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Freie Fahrt den Radlern

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Es geht, wenn man nur will: Der Gemeinderat will Stuttgart zu einer fahrradfreundlichen Stadt machen. Das ist eine Zeitenwende und ein Erfolg der Radinitiative, die eine Mehrheit der Stadträte gewinnen konnte. Dies zur Kenntnis des grünen Oberbürgermeisters.

Breite, durchgängige Wege, nur für Radfahrer reserviert, verbinden alle Stadtteile, wenigstens im Talkessel und im Neckartal. Sämtliche Kreuzungen sind so eingerichtet, dass Radler von anderen Verkehrsteilnehmern nichts zu befürchten haben und auf den Hauptrouten möglichst wenig anhalten müssen. Eltern können ihre Jüngsten vom ersten Schuljahr an ohne Bedenken allein zur Schule radeln lassen. Rentner kämen gar nicht auf die Idee, ein Auto zu benützen, sondern steigen lieber in die Pedale und halten sich fit.

So könnte eine fahrradfreundliche Stadt aussehen. Aber Stuttgart sieht im Moment ganz und gar nicht so aus. Viele können sich gar nicht vorstellen, dass so etwas überhaupt möglich sein soll. Sie müssten mal in die Niederlande oder nach Kopenhagen fahren.

"Auf den Erfahrungen von Städten wie Kopenhagen oder Den Haag aufbauend", heißt es nun in einem Antrag, den Grüne, SPD, SÖS Linke Plus und Stadtisten letzte Woche in den Gemeinderat eingebracht haben, "wollen wir eine Radinfrastruktur schaffen, die für alle von 8 bis 80 Jahren – für Eltern mit Kindern im Anhänger, aber auch für Kinder unter 8 Jahren, die auf dem Gehweg radeln, oder für Senior*innen auf E-Dreirädern – bequem und nicht nur sicher ist, sondern auch das Gefühl von Sicherheit vermittelt."

Ein Paradigmenwechsel?

Damit gehen sie über die Vorlage von Oberbürgermeister Fritz Kuhn (Grüne) hinaus, die sich auch so lesen lässt, dass die Stadt weiter machen soll wie bisher. Denn das Ziel, Stuttgart zu einer Fahrradstadt zu machen und den Radverkehrsanteil zu erhöhen, verfolgt die Stadt schon von sich aus. Mit gebremstem Eifer. "Wir unterstützen den Beschlussantrag der Verwaltung", schreiben die vier Fraktionen in ihrem Antrag, "wollen aber einige Punkte konkretisieren."

Sie haben fleißig gearbeitet und 18 Punkte aufgelistet, die zum Teil sehr viel deutlicher werden als der Zielbeschluss des OB. Der Ausbau der Radinfrastruktur wird den "Qualitätsstandards im Sinne der Ziele des Radentscheids angepasst", heißt es. Es gibt konkrete Angaben zum Etat und zu den benötigten Stellenanteilen in den Ämtern. "In allen Stadtvierteln wird auf Nebenstraßen mindestens eine Fahrradstraße ausgewiesen und auf ihr der Kfz-Durchgangsverkehr wirkungsvoll unterbunden", steht in dem Antrag. Und: "Auf allen großen Kreuzungen wird zügig eine sichere und einladende Radinfrastruktur angelegt, die geeignet ist, Radfahrende und zu Fuß Gehende vor Abbiegeunfällen zu schützen."

Und das Beste: Der Antrag wurde mit der Mehrheit der vier Fraktionen angenommen. Das ist eine Zeitenwende. Wer jahrzehntelang auf Stuttgarts Straßen mit dem Fahrrad unterwegs war und sich notgedrungen daran gewöhnt hat, Kreuzungen auf dem Fußgängerüberweg schiebend zu überqueren, von rüpelhaften oder unsicheren Autofahrern in Bedrängnis gebracht zu werden oder schlicht zwischen Hauptverkehrsstraße und schmalem Gehweg wählen zu müssen, reibt sich die Augen.

Nun bedeutet dieser Beschluss nicht, dass es schon so weit ist. Kuhn strebt schon länger einen Radverkehrsanteil von 20 Prozent an. Jetzt sollen es 25 Prozent werden – bis 2030. Derzeit gibt die Stadt laut Kuhns Vorlage jährlich 7,4 Millionen Euro für den Radverkehr aus, das sind zwölf Euro pro Einwohner. In den kommenden Haushaltsentwürfen sollen es 20 Euro pro Einwohner im Jahr werden, langfristig 40 – das wären fast 25 Millionen. Zum Vergleich: Für den Straßenbau waren im letzten Doppelhaushalt rund 125 Millionen Euro im Jahr vorgesehen, ungefähr 200 Euro pro Kopf.

Der Beschluss wirkt wie ein Befreiungsschlag

Die Initiative Radentscheid hat alles richtig gemacht. Sie hat das Gespräch mit Politik und Verwaltung gesucht, und wenige Tage bevor das Rechtsgutachten ihr Anliegen für unzulässig erklärt hat, noch viele Gemeinderäte auf ihre Seite bringen können. Das ist das Verdienst aller, die daran mitgewirkt haben: der Initiatoren; der vielen, die an Aktionen mitgewirkt, Unterschriftenlisten verteilt haben oder sonstwie aktiv beteiligt waren; und der 35 000 Bürger, die unterschrieben haben. So viele Stimmen, drei Monate vor der Kommunalwahl, sollte man tunlichst nicht ignorieren. Und ohnehin: Stuttgart hat wegen der Stickoxide, Feinstaub und dem Dieselskandal ein Schmuddelimage. Da wirkt der Beschluss wie ein Befreiungsschlag.

Wichtig ist nun vor allem die regelmäßige Überprüfung, wie es mit der Realisierung vorangeht. "Jedes Jahr wird ein Monitoring durchgeführt", so der Beschluss, "das den Stand der Umsetzung und die Akzeptanz in der Bevölkerung dokumentiert." Alle fünf Jahre soll der Modal Split, also der Anteil der Radler am Verkehrsaufkommen erhoben werden, zweimal im Jahr der Radverkehr Schwerpunktthema im Unterausschuss Mobilität sein.

Und eine nicht zu unterschätzende Maßnahme: "Nach dem Vorbild des 'Radars' von Stadtradeln wird eine Internetplattform eingerichtet, mithilfe derer störende oder gefährliche Stellen gemeldet werden können." Es ist schon interessant zu sehen, dass sich im letzten Juni nicht mehr als sieben der sechzig Gemeinderäte an der <link https: www.stadtradeln.de external-link-new-window>dreiwöchigen Kampagne "Stadtradeln" beteiligt haben. Wichtiger ist, was das ganze Jahr über passiert.

Karlsruhe, das beim Radverkehr schon viel weiter ist, hat sich im Reallabor "Go Karlsruhe" der Fußgänger angenommen, die <link http: www.imm.hs-karlsruhe.de gokarlsruhe karte external-link-new-window>auf einem interaktiven Stadtplan alle Orte eintragen können, wo es zu Problemen mit anderen Verkehrsteilnehmern kommt – oder auch wo etwas gut gelöst ist. So etwas sollte es dauerhaft geben, für alle Verkehrsteilnehmer, insbesondere für Fußgänger und Radler. Und es sollte die Arbeitsgrundlage der zuständigen Ämter sein.

Auch interkommunal geht es voran. Gerade hat der Esslinger Landrat Heinz Eininger die Machbarkeitsstudie für einen Radschnellweg von Reichenbach an der Fils bis Stuttgart vorgestellt. "Der Radschnellweg steigert die Attraktivität des Radverkehrs und eröffnet entlang des Neckars ein alternatives Angebot zu den bestehenden Verkehrsformen", so der CDU-Politiker. "Wir hoffen, gerade in Verbindung mit Elektrofahrrädern, viele Menschen zum Umstieg auf das Rad motivieren zu können."

Hier besteht in Stuttgart nun Handlungsbedarf. Denn an der Stadtgrenze bei Obertürkheim endet die Trasse. Wie die Radler am Daimlerwerk vorbei und in Stuttgart anders über den Neckar und ins Stadtzentrum kommen sollen als angehängt an die neue Bahnbrücke und auf Wegen, die sie sich mit Fußgänger teilen, bleibt offen.


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1 Kommentar verfügbar

  • Jue.So Jürgen Sojka
    am 28.02.2019
    Antworten
    Befreiend kann auch die anstehende Entscheidung des EuGH sein, da die Generalanwältin Kokott den zu ermittelnden Schadstoffwerten die Bedeutung der europarechtlichen Vorgaben für die "Saubere Luft" für Leben und Gesundheit hervorhebt.
    ***Also nicht länger Betrüger und Lügner der Autoindustrie und…
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