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Warum Marx kein Marxist sein wollte

Warum Marx kein Marxist sein wollte
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Die Marx-Forschung beschränkt sich heute viel zu sehr auf das Herauspräparieren der "reinen Lehre", ohne sich selbst und Marx in seinem Kontext kritisch zu reflektieren. Zeit, das zu ändern.

Kurz nach dem Ausbruch der Finanzkrise 2008 stellten sich auch vormals überzeugte neoliberale Ideologen – zunächst in Großbritannien, dann auch in der Bundesrepublik Deutschland – die Frage, ob der Kapitalismus damit an sein Ende gekommen sei oder dieses Ende zumindest denkbar geworden ist. Hatte Karl Marx also doch Recht gehabt, wenn auch nicht mit seiner kommunistischen Utopie, so doch mit seiner Behauptung, der Kapitalismus gehe an den von ihm selbst verursachten Krisen zugrunde? Aber schon in der Mitte 2009 vom damaligen FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher und dem Ökonom und FAZ-Autor Thomas Strobl organisierten Diskussion zur "Zukunft des Kapitalismus" gab Strobl eine andere Marschrichtung vor: Zwar läge der Neoliberalismus jetzt in Trümmern und Sozialismus als Alternative stünde schon lange nicht mehr zur Verfügung, die Rettung aber liege in der "sozialen Marktwirtschaft" – wenn man sie nur richtig politisch verwirkliche.

"Wie müsste eine Soziale Marktwirtschaft, die diesen Namen zu Recht trägt – sprich: verteilungsgerecht und finanziell stabil verläuft –, stattdessen aussehen?", fragte Strobl. "Oberste Priorität hätte die geordnete Abkehr von der einseitigen Fokussierung auf die Exportwirtschaft, dem beinahe krankhaften Bemühen um einen möglichst hohen Leistungsbilanzüberschuss, um erneut den wertlosen Titel 'Exportweltmeister' einzuheimsen." Eine Stärkung des Binnenmarktes sei erforderlich, der Auf- und Ausbau von Beschäftigungsmöglichkeiten mit entsprechendem Einkommen sowie die Abschaffung aller möglichen "Markteintrittsbarrieren". Also: Keine Endzeitstimmung und kein Bezug auf Marx mehr, sondern die seitdem mantra-artig oder – wie Strobl selbst sagt – religiös beschworene "Soziale Marktwirtschaft".

Wie sah und sieht es auf Seiten der Kapitalismus-Kritiker, insbesondere der sich selbst marxistisch verstehenden Kapitalismus-Kritiker aus? Denn solche Krisenzeiten sollten doch – so der Philosoph Slavoj Žižek – goldene Zeiten für alle kapitalismuskritischen Theorien und Bewegungen sein. Doch Oliver Nachtwey diagnostizierte 2012 in einem klugen, ebenfalls in der FAZ erschienenen Essay, dass der deutsche Marxismus sich weitgehend erschöpfe in einer "kommunistischen Scholastik" und in fein ziselierten und zelebrierten "dogmatischen Liturgien"; die intensive und lebendige Marx-Rezeption nach 1968 sei schnell zu einer "esoterischen Philologie" verkümmert. Da schlägt man sich Marx-Zitate um die Ohren, bemüht sich um die Herauspräparierung der "reinen Lehre" und freut sich, andere Marx-Philologien als "alt-marxistisch" und damit als nicht ernstzunehmend aburteilen zu dürfen. Dem religiösen Beschwören der "Sozialen Marktwirtschaft" auf Seiten der Herrschenden entspricht auf Seiten der Linken das Sich-Beugen über und Versenken in die Lektüre ihrer "Heiligen Texte", um endlich die göttliche Botschaft in ihrer Reinheit vernehmen und verkünden zu können.

Weil Marx zu seinen Lebzeiten schon einen solchen Umgang mit seinen Schriften erleben musste, bestritt er vehement, Marxist zu sein. Ihm ging es um Theoriebildung und die praktische Wirksamkeit von Theorien im "Handgemenge" der sozialen und politischen Auseinandersetzungen. Deswegen zog er sich nach der gescheiterten Revolution von 1848 zurück in Bibliotheken, um einerseits den theoretischen Zusammenhang der Politischen Ökonomie von Adam Smith, Adam Ferguson bis hin zu den Theorien seiner Zeit systematisch zu rekonstruieren; andererseits, um seine eigenen theoretischen Positionen zu überprüfen, sie gegebenenfalls zu revidieren und weiterzuentwickeln. So zeigt schon ein erster, noch an der Oberfläche verbleibender Vergleich der "Ökonomisch-philosophischen Manuskripte" von 1844 mit den das "Kapital" vorbereitenden Manuskripten der 1850er Jahre, dass und wie Marx sich von dem theologisch-philosophisch und anthropologisch geprägten Diskurs seiner Frühschriften durch eine genaue Lektüre der Politischen Ökonomie hin zu einem wesentlich weiter entwickelten Projekt bewegte, der "Kritik der Politischen Ökonomie", das – wie Marx sagte – zugleich auch eine Rückkehr zum "rationellen Kern" der Philosophie Hegels sei.

Die unsichtbare Hand ist die moralische Qualität der Marktakteure

Als Terminus eingeführt wurde "Politische Ökonomie" von Adam Smith in seinen zusammengehörenden Büchern "Theorie der ethischen Gefühle" (1759) und "Untersuchung über Wesen und Ursachen des Reichtums der Nationen" (1776) sowie von Adam Ferguson in seinem Buch "Versuch über die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft" von 1767, um eine Benennung für eine neue, sich gerade erst entwickelnde Wissenschaft zu haben. Heute können wir sagen, dass es sich um eine theoretische Entwicklung handelt, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Begründung und Institutionalisierung der Gesellschaftswissenschaft führte.

Dies zu bemerken ist wichtig insofern, weil damit deutlich wird, dass es sich bei Politischer Ökonomie gerade nicht um "Ökonomik" handelt, die das Wirtschaften getrennt und unabhängig von sozialen Zusammenhängen modelliert. War in der liberalen Tradition das Wirtschaften immer schon eine private Interessen verfolgende Tätigkeit vereinzelter Individuen (die von Marx immer wieder kritisierten "Robinsonaden"), so baute die Theorie der Neoklassik seit dem letzten Quartal des 19. Jahrhunderts diesen methodologischen Individualismus als Grundannahme einer eigenständigen Wissenschaft der Ökonomik aus.

Die politische Ökonomie von Marx wie auch schon die von Smith und Ferguson arbeiten dagegen das Politische der Ökonomie heraus, die sozialen und politischen Voraussetzungen, die gegeben sein müssen für ein erfolgreiches Wirtschaften. Betonten Smith und Ferguson die moralischen Voraussetzungen wirtschaftlichen Tuns, so betonen Hegel und Marx, dass das Arbeiten immer ein gesellschaftliches Tun von Mehreren, niemals aber von einem Einzelnen sei und sein könne. Die "unsichtbare Hand", die bei Smith das Marktgeschehen reguliert, ist nichts anderes als die moralische, tugendhafte Qualität der Marktakteure. Smith versucht, die Tugendethiken von Aristoteles und aus der römischen Tradition für das Begreifen der bürgerlichen Gesellschaft fruchtbar zu machen. Die Aristoteliker Hegel in seiner Theorie der Sittlichkeit und Marx mit seinem gesellschaftstheoretischen Ansatz gewichten dagegen Rechtsverhältnisse als Voraussetzungen funktionierenden Wirtschaftens und als Regulative des Marktgeschehens stärker.

In diesem Diskurs entwickelt Marx eine ganze Reihe von Fragen und Problemen, die weder von ihm noch von seinen Nachfolgern aufgegriffen und gelöst worden sind. Dazu nur ein Beispiel. Das sogenannte Methodenkapitel der "Grundrisse", einem Manuskript-Konvolut aus den Jahren 1857 und 1858, beginnt Marx mit dem Satz: "In Gesellschaft producirende Individuen - daher gesellschaftlich bestimmte Production der Individuen ist natürlich der Ausgangspunkt." Der methodologische Individualismus in der (neo-)liberalen Tradition, in der die Vergesellschaftung individueller, für sich produzierender Individuen erst sekundär durch Vertragsabschluss um des eigenen Vorteils willen zustande kommt, erweise sich als "Schein". Wenn Individuen nur "in Gesellschaft", also miteinander und füreinander produzieren, dann kann kein einzelnes Individuum Subjekt sein. Wenn man bedenkt, wie sparsam Marx insgesamt das Wort "Subjekt" verwendet, dann wird die Herausforderung deutlich, die er mit folgenden Sätzen formuliert, und die in der Marx-Interpretation meines Wissens noch nie systematisch aufgegriffen wurden. "Auch bei der theoretischen Methode muss daher das Subject, die Gesellschaft, als Voraussetzung stets der Vorstellung vorschweben." Und einige Seiten weiter: "das Subject, hier die moderne bürgerliche Gesellschaft".

Die heilige Familie der Marxologen

Was auch immer Marx an weitergehenden Vorstellungen mit der Behauptung verbunden haben mag, die Gesellschaft, die moderne bürgerliche Gesellschaft sei das "reale Subjekt" - eine weitere emphatische Formulierung im Methodenkapitel –, so viel ist deutlich: Es geht ihm darum, das dynamische Moment der Entwicklung in der bürgerlichen Gesellschaft zu erfassen. Denn diese sei – so haben er und Engels schon im "Manifest der Kommunistischen Partei" (1848) behauptet – die erste Form eines Gemeinwesens, das sich im Unterschied zu anderen Formen von Gemeinwesen aus sich selbst heraus, also ohne Anstöße von außen wie Naturkatastrophen, Eroberungen usw., permanent verändert und entwickelt. Und nur dann, wenn man diese Veränderungs- und Entwicklungsdynamik begriffen hat, ist es möglich, so in diese Dynamik einzugreifen, dass durch politisches Handeln Entwicklungsmöglichkeiten realisiert werden, die nicht mehr nur einzelnen Individuen zu Gute kommen, sondern möglichst allen. So heißt es ebenfalls schon im "Kommunistischen Manifest": "Das Kapital ist ein gemeinschaftliches Produkt und kann nur durch eine gemeinsame Tätigkeit vieler Mitglieder, ja in letzter Instanz nur durch die gemeinsame Tätigkeit aller Mitglieder der Gesellschaft in Bewegung gesetzt werden." Den Nutzen aus der gemeinsamen Tätigkeit aller Mitglieder der Gesellschaft zieht aber ein Einzelner oder eine Gruppe von Einzelnen, indem sie das Kapital nicht als gemeinschaftliches Produkt behandeln, sondern es sich unter Einsatz von Macht- und Gewaltmitteln als Privateigentum aneignen. Damit sind wir bei sozialen und politischen Auseinandersetzungen, die Hegel als Kämpfe um Anerkennung thematisiert hatte. Und in solchen Kämpfen bewegen wir uns heute noch, aber unter gegenüber Marxens Zeit deutlich anderen Bedingungen.

Die heiligen Familien der Marxologen klammern sich an die geschriebenen Texte von Marx, blenden aber die für Marx selbst offen gebliebenen Aufgaben, Fragen und Probleme weitgehend aus. Wäre es für die Kämpfe unserer Zeit nicht viel hilfreicher, endlich den in einer Gliederungsskizze geplanten letzten Band des "Kapitals" zu schreiben, den Marx mit dem Titel "Der Weltmarkt und die Crisen" versehen hat? Aber dazu müsste man sich der Mühe unterziehen, die für Marx selbstverständlich war: Nämlich ausgehend von unseren Kämpfen den Theorienzusammenhang der Gesellschaftswissenschaft systematisch zu rekonstruieren, so wie es Marx mit der Politischen Ökonomie gemacht hatte. Denn Kritik bedeutet die Selbstreflexion der eigenen Position in der Auseinandersetzung mit konkurrierenden Konzepten, nicht aber die bloße Kritik an anderen Positionen ohne die eigene dabei in Frage zu stellen. Dann erst wird die Auseinandersetzung mit Marx spannend und produktiv.

 

Veranstaltungen zum 200. Geburtstag von Karl Marx:

Die beiden Dokumentarfilme <link http: www.literaturhaus-stuttgart.de event _blank external-link-new-window>"Karl Marx und seine Erben" und "Fetisch Marx", von Peter Dörfler sowie von Torsten Striegnitz und Simone Dobmeier, zeigt das Literaturhaus Stuttgart am Mittwoch, den 18. April, ab 19 Uhr in einer Doppelpreview.

<link https: www.hospitalhof.de programm _blank external-link-new-window>Goethe trifft Marx. Manfred Osten im Gespräch mit Sahra Wagenknecht, Hospitalhof, Stuttgart-Mitte, 19. April, 20 Uhr.

<link https: www.die-anstifter.de veranstaltungen zum-200-geburtstag-von-karl-marx-prof-dr-winfried-thaa-der-antipolitische-marx-zurueck-zu-hegel-das-kapital-projekt-von-karl-marx _blank external-link-new-window>Der antipolitische Marx, Vortrag von Professor Winfried Thaa am Samstag, 21 April, um 10:30 Uhr im Hegelhaus, Stuttgart-Mitte.

<link https: www.die-anstifter.de veranstaltungen zum-200-geburtstag-von-karl-marx-prof-dr-winfried-thaa-der-antipolitische-marx _blank external-link-new-window>"Zurück zu Hegel" - Das Kapital-Projekt von Karl Marx. Vortrag von Professor Michael Weingarten am Samstag, 5. Mai, um 10:30 Uhr im Hegelhaus, Stuttgart-Mitte.


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