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Mut zur Opposition

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Warum ist plötzlich richtig, was vorher falsch war? Der Gang in eine Große Koalition. Die SPD wäre selbstbewusst, sagt unser Autor, wenn sie die Opposition als Chance begriffe.

Andrea Nahles habe die SPD vor dem Selbstmord gerettet, ist jetzt zu hören. Allenthalben wird ihre Rede beim Bonner Parteitag am Sonntag gelobt: Der beherzte Auftritt der Fraktionsvorsitzenden habe schließlich dafür gesorgt, dass die Partei jetzt Koalitionsverhandlungen führt.

Das soll wohl bedeuten: Ein Nein wäre Selbstmord gewesen, weil es wahrscheinlich zu Neuwahlen geführt hätte. Der Gang in die dritte "große" Koalition, die so groß ja nun auch nicht mehr ist, stellt dagegen, laut Martin Schulz, den "mutigen Weg" da.

Diese Argumentation ist interessant: Man geht in eine Koalition, weil man das Risiko einer Neuwahl scheut, bei der man sich offenbar nichts anderes als eine Niederlage vorstellen kann – und genau diese Scheu vor dem Risiko nennt man dann "mutig".

Die Schröder-Agenda wurde immer schöner

Zur Erinnerung: Andrea Nahles war einmal Vorsitzende der Jungsozialisten. Sie hat einst Gerhard Schröders Agenda 2010 wegen "sozialer Unwucht" abgelehnt, aber dann ist Erstaunliches passiert: Je weiter sie aufstieg, desto schöner wurden die Schröder-Agenda und die großen Koalitionen und die Kompromisse, die damit verbunden waren.

Jetzt ist Andrea Nahles Fraktionsvorsitzende im Bundestag und kanzelt die GroKo-Gegner als notorische Neinsager ab. Kevin Kühnert, heute Juso-Chef und einer dieser GroKo-Gegner, wird manchmal staunen, was aus jungen Sozialisten so alles werden kann.

Natürlich hat nicht automatisch recht, wer wie Kühnert radikal Nein sagt zu dem neuen Bündnis mit CDU und CSU. Auch dessen Verteidiger haben ein paar Sachargumente auf ihrer Seite: Wenn Arbeitgeber wieder so viel für die Krankenversicherung bezahlen wie Arbeitnehmer, ist das für Normalverbraucher ein Fortschritt. Wenn sich die Politik zu einer gewissen Stabilisierung des Rentenniveaus bekennt, ist es besser, als wenn sie das unterließe. Wenn Reformen und Investitionen für Europa angedeutet werden, ist das besser, als wenn man Emmanuel Macrons Ideen weiter unbeantwortet ließe. Und so weiter. Und sollte von den Nachforderungen der Sozialdemokraten – Krankenversicherung, Familiennachzug, befristete Arbeitsverhältnisse – etwas Nennenswertes hängenbleiben, dann ist das umso besser.

Wer also zufrieden ist, wenn sich überhaupt etwas verbessert, wird Gründe finden, Ja zu sagen. Aber was ist, wenn man das Ergebnis an dem misst, was das Land eigentlich bräuchte – zumindest an dem, was die SPD noch im Wahlkampf für notwendig hielt? Dann häufen sich die Gründe für ein Nein.

Wie kann die SPD einer Obergrenze für Flüchtlinge zustimmen?

Die Wiederherstellung der Parität, so schön sie ist, bleibt meilenweit hinter der Notwendigkeit einer Bürgerversicherung zurück. Die Stabilisierung des Rentenniveaus ist zu wenig, wenn zugleich am Drei-Säulen-Modell (also auch an Fehlkonstruktionen wie "Riester") festgehalten wird. Die EU-Passagen im Papier sind zu vage, um als "Aufbruch" durchzugehen. Und was ist aus dem zentralen Ziel geworden, notwendige Investitionen durch höhere Steuern am oberen Ende zu finanzieren? Schließlich: Wie kann eine Partei, zu deren Grundsätzen die internationale Solidarität gehört, einer faktischen Obergrenze für Flüchtlinge zustimmen? Selbst bessere Ergebnisse auf anderen Feldern wären diese Bankrott-Erklärung nicht wert.

Aber natürlich argumentieren die Befürworter anders: Dass, gemessen an der SPD-Programmatik, vieles fehlt, würden sie gar nicht bestreiten. Aber jenseits inhaltlicher Fragen greifen sie dann auf wahl- und machtstrategische Argumente zurück: Die SPD habe nur 20 Prozent, da sei mehr nicht durchzusetzen. Und wenn es Neuwahlen gäbe, ginge es womöglich weiter bergab.

Seltsam, dass dieses Argument nicht zählte, als sich die Parteispitze nach der Wahl im September einstimmig gegen eine große Koalition aussprach. Warum war das damals richtig? Oder umgekehrt: Wenn es richtig ist, für begrenzte Zugeständnisse in die GroKo zu gehen, warum galt das einen Tag nach der Wahl, am 25. September 2017, nicht? Hätte Jamaika, das damals alle erwarteten, etwa SPD-Politik gemacht?

Es stimmt schon: Wenn die Parteibasis am Ende doch noch Nein sagen sollte, wird ein medialer Shitstorm folgen. Ein Aufschrei derjenigen, die meinen, verantwortliches Handeln könne ausschließlich darin bestehen, dass man der Union per Koalition zu einer Regierungsmehrheit verhilft. Die SPD ginge also tatsächlich ein Risiko ein, wenn sie dafür sorgte, dass nur die Alternative Minderheitsregierung oder Neuwahlen bleibt.

Von den eigenen Zielen und Idealen meilenweit entfernt

A propos Neuwahlen: Das stärkste Stück, was schräges Argumentieren betrifft, hat auch hier Andrea Nahles, die Ex-Linke, abgeliefert. Wenn es Neuwahlen gäbe, sagt sie, müsste die SPD ja mit Themen für sich werben, die sie auch jetzt schon durchgesetzt habe. Seit wann hat die SPD nicht mehr zu bieten als das?

Vor allem aber: Was ist mit dem Risiko, das eine große Koalition bedeutet? Es lässt sich bereits beziffern: Gut 20 Prozent der Wählerstimmen sind beim letzten Mal übrig geblieben. Nicht gerade ein Beweis für die These, dass man sich auch als Juniorpartner in der Regierung erneuern kann. Aber noch wichtiger: Wie tief muss das Selbstbewusstsein dieser Partei gesunken sein, wenn sie nicht auch die Chance erkennt, die darin läge, sich jetzt in der Opposition (etwa gegenüber einer Minderheitsregierung) zu erneuern? Oder in einem neuen Wahlkampf klares Profil zu zeigen bis zum Schluss?

Auch ohne Regierungsbeteiligung lassen sich Erfolge erzielen, und die müssen nicht kleiner sein als das, was sich jetzt für einen Koalitionsvertrag abzeichnet. Legte die SPD aus der Opposition heraus Reformvorschläge vor, müssten CDU/CSU und FDP sich fragen, wie oft sie sie gemeinsam mit der AfD niederstimmen wollen. Und den Bundesrat gibt es auch noch. Zugleich könnte die Sozialdemokratie sich endlich wieder zu einer echten Alternative mit realistischen Ambitionen auf die Kanzlerschaft entwickeln. Dafür gibt es keine Garantie, aber wie gesagt: eine Chance. Und auf jeden Fall könnte die SPD verhindern, dass die AfD die Rolle der Oppositionsführerin spielen und für ihre schmutzigen Zwecke nutzen kann.

Verweigerte sich die SPD am Ende doch, dann könnte das also sehr wohl gut sein für die Partei. Es wäre aber auch gut für das Land, wenn die Aussicht bestünde, in vier Jahren (oder früher, wer weiß) wieder Mehrheiten für ein echtes Reformprojekt zu finden. Der Weg zu Erfolgen könnte schwieriger und weiter sein, als wenn man jetzt mitregiert. Aber die Erfolge wären, wenn es gut geht, ungleich größer und wichtiger als die Zugeständnisse, die man jetzt der Union abringen kann.

Es gibt keinen zwingenden Grund, sich immer wieder einer Politik zu beugen, die von den eigenen Zielen und Idealen meilenweit entfernt ist.


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8 Kommentare verfügbar

  • Fritz Meyer
    am 30.01.2018
    Antworten
    Der SPD hätten vier Jahre Opposition und ein Austausch der Führungsspitze sicherlich gut getan. Endlich einmal Zeit um die tödliche ideologische Umklammerung des rechten Seeheimerkreises zu überwinden und sich von der antisozialen Politik Schröders zu distanzieren.

    Aber leider wird man das "Feld"…
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