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Bei Gelb über die Ampel

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Die Proteste der Gelben Westen machen zwei Dinge klar: Die extreme Unzufriedenheit vieler Menschen mit der herrschenden Politik. Und wie das vage Versprechen, das zu ändern, zur Projektionsfläche werden kann. Für viele individuelle Wünsche und Hoffnungen – ohne dass ein tatsächlicher Konsens besteht.

In Ägypten ist der Verkauf von gelben Westen gerade verboten worden. Die Regierung befüchertet, dass die Proteste in Frankreich Nachahmer finden könnte. Dort sind es Hunderttausende, die auf die Straße gehen, um gegen Macrons reichenfreundliche Politik zu protestieren. Fast 90 000 Polizisten waren vergangenes Wochenende im Einsatz und es kam zu brutalen Ausschreitungen. Landesweit soll es laut Medienberichten fast 300 Verletzte gegeben haben, eine 80-jährige Frau ist verstorben, nachdem sie eine Tränengaskartusche am Kopf traf.

Die Aufstände sind Ausdruck einer tief sitzenden Frustration. Einer, der bereits vor Jahren befürchterte, dass das immer extremere Auseinanderdriften von Arm und Reich zu dramatischen Konsequenzen führen würde, ist der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz. Der Ökonom findet deutliche Worte: "Ein System, bei dem die Menschen am unteren Ende nach einem Vierteljahrhundert schlechter dastehen als zuvor," bilanziert der frühere Chef der Weltbank, "ist ein gescheitertes System." Schon 2009 brandmarkte er die Bankenrettungen als "Sozialismus für Reiche", als Prinzip einer Politik, die Gewinne zu Gunsten weniger Profiteure privatisiert und Verluste auf das Allgemeinwohl abwälzt.

Seine Aussagen bezog Stiglitz auf die USA, wo zahlreiche republikanische Abgeordnete ernsthaft einen Eid geschworen haben, die Steuern für Unternehmen niemals zu erhöhen. Nun treffen viele Beobachtungen des Ökonomen auch auf Europa zu. In Deutschland sieht das so aus: Die oberen zehn Prozent auf der Einkommensskala verdienen heute ein Drittel mehr als zu Beginn der 90er-Jahre. Für vier von zehn Menschen sind die Reallöhne in der Bundesrepublik im gleichen Zeitraum gesunken. Eine Studie im Auftrag des Bundessozialministeriums hält fest, dass eine "klare Schieflage in den politischen Entscheidungen zulasten der Armen" besteht. Und verweist auf "ungleiche Responsivität". Was übersetzt so viel heißt wie: Wenn viele Arme etwas wollen, passiert wahrscheinlich das Gegenteil. Und wenn wenige Reiche sich etwas wünschen, spurt die Politik.

Die Folgen liegen auf der Hand: Wenn eine Minderheit von Superreichen systematisch bevorzugt wird und sich der Wohlstand immer einseitiger verteilt, wächst auf Dauer die Zahl der Unzufriedenen. Je dramatischer der Unterschied zwischen Arm und Reich ausfällt, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass sich dieses Spannungsgefüge in einem Prozess von Umwälzungen entlädt. Nicht nur die reichen, sondern alle Mitglieder der Weltgemeinschaft an Wachstum und Wohlstand teilhaben zu lassen, wäre also nicht nur moralisch geboten. Sondern auch politisch, um die Erosion zivilgesellschaftlicher Strukturen nicht weiter zu befördern.

Das Gemeinwohl ist chronisch unterfinanziert

Eine naheliegende Maßnahme im demokratischen System, sich gegen die regierende Politik zu wehren, wäre es, sein Wahlverhalten zu verändern. Wenn nun aber verschiedene Regierungen mit unterschiedlichen Machtverhältnissen im Wesentlichen die gleiche Politik betreiben, ist Ratlosigkeit eine nachvollziehbare Reaktion. Die Rede von den "Einheitsparteien" als pauschale Kritik ist zwar völlig überzogen, da sich sogar innerhalb der verschiedenen Flügel einzelner Parteien grundlegende Meinungsverschiedenheiten bemerkbar machen. Doch scheint die allgemeine Tendenz, bei der öffentlichen Daseinsvorsorge zu sparen, während Einzelne immer obszönere Privatvermögen ansammeln können, auch nicht von solchen Parteien ernsthaft in Frage gestellt zu werden, die sich sozialdemokratisch nennen. Die Langzeitfolge: Je extremer ein politisches Angebot vom Status Quo abweicht, desto attraktiver wird es für diejenigen, die sich massive Veränderungen ersehnen.

Krankenhäuser und Pflege, Schulen und Wissenschaft, Polizei und Justiz, Altersvorsorge und Arbeitslosengeld, und nicht zuletzt der Wohnungsmarkt – wo immer die öffentliche Hand zum Tragen kommt, sind Bereiche des Gemeinwohls chronisch unterfinanziert. Andererseits erreichen die Privatvermögen von Superreichen nie gekannte Rekordhöhen. Seit der Kohl-Regierung ist keine einzige Steueränderung des Bundes zulasten der Vermögenden ausgefallen. Gleichzeitig leidet eine breite Mittelschicht unter einer enormen Abgabenlast, die große Teile ihres Einkommens an einen Staat abführt, der anschließend bei der allgemeinen Daseinsvorsorge spart. Das ist so schwierig vermittelbar wie der Umstand, dass Aktienbesitz geringer besteuert wird als tatsächliche Arbeit.

All das sind hervorragende Gründe, lautstark zu protestieren und ausreichend Anlass für radikale Kritik. Man ist regelrecht angehalten, auszurufen: Widerstand gegen diese Politik ist notwendig und längst überfällig. Dass eine Bewegung wie die Gelben Westen, die in Frankreich laut Medienberichten 80 Prozent der Bevölkerung hinter sich hat und gegen Macrons Politik für die Reichen auf die Straße geht, Sympathien aus verschiedenen Spektren hervorruft, kann daher kaum verwundern. Keine Obdachlosigkeit mehr, ein höherer Mindestlohn, bessere Renten, Ende der Austeritätspolitik, Besteuerung der Internetkonzerne, ein einheitliches Sozialversicherungssystem, Lohnobergrenzen für Gutverdienende, mehr Sozialleistungen für Behinderte – das sind allesamt Forderungen, die von Teilen der Bewegung erhoben werden und die man eher von linker Seite gewohnt ist. Allerdings scheint aktuell noch unklar, wie verbreitet und mehrheitsfähig diese Positionen in der sehr heterogenen Anhängerschaft sind. Und wann sich programmatisch eine klare Linie herauskristallisieren wird.

In Stuttgart macht AfD-Mann Räpple einen auf Gelb

Was also sind die Gelben Westen überhaupt? Rechts oder links oder keines von beidem oder Querfront? Bis zum heutigen Tag lässt sich das nicht eindeutig beantworten. In Deutschland solidarisiert sich der Bundesvorstand der Linkspartei einstimmig mit der französischen Bewegung. Sahra Wagenknecht bezeichnet die Proteste als absolut berechtigt und "Ermunterung für Deutschland". Parteichef Bernd Riexinger begrüßt es, wenn Menschen sich "gegen die neoliberale Politik" wehren, hält aber das "Potenzial Ultrarechter" in den Reihen der Bewegung für besorgniserregend. In Deutschland wäre eine solche "Verbrüderung linker und rechter Gesinnung nicht denkbar."

In Stuttgart allerdings geht der AfD-Abgeordnete Stefan Räpple mit einer Handvoll Menschen, die gelbe Westen tragen, auf die Straße. Als Redner auf der Kundgebung tritt unter anderem der Antisemit Wolfgang Gedeon auf, der nach einem Urteil des Landgerichts Berlin als Holocaust-Leugner bezeichnet werden darf. In anderen Orten der Republik, wie auch in ganz Europa, bemüht sich die extreme Rechte, den Protest zu vereinnahmen, teils mit großem Erfolg.

Und genau hierin liegt das Problem. Einerseits können vorschnelle Abgrenzungsreflexe zu einer Spaltung des Widerstands führen, was grundlegende Veränderungen schon oft genug im Keim erstickt hat. Andererseits kann ein impulsives Bejahen des Protests zu einer Idealisierung jener führen, deren Absichten man nicht kennt. Nicht zuletzt können Symbole des Widerstands, zu denen man die Gelben Westen zählen kann, als Projektionsfläche für etwas dienen, was sich Individuen im Einzelnen wünschen, ohne dass je ein tatsächlicher Konsens über eine gemeinsame politische Orientierung bestanden haben muss.

Angesichts einer zutiefst gespaltenen europäischen Gesellschaft ist fraglich, ob eine Bewegung, die 80 Prozent einer nationalen Bevölkerung hinter sich vereinen soll, überhaupt eine einheitliche und umfangreiche Zielsetzung verfolgen kann. Drängender denn je gestaltet sich die Frage nach einem kleinsten gemeinsamen Nenner. Den hat Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) im August bei einem Bürgerdialog in Chemnitz gesucht. "Sind wir uns darüber einig, dass der Hitlergruß nicht okay ist?", fragte er zusehends resigniert. Die Welt wäre ein gutes Stück besser, wenn alle Anwesenden das hätten bejahen können.

Frustration führt zu Aggression, behauptet die Psychologie, und Alltagsbeobachtungen scheinen das zu bekräftigen. Weltweit steigt die Zahl der geistigen Erkrankungen rapide, Menschen leiden unter Dauerstress und Depressionen. Es dürfte eine berechtigte Sorge darstellen, dass diese Gemengelage irgendwann in Menschenfeindlichkeit und Hass umschlägt. Wie es historisch nach globalen Krisen schon mehrfach zu beobachten war. Währenddessen hat sich das weltweite Geldsystem ohne große Not einem Wachstumszwang untergeordnet, der auf stetige Optimierung drängt – was dazu führt, dass alle vom Klimaschutz reden, aber die CO2-Emissionen zunehmen und der permanente Leistungsdruck immer mehr Opfer in der Arbeitswelt fordert.

Das wären Anhaltspunkte, einer negativen Realität eine positive gesellschaftliche Vision entgegenzusetzen, die Frustursachen bekämpft. Unabhängig davon, ob sich die Gelben Westen dauerhaft etablieren, ist nahezu unausweichlich, dass ein Weiter-wie-bisher in der europäischen Politik radikale Gegenentwürfe beflügeln wird. Eine offene Frage ist, ob diese Menschenwürde oder -verachtung ins Zentrum ihrer Forderungen stellen. Darüber Klarheit zu schaffen, wäre der erste Schritt einer tatsächlich emanzipatorischen Bewegung, welche die Mündigkeit des Einzelnen über autoritäre Führung stellt und beabsichtigt, alle Ausbeutungsverhältnisse umzuwerfen. Dafür zu kämpfen, der zweite.


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9 Kommentare verfügbar

  • Real Ist
    am 19.12.2018
    Antworten
    Um In Deutschland Protestbewegungen zu spalten, sind bereits minimale Abweichungen vom linken Meinungsdiktat ausreichend, wer bspw. die steinzeitliche Religionsvorstellungen des Islam kritisiert oder gar dem CO² Märchen widerspricht, wird kurzerhand zur rechtsradikalen Persona non Grata erklärt.…
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