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Surfen auf der Rasierklinge

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Bisher ist nur zu ahnen, was die Sammlungsbewegung "Aufstehen" wirklich will. Zwei Dutzend BekennerInnen-Videos im Netz handeln vornehmlich von persönlichen Erwartungen. Aber allen Menschen recht getan, ist eine Kunst die niemand kann.

Karl-Heinz arbeitet als Internet-Ökonom und befürchtet, dass Deutschland in seinem Metier viele Chancen verpasst, weil "in der Digitalisierung die Tools nicht verstanden werden". Er vermisst Visionen, sieht den Mittelstand ausgedünnt und bei so vielen Leuten keine Hoffnung auf positive Veränderungen. Helfen könnte es nach seiner Meinung, sich am fernöstlichen Bhutan ein Beispiel zu nehmen und am dort regelmäßig gemessenen BNG, dem "Bruttonationalglück".

Das BNG, weltweit teils belächelt, teils bestaunt, ist zum Markenzeichen des Königsreichs mit seinen knapp 730 000 EinwohnerInnen geworden. Seit einigen Jahren sind Parteien zugelassen, KennerInnen honorieren den Aufbau demokratischer Strukturen nach britischem Vorbild und die Bemühungen, das Bildungsniveau zu heben, weil mit ihm die Zufriedenheit wächst. Demnach: Kein schlechter Ansatz für Deutschland, einem Land, das seit zehn Jahren daran arbeitet, dem damals von Angela Merkel ausgegebenen Titel "Bildungsrepublik" gerecht zu werden.

Auch andere "Aufstehen"-SympathisantInnen bringen per Testimonial, untermalt von getragenen Klängen, ihre Hoffnung auf Veränderung zum Ausdruck. Lehrer Andi zum Beispiel, der "die Schulen lockern" und "Leistungsdruck von den jungen Leuten nehmen" möchte, damit die "ihren individuellen Platz in der Gesellschaft finden". Die "Verschulisierung" in einem "veralteten System" stößt ihm bitter auf, so dass er davon träumt, "vielleicht mit einem großen Hammer" bürokratische Strukturen in den Kultusministerien aufzubrechen.

Aus ihrem Auslandsjahr im kanadischen Neufundland ist Victoria kürzlich zurückgekehrt, jetzt schwärmt sie von der Schule als Vorbereitung auf Alltagsdinge. Von der App, in die Noten aller Schüler hochgeladen werden – praktisch sei die, weil Eltern die Arbeiten ihrer Kinder nicht mehr unterschreiben müssen und alle Noten auf einen Blick einsehen können. Und sie beklagt den Druck, der in Deutschland für angehende Studierende durch den Numerus Clausus entsteht. Jenny, die Studentin, hegt ebenfalls klare Vorstellungen, die aber nicht allzu viel mit der Realität zu tun haben: Ginge es nach ihr, gäbe der Staat viel mehr Steuergeld aus "für Regionalität und für die Vielfalt in der Wirtschaft", anstatt immer nur "die großen Firmen und Konzerne zu sponsern".

Spätestens bei solchen von gutem Willen und beträchtlicher Ahnungslosigkeit getragenen Einlassungen – in die Mittelstandsförderung steckt dieser Staat alljährlich viele Milliarden – stellt sich die Frage, wie es diese Filmchen ins Netz geschafft haben. "Aufstehen" als Sammelsurium individueller Eindrücke, Wünsche und schöner Ideen? Jedenfalls als Bewegung, die laut Selbstbeschreibung "keine Partei sein will", sondern da sein "für alle, die gemeinsam für unsere Ziele kämpfen wollen". Auch die sind aufgelistet: "Sichere Arbeitsplätze, höhere Löhne, gute Renten und Pflege, ein Sozialstaat, der vor Abstieg schützt und nicht jedes Lebensrisiko dem Einzelnen allein aufbürdet, für Top-Bildung von der Kita bis zur Universität, bezahlbare Mieten, gerechte Steuern statt Politik für Superreiche, Banken und Konzerne, den Erhalt des bedrohten Planeten, den Schutz von Wasser, Luft, Böden, Tieren und Artenvielfalt, für Abrüstung, echte Friedensdiplomatie und Entspannungspolitik, gegen Stellvertreterkriege, Waffenexporte, die Ausplünderung der benachteiligten Länder, die die eigentlichen Fluchtursachen sind."

Das würde im Umkehrschluss bedeuten, dass Deutschland eine unechte Demokratie ist und zu weit gehen. Allerdings ist das Land nach den Video-Bekenntnissen der bereits Aufgestandenen eine Hochburg der Verunsicherung. Selbst die Prominenten unter den Normalos, also die mit einiger politischer Erfahrung, sind aus der Spur geraten, wie beispielsweise Susanne Neumann, genannt SusI, die langjährige Gewerkschafterin, die vor gar nicht so langer Zeit erst in die SPD eingetreten ist. 2016 wurde sie eine bundesweite Berühmtheit, als sie dem Genossen Sigmar Gabriel vor laufenden Kameras ordentlich die Leviten las. Später unterstützte sie den Kurzzeit-Hoffnungsträger Martin Schulz "aus vollem Herzen", mittlerweile steht sie fest an Wagenknechts und Lafontaines Seite. In deren Initiative sieht sie den "ehrlichen Versuch, die Kräfte zu bündeln", mit Leuten aus anderen Parteien und ohne die Verpflichtung zum Mitmachen in einem Ortsverband, "ohne dass ich für die Doofköpfe an der Ecke stehe und nicht weiß, was ich erzählen soll".

Womit eines der Hauptdilemmata beschrieben ist: Das Projekt surft auf der Rasierklinge zwischen Parteienverachtung und dem Ziel, mit linken politischen Mehrheiten Veränderungen durchzusetzen. SPD, Grüne und Linke hätten es im vergangenen Jahrzehnt nicht geschafft, heißt es in der Selbstbeschreibung – die die oft berechtigte, oft aber jeden Brückenbau verachtende Wut der Linken auf die SPD wohlweislich beschweigt –, "ein verlässliches Bündnis untereinander zu schmieden und mit einem politischen Gegenkonzept einen Machtwechsel in Deutschland herbeizuführen". Sie hätten sogar Protestwähler an die AfD verloren, dabei hetze "die AfD gegen die Schwachen und will Löhne oder Renten kürzen". Union und FDP machten ohnehin bloß "Politik für Konzerne und Superreiche". Dagegen angegangen werden soll in der Hoffnung, "dass sich überhaupt noch etwas verändern lässt", und die sei "die wichtigste Quelle linker Politik".

Die Erwartungen an den 4. September, wenn die Öffentlichkeit die Gründungsmitglieder und den Text des Gründungsaufrufs kennenlernen soll, werden vorsorglich heruntergeschraubt: "Wir haben kein fertiges Programm, wir wollen zuhören, respektvoll diskutieren und sind offen für unterschiedliche Meinungen." An den Strukturen muss noch gebastelt werden. Denn Bewegungen können in Deutschland nicht zur Wahl antreten. Unvorstellbar erscheint aber derzeit, gerade angesichts der Promis unter den Zuhörenden, den Hoffenden und Diskutierenden, dass aus "Aufstehen" eine Partei wird: Denn die Sozialdemokraten Rudolf Dressler und Marco Bülow sind an Wagenknechts Seite, die Grüne Antje Vollmer oder Sevim Dagdelen von der Linken. Willy Brandts Sohn Peter wünscht sich sogar eine "linke Ökumene" und möchte, dass endlich wieder die Gerechtigkeitsfrage ins Zentrum rückt wie nach der Ernennung von Martin Schulz, bevor dann "die Euphorie zusammengebrochen, in Ratlosigkeit und Pessimismus umgeschlagen ist und der Kandidat sich von seinen Beratern gegen eigenes besseres Empfinden beinahe zu einem politischen Neutrum machen ließ".

Ein e macht den Unterschied

Der gemeinnützige Wiener Verein "aufstehn" will nicht mit Sahra Wagen­knechts "#aufstehen" verwechselt werden. Die ÖsterreicherInnen verstehen sich als parteipolitisch unabhängige zivilgesellschaftliche Organisation "von unten", wie die Geschäftsführerin Maria Mayrhofer erläutert, die sich "für ein positives Miteinander und soziale, wirtschaftliche und ökologische Fairness einsetzt". Und "#aufstehn" hat mit "#aufstehen" Kontakt aufgenommen, um das "nicht rücksichtsvolle Vorgehen" zu problematisieren. Rechtliche Schritte werden geprüft. (jhw)

Immerhin kann sich die seit Anfang August freigeschaltete Homepage über regen Besuch freuen. Schon nach einer Woche jubelte Oskar Lafontaine über den virtuellen Zulauf von Zehntausenden Interessenten. Dem einstigen SPD-Bundesvorsitzenden ist auch die bisher einzige klare ideologische Kante zu verdanken zwischen Bildungs-Bullerbü, der Sehnsucht nach Stimulierung von Glücksgefühlen oder persönlichen Ängsten vor Abstieg und Altersarmut, auch wenn die noch so berechtigt sind: Der Saarländer macht unmissverständlich klar, dass die erfolgreichste Sammlungsbewegung, nämlich Emmanuel Macrons "République en marche", keinesfalls das Vorbild für die Anhänger von "Aufstehen" sein kann. Denn: "Der französische Präsident steht für Sozialabbau und eine klassische neoliberale Wirtschaftspolitik." Hingegen sollten die deutschen Wählerinnen und Wähler eben gerade "Lohndrückerei, Rentenkürzungen, Sozialabbau, Kriegseinsätze der Bundeswehr und Umweltzerstörungen nicht weiter hinnehmen".

Der Hinweis auf die Wählerschaft lässt aufhorchen. Ist also doch an eine Partei gedacht, die wie die anderen zu Wahlen antreten, genau wie sie um Stimmen werben und nach der Wahl zu Kompromissen und Koalitionen bereit sein soll? Und wenn nicht, taucht unvermeidlich die Frage auf, ob eine solche Bewegung mit ihrem vagabundierenden Idealismus der linken Sache wirklich hilft – oder nicht doch eher spaltet, lähmt und den Ehrgeiz ihrer GründerInnen stillt.


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15 Kommentare verfügbar

  • Andreas Schmidt
    am 15.09.2018
    Antworten
    All denen, die wie hier jetzt von vagabundierendem Idealismus oder gar Parteienfeindlichkeit sprechen sei einmal ganz entspannt unsere verfassungsmäßige Grundordnung und sogar die Rechtsprechung des BVerfG hierzu entgegengehalten. Die nach dem Grundgesetz priviligierte Stellung der Parteien für die…
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