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Voll auf der Notbremse

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35 000 BürgerInnen setzen sich für ein fahrradfreundliches Stuttgart ein – und was passiert? Das Rathaus lehnt das Bürgerbegehren der Initiative Radentscheid ab, wie viele zuvor auch. Gleichzeitig lobt ein grüner OB die "Stadt des Fahrrads" aus.

Ein halbes Jahr lang hat die <link http: radentscheid-stuttgart.de external-link-new-window>Initiative Radentscheid Unterschriften gesammelt, um den Gemeinderat dazu zu bringen, für mehr Sicherheit im Radverkehr zu sorgen. 20 000 Stimmen wären nötig gewesen, um einen Bürgerentscheid herbeizuführen, mehr als 35 000 sind zusammen gekommen. Die Verwaltung hat bei 20 073 zu zählen aufgehört: Das notwendige Quorum war erreicht. Also zog sie die Notbremse und gab ein Rechtsgutachten in Auftrag, das nun die Ziele des Bürgerbegehrens für unzulässig erklärt. Es ist das hierzulande übliche Vorgehen, wenn direkte Demokratie erfolgreich zu werden droht.

"Erschrocken und verunsichert suchen einige Gemeindeverwaltungen Unterstützung durch Anwaltskanzleien", so beschrieb der Verwaltungsjurist Roland Geitmann, früher Professor in Kehl und Oberbürgermeister von Schramberg, die Stimmungslage in den Rathäusern, nachdem 2005 das Quorum für kommunale Bürgerbegehren von 15 auf zehn Prozent der Stimmberechtigten gesenkt worden war. Seit 2015 liegt es sogar bei sieben Prozent. Doch die Chancen auf Erfolg sind damit zumindest in Stuttgart nicht gestiegen.

Wie es anders geht, hat vor kurzem der erste Bürgerentscheid in der Geschichte der Stadt Esslingen gezeigt. Im Juni vergangenen Jahres befand der Gemeinderat, die Stadtbücherei müsse aus dem altehrwürdigen Bebenhäuser Pfleghof in einen Hinterhof-Neubau verlegt werden. Dagegen bildete sich eine Bürgerinitiative, die rund 12 000 Stimmen sammelte, mit tatkräftiger Unterstützung des SPD-Matadors Wolfgang Drexler. 4876 wären für einen Bürgerentscheid nötig gewesen. Das Votum ist eindeutig: 15 000 Wähler stimmten für den alten Standort, drei Viertel der abgegebenen Stimmen. Der Gemeinderat ist an die Entscheidung gebunden.

In Stuttgart ist Begehren lästig

In Stuttgart gab es so etwas noch nie. 1971 wollte der Gemeinderat das Neckarstadion bis zum Deutschen Turnfest 1973 ausbauen und suchte einen schnellen Beschluss. Gegen den Umbau war eine Initiative, die aber nicht die notwendige Stimmenzahl erreichte – es blieb bei der Gemeinderats-Entscheidung. 1984 startete die SPD eine Unterschriftenaktion für ein atomwaffenfreies Stuttgart. Die notwendigen 24 000 Stimmen wurden erreicht, doch das Begehren wurde für unzulässig erklärt. Begründung: keine wichtige Gemeindeangelegenheit. 13 000 Unterschriften trug die Initiative "Leben in Stuttgart" bereits 1996 zusammen, um einen Bürgerentscheid über Stuttgart 21 herbeizuführen. Die Antwort des Gemeinderats: nicht zulässig. Die vier Bürgerbegehren gegen das Projekt erreichten jedes Mal die erforderliche Stimmenzahl – beim ersten Mal 2007 mehr als 60 000. Doch jedes Mal schmetterte der Gemeinderat das Anliegen ab.

Erfolgreicher war 2010 die Initiative 100-Wasser. Es kam zwar nicht zu einem Bürgerentscheid, doch der Gemeinderat machte sich das Anliegen einer Rekommunalisierung der Wasserversorgung zu eigen. Einen weitergehenden Versuch, auch über die Energieversorgung einen Bürgerentscheid herbeizuführen, erklärte dagegen der damalige Oberbürgermeister Wolfgang Schuster (CDU) kurzerhand für unzulässig.

82 Seiten lang ist nun das <link https: www.stuttgart.de img mdb item external-link-new-window>Rechtsgutachten der Kanzlei Dolde Mayen und Partner zum Radentscheid. Die Juristen haben ganze Arbeit geleistet, kaum etwas hat in ihren Augen Bestand. Zunächst lautete die Eingangsfrage des Bürgerbegehrens: "Sind Sie dafür, dass die Stadt Stuttgart die folgenden 11 verkehrspolitischen Ziele umsetzt, soweit sie in den Wirkungskreis des Gemeinderats fallen und der Gemeinderat zuständig ist?" Die Kanzlei kommt nach neun Seiten Paragraphendreherei zum Ergebnis: "Die Fragestellung ist wegen des einschränkenden Halbsatzes nicht hinreichend bestimmt. Das Bürgerbegehren ist bereits deshalb insgesamt unzulässig."

Die Verwaltung bestimmt, was sicher ist

Und so geht es weiter: Die Kanzlei wirft die Frage nach einem "Kopplungsverbot" auf, ob es also unzulässig sei, elf Forderungen in einem Begehren zu stellen. Sie befindet, einige der Forderungen seien zu unbestimmt, und sie bemüht sich, in jedem einzelnen Fall, zu beweisen, dass sie so nicht hätten gestellt werden dürfen. So lautete Ziel 4: "Mängel und Gefahrenstellen im Fuß- und Radwegnetz beseitigen." Die Kanzlei: "Gegen die Bestimmtheit dieses Ziels spricht, dass sich 'Mängel und Gefahrenstellen' nicht hinreichend bestimmen lassen."

In einem Kapitel, das nach der Rechtmäßigkeit der Ziele fragt, stellen die Gutachter neben der "objektiven Unmöglichkeit der Zielerreichung" auch noch die rechtliche und die tatsächliche Unmöglichkeit der Zielerreichung fest. Zu Ziel 5, die Stadt solle pro Jahr 31 Kreuzungen oder Einmündungen sicherer machen, bemerken die Prüfer: "Nach Einschätzung des Referats Städtebau und Umwelt der Stadt Stuttgart sind die Kreuzungen und Einmündungen schon derzeit sicher, da sie auf Grundlage geltenden Rechts und gültiger Richtlinien geplant und umgesetzt wurden." Mit anderen Worten: Die Verwaltung bestimmt, was sicher ist, nicht der Radler, der unter die Räder kommt. Etwa am Berliner Platz oder am Stöckach, am Rotebühlplatz oder im weiten Umfeld des Hauptbahnhofs.

Die Fraktion SÖS-Linke-Plus im Stuttgarter Gemeinderat fordert nun, Bürgerbegehren juristisch zu prüfen, bevor die Unterschriftensammlung beginnt. 35 000 Unterzeichner ins Messer laufen zu lassen, fördert sicher nicht das Vertrauen in die repräsentative Demokratie. Und das Argument, es unterschreibe ja nur ein Teil der stimmberechtigten Bürgerschaft, zieht nicht: Kommt es zum Bürgerentscheid, ist die Beteiligung fast immer höher als bei Bürgermeisterwahlen.

Fritz Kuhn stimmt einer "echten Fahrradstadt" zu

Nun bringt der grüne Oberbürgermeister Fritz Kuhn eine <link https: www.domino1.stuttgart.de web ksd ksdredsystem.nsf external-link-new-window>Zielbeschlussvorlage in den Verwaltungsrat und ins Plenum des Gemeinderats ein. Darin heißt es: "Dem Ziel, Stuttgart zu einer echten Fahrradstadt zu machen, wird zugestimmt." Und zur Begründung: "Stuttgart soll eine Stadt des Fahrrads werden. Daher unterstützt die Stadt ausdrücklich die Ziele des Bürgerbegehrens, den Radverkehr zu fördern und den Anteil des Radverkehrs in Stuttgart zu steigern." Wer sich erinnert, mit welcher Verbissenheit CDU, FDP und Freie Wähler etwa im Stuttgarter Osten um ein paar Parkplätze gekämpft und damit die Hauptradroute 2 um Jahre verzögert haben, kann sich ausmalen, wie lange das dauern wird. Es geht sogar rückwärts: Den Sommer über wird die Hauptradroute 1 in der Tübinger Straße als Ausweichroute für den Autoverkehr wegen einer Baustelle dienen.

Oder aber Stuttgart gibt sich wie Berlin ein Mobilitätsgesetz und tut deutlich mehr für den Radverkehr. Doch in Berlin sind die Straßen breit. Radschutzstreifen in Stuttgart, so überhaupt vorhanden, führen häufig viel zu dicht an der Schlange der parkenden Autos vorbei, die Radfahrer nach gängiger Rechtsprechung im Abstand von mindestens 90 Zentimeter passieren sollen. Und dann müssten Autofahrer beim Überholen auch noch <link https: udv.de de publikationen unfallforschung-kompakt rechtsgutachten-zu-markierten-radverkehrsfuehrungen external-link-new-window>1,50 Meter Distanz halten: So viel Platz ist in Stuttgart selten. Die zentrale Forderung der Initiative nach mehr Sicherheit kommt in Kuhns Vorlage nur am Rande vor – wenn es um Abstellanlagen und Fahrradbeleuchtung geht.

Noch damit beschäftigt, sich einzufinden: Die neue Radbeauftragte

Was sicher ist und was nicht, zeigt sich an den Unfällen. 384 waren es im Jahr 2017. Die Polizei sucht die Ursache bei den Radlern, die in jedem zweiten Fall selbst schuld seien. Doch das liegt auch an der Infrastruktur. Wo durchgehende Radwege vorhanden und die Kreuzungen und Einmündungen sicher gestaltet sind, sinkt das Risiko.

Und was sagt Éva Adám, die neue Radbeauftragte der Stadt dazu? Sie ist weder telefonisch noch per E-Mail zu erreichen. Auf Nachfrage antwortet die Pressestelle der Stadt: "Frau Adám ist in ihrer Funktion als Fahrradbeauftragte erst seit dem 1. Januar in der Stadtverwaltung tätig. Sie ist gerade noch dabei, sich einzufinden. Zu ihrer Person hatten wir in letzter Zeit vermehrt Journalistenanfragen, die wir aus demselben Grund abgelehnt haben."


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8 Kommentare verfügbar

  • Karl Heinz Siber
    am 23.02.2019
    Antworten
    Als Grüner schäme ich mich für das mutlose und biedermännische Gehabe der Grünen im Stuttgarter Gemeinderat. Die Begründung, die Christine Lehmann für das kritiklose Akzeptieren des Rechtsgutachtens gibt, spricht für sich: "Schließlich könnte hinterher die unterlegenden Interessengruppen auch klagen…
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