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Radikale Zeiten

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Wohlstand für alle, das war einmal ein Leitmotiv des Sozialstaats. Lang ist's her. Inzwischen versagen Korrektive und vom allgemeinen Wohlstand kommt bei den Ärmsten wenig an. Das gefährdet demokratische Grundsätze.

Als Jeff Bezos am 27. Oktober 2017 aufwachte, war er 6,6 Milliarden Dollar reicher. Über Nacht war der Aktienkurs von Amazon sprunghaft angestiegen und machte den Gründer zum mutmaßlich reichsten Mensch auf Erden. Während der Riesenkonzern Steuerzahlungen in Deutschland geflissentlich vermeidet, machen sich dessen Rekordgewinne, zumindest in der Bundesrepublik, wenigstens für die Belegschaft bezahlt: Nach einem jahrelangen Arbeitskampf verdienen die unteren Lohngruppen bei Amazon seit Herbst sage und schreibe 26 Cent mehr pro Stunde, für Teamleiter beläuft sich der Zuwachs sogar auf einen stolzen halben Euro. Um durch tatsächliche Arbeit das einzunehmen, was sich der Chef buchstäblich im Schlaf verdient hat, müsste ein branchenüblich entlohnter Versandmitarbeiter mehr als 400 000 Jahre schuften.

Wie kommt das eigentlich? Weltweit werden reiche Minderheiten systematisch begünstigt, und das auch in Demokratien. Wenn sich die Trends der vergangenen Jahrzehnte unverändert fortsetzen, warnte Mitte Dezember eine Forschergruppe um den französischen Ökonomen Thomas Piketty, würden die reichsten 0,1 Prozent bis 2050 so viel Vermögen besitzen wie die gesamte globale Mittelschicht. Weltweit wächst die Ungleichheit, auch in Deutschland, wo sich der Wohlstand laut Piketty so einseitig verteilt, wie zuletzt vor einem Jahrhundert. "Mysteriös", befand der satirische "Postillion" sarkastisch: "Und das obwohl der Spitzensteuersatz gesenkt wurde, es keine Vermögensteuer gibt und Kapital geringer besteuert wird als Arbeit."

Gerade die Geschichte um die fehlende Vermögensteuer ist ein eindrückliches Lehrstück dafür, wie ohnehin privilegierte Bevölkerungsgruppen bei günstigen Gelegenheiten politisch protegiert werden. Denn das Grundgesetz sieht eine Vermögenssteuer eigentlich vor und bis 1997 wurde diese auch erhoben. Das Bundesverfassungsgericht erklärte sie jedoch in ihrer bestehenden Form für ungültig, da diese Immobilien im Vergleich zu anderen Vermögensanlagen zu stark begünstige. Statt nun, wie höchstrichterlich nahegelegt, für Gleichheit zu sorgen und Immobilien höher zu besteuern, bevorzugten Bundesregierungen in verschiedenen Konstellationen, auf die Einnahmequelle Vermögenssteuer – nach Schätzungen bis zu 20 Milliarden Euro pro Jahr – lieber ganz zu verzichten und sie seit nunmehr zwei Jahrzehnten auszusetzen.

Umverteilt wird nur von unten nach oben

Während die ärmere Hälfte der 82 Millionen Bundesbürger ohnehin kein nennenswertes Vermögen besitzt, das besteuert werden könnte, kommt dieser Schritt – Trommelwirbel, bitte – insbesondere dem wohlhabendsten Zehntel zugute. Mit Maßnahmen wie der Erhöhung der Mehrwertsteuer, die dem Staat in zehn Jahren 275 Milliarden Euro einbrachte und nicht zwischen alleinerziehender Mutter und Multimilliardär unterscheidet, wurde Steuerlast effektiv von oben nach unten verschoben. 

Dass die Reichen systematisch privilegiert werden und generell größere Gestaltungskompetenzen genießen als der Durchschnittsverdiener, ist im Grunde keine Neuigkeit. "Was Bürger_innen mit geringem Einkommen in besonders großer Zahl wollen, hatte in den Jahren 1998 bis 2013 eine besonders niedrige Wahrscheinlichkeit, umgesetzt zu werden" und dass "eine klare Schieflage in den politischen Entscheidungsfindungen zulasten der Armen" bestehe, stand 2017 sogar im Armutsbericht der Bundesregierung – zumindest fast. Soll heißen: Diese Befunde waren mal in einem Entwurf zu lesen, wurden jedoch in der fertigen Fassung ersatzlos gestrichen, ebenso wie das ganze Kapitel über den Einfluss von Interessenvertretungen und Lobbyarbeit. "In einem anderen Kontext", schreibt die Wirtschaftsjournalistin Christina Deckwirth auf Lobbycontroll, "nennt man so ein Verhalten: Realitätsverweigerung."

Unliebsame Befunde auszublenden oder reichenfreundlich umzudeuten, ist beileibe kein Alleinstellungsmerkmal deutscher Regierungen. Ein Paradebeispiel dafür lieferte der US-amerikanische Senat 2012: Dieser beauftragte den Congressional Research Service (CRS) zu untersuchen, wie <link http: graphics8.nytimes.com news business _blank external-link>gesenkte Spitzensteuersätze das Wirtschaftswachstum anregen und Arbeitsplätze schaffen. Als der CRS jedoch keine Belege für eine Korrelation finden konnte, <link http: www.nytimes.com business questions-raised-on-withdrawal-of-congressional-research-services-report-on-tax-rates.html _blank external-link>verschwand der Bericht nach Protesten der republikanischen Partei in der Versenkung.

Noch heute würden "die üblichen Verdächtigen nicht nur damit weitermachen, das Offensichtliche zu leugnen", schreibt der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman in der "New York Times". Sie würden auch noch die immer gleichen Argumentationsmuster hervorkramen, die bereits seit Jahrzehnten widerlegt seien: "Die Ungleichheit nimmt gar nicht wirklich zu; Ok, tut sie doch. Das ist aber egal, weil wir durchlässige Gesellschaftsschichten haben. Wie auch immer, das ist eigentlich eine gute Sache. Und wer es zum Problem erklärt, ist ein Marxist." Was offenkundig als Beleidigung gemeint ist.

Noch deutlicher wird der Ökonom Joseph Stiglitz, ebenfalls Nobelpreisträger, in seiner Kritik. Nach geläufigen Wirtschaftstheorien helfe der Wohlstand weniger Menschen letztlich allen, wenn er zum Wachstum beitrage, weil er – vergleichbar mit dem Wasser eines Springbrunnens – von ganz oben bis in die untersten Gesellschaftsschichten herunterplätschere. Selbst wenn der Anteil der Armen am Gesamtvermögen abnehme, verbessere sich somit ihr absoluter Lebensstandard. Diese Annahme aber bezeichnet Stiglitz als völlig falsch ("completly wrong"), denn ohne Korrektive komme unten allzu oft überhaupt nichts an.

Für 40 Prozent sanken die realen Einkommen

Passend dazu steigen in Deutschland zwar die Reallöhne im Durchschnitt. Aber davon profitieren bei Weitem nicht alle. Das obere Zehntel der Einkommensskala verfügt inzwischen beinahe über ein Drittel mehr Einkünfte als noch 1991. Im Kontrast zur steigenden Konjunktur und ökonomischen Erfolgsmeldungen müssen jedoch die einkommensärmeren 40 Prozent heute mit weniger Kaufkraft und niedrigeren Reallöhnen auskommen als noch vor zwei Jahrzehnten, <link https: www.diw.de documents publikationen diw_01.c.550894.de external-link-new-window>wie eine Studie des Instituts für Wirtschaftsforschung (April 2017) betont.

"Ein System", sagt Stiglitz in einem seiner Vorträge, "bei dem die Menschen am unteren Ende nach einem Vierteljahrhundert schlechter dastehen als zuvor, ist ein gescheitertes System." Um der extremen sozialen Ungleichheit ernsthaft entgegenzuwirken, werde "sanftes Zwicken" nicht ausreichen. Der ehemalige Chefökonom der Weltbank rät daher, in dieser Angelegenheit sei es "an der Zeit, radikal zu werden."

Welche Positionen allerdings als radikal oder gar extremistisch einzustufen sind, "ist eine Frage des politischen Meinungskampfes und der gesellschaftswissenschaftlichen Auseinandersetzung", urteilte das Bundesverfassungsgericht 2010, deren Beantwortung "in unausweichlicher Wechselwirkung mit sich wandelnden politischen und gesellschaftlichen Kontexten und subjektiven Einschätzungen" stehe. Im Umkehrschluss folgt daraus: Was als normal gilt, muss nicht normal sein.

So fordert die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, zu der sich auf dem Papier sämtliche Industrienationen bekennen, für jeden, und zwar explizit unabhängig vom Vermögen, einen Lebensstandard, der "Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen." Dagegen stehen 66 Millionen Menschen auf der Flucht und jährlich mehrere Millionen Todesfälle, die sich durch eine angemessene soziale Sicherung mit Leichtigkeit verhindern ließen.

Statt aber diese transnationalen Missstände entschlossen anzugehen, <link https: www.woz.ch external-link-new-window>scheint die Ausbeutung der Ärmsten weiterhin akzeptabel und selbst die Regierungen der größten Wohlstandsnationen erachten es als gewählte Repräsentanten offenbar als bedeutsamer, einzelnen zu ermöglichen, ohnehin absurde Privatvermögen weiter anzureichern.

So ist Amazon-Chef Jeff Bezos bei weitem nicht der Einzige, der sein Vermögen im vergangenen Jahr beträchtlich erweitern konnte. Laut dem Milliardärs-Index von Bloomberg haben sich allein die 500 reichsten Menschen der Welt eine Billion Dollar dazuverdienen können. Das ist das Dreifache dessen, was der deutsche Bundeshaushalt an Steuern einnimmt und könnte die 815 000 000 Hungerleidenden dieser Erde sieben Jahre lang versorgen. Sanftes Zwicken allerdings dürfte nicht ausreichen. 


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5 Kommentare verfügbar

  • Schwa be
    am 08.01.2018
    Antworten
    Meines Erachtens (wieder einmal) ein sehr guter, da sehr kritischer und sachlicher Artikel von Minh Schredle.

    "Was Bürger_innen mit geringem Einkommen in besonders großer Zahl wollen, hatte in den Jahren 1998 bis 2013 eine besonders niedrige Wahrscheinlichkeit, umgesetzt zu werden" und dass "eine…
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