Schule ein Bußgeld gegen dem Unterricht ferngebliebene Demonstranten verhängt werden. 88,50 Euro wollten das CDU-geführte Regierungspräsidium Karlsruhe und die Geschwister-Scholl-Schule für zwei Fehlstunden berechnen – dafür könnte man im Sparangebot der Economy-Class auch von Stuttgart nach London fliegen. Als die Demo-Bußgelder für öffentliche Empörung sorgten, entschied sich die Mannheimer Stadtverwaltung, sie nach "intensiver Prüfung" zurückzunehmen

Während Kretschmann betont, die Schwänzerei könne "nicht ewig so weitergehen", ist die Aussage der Klima-Aktivisten eigentlich ziemlich unmissverständlich: Unter dem Motto "Wir streiken, bis ihr handelt" sind am kommenden Freitag, pünktlich zum Ferienstart, Protestaktionen am Stuttgarter Flughafen geplant. 


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8 Kommentare verfügbar

  • Real Ist
    am 27.07.2019
    Antworten
    Lieber Herr Gscheidle,

    Es wäre sehr unredlich, wenn ich behaupten würde, dass ich die Quellenangaben vergessen hätte, nein, in Wirklichkeit habe ich aus Faulheitsgründen darauf verzichtet.

    Da im gesamten Forum warscheinlich niemand meiner Meinung ist, würde auch keiner die Quellen anklicken…
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