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Mehr Kommunismus wagen

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Warum sollten wir uns heute noch mit der Oktoberrevolution beschäftigen? Unter anderem weil wir uns wegen der katastrophalen Folgen des Neoliberalismus wieder in einer "revolutionären Situation" befinden, meint unser Gastautor Michael Weingarten. Der Philosoph plädiert für ein neues Verständnis von Kommunismus und Brüderlichkeit.

Das Erinnern an historische Ereignisse ist nie nur ein neutrales, objektives Gedenken an wichtige Momente, Prozesse und Personen. Viel entscheidender ist die politische Funktion der Inszenierung von Erinnerungskulturen. Mit ihnen werden in oft mythischer Überhöhung und Verdichtung Gründungsprozesse eines Staates als alternativlos unterstellt. Und Verbote von Handlungen, die auf gar keinen Fall auftreten sollten, ausgesprochen und beschworen. Dies war anlässlich der 200-Jahr-Feiern der Französische Revolution so. Dies ist heute mit dem 100. Jahrestag der Russischen Revolution nicht anders.

In beiden Fällen lag und liegt der Schwerpunkt des Erinnerns auf dem Umschlagen der Revolutionsprozesse in Terror, Gewalt und der Errichtung einer Diktatur. Unterstützt wurde gerade diese Sichtweise durch das Zusammenfallen der Erinnerung an die Ereignisse des Jahres 1789 mit den weltpolitischen Ereignissen 1989, dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten und dem Anschluss der DDR an die BRD. Jede Revolution – auch wenn sie mit dem Anspruch auftritt, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu verwirklichen – führe notwendig zu einer Gewaltherrschaft, zu einem Bürger-, ja sogar zu einem Weltbürgerkrieg, so diese Sichtweise. 

Dass diese Umschläge stattgefunden haben, ist unbestritten. Doch folgt daraus, dass der liberale Standpunkt im "Wettstreit der politischen Systeme" als einzig rechtfertigbarer Standpunkt nicht nur einfach übriggeblieben ist, sondern dass es zu ihm auch keine Alternative gibt und geben kann? Selbst Francis Fukuyama, einem Chef-Ideologen der amerikanischen Führung, kamen sehr schnell Zweifel daran, ob diese von ihm selbst aufgestellte Behauptung richtig sei.

Zizeks Gerücht: Warum Brandt Gorbatschow nicht empfangen wollte

Der Philosoph Slavoj Zizek erzählt in einem seiner Bücher ein Gerücht, das auf einen wichtigen Punkt aufmerksam macht: Michail Gorbatschow wollte – so das Gerücht – nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Willy Brandt einen unangemeldeten Besuch abstatten. Doch nicht nur habe sich Brandt geweigert, Gorbatschow zu empfangen, er habe ihm noch nicht einmal die Tür aufmachen wollen. Denn Brandt seien die dramatischen Folgen, die sich durch den Zusammenbruch der Sowjetunion gerade auch für die westlichen Staaten einschließlich der wieder zusammengeführten deutschen Teilstaaten ergeben, bewusst gewesen: Weder seien unter den radikal veränderten Bedingungen die sozial- und wohlfahrtsstaatlichen Institutionen gegen die Angriffe der neoliberalen Ideologen zu verteidigen, noch könnten Staaten weiterhin, orientiert am Gemeinwohl, regulierend und gestaltend in das Wirtschaftsgeschehen eingreifen.

Auch wenn es nur ein gut erzähltes Gerücht ist: Das Ende der sozialistischen Staaten, das Ende des Revolutionszyklus von 1789 über 1848, die Pariser Kommune von 1871, die Russische Revolution von 1917 und die gescheiterte Novemberrevolution 1918 in Deutschland bis hin zu den Ereignissen von 1989 entfesselten weltweit den Neoliberalismus, mit dessen katastrophalen Folgen wir bis heute konfrontiert sind. Und dem wir bisher kein neues, alternatives politisches und Gesellschaftskonzept entgegenzusetzen wissen. Es sind vielmehr rechtspopulistische und rechtsextreme Gruppierungen und Parteien, die von dieser Situation profitieren. Und das, obwohl sie alle – AfD, FPÖ, Front National usw. – wirtschaftspolitisch für den Neoliberalismus stehen; in extremer Form Donald Trump und seine Regierung, die einen "Pöbel der Reichen" (Hegel) verkörpern und eine reine Privatrechtsgesellschaft ansteuern, in der es soziale Verpflichtungen des Einzelnen gegenüber anderen nicht mehr geben soll.

Revolutionen sind an politische Umstände gebunden

Eine revolutionäre Situation ist ein Zustand, in dem die Herrschenden nicht mehr so weiter herrschen können wie bisher und die Beherrschten nicht mehr weiter so beherrscht werden wollen – so jedenfalls definierte es Lenin im Jahr 1917. Für ihn war klar, dass dieser Zustand, und damit die Ermöglichung einer Revolution, gebunden war an den schon drei Jahre andauernden Ersten Weltkrieg, die Kriegsmüdigkeit nicht nur der Soldaten an allen Fronten, sondern auch die Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung auf Grund der sich immer weiter verschlechternden Versorgungslage.

Revolutionen – so Lenin immer wieder – können also nicht einfach so umgesetzt werden, sondern sie sind an jeweils besondere soziale und politische Umstände gebunden. Und diese Umstände sind in jedem Staat andere und für diesen Staat spezifische, sodass auch der konkrete Verlauf eines Transformationsprozesses, der dann im gelungenen Fall als Revolution bezeichnet werden kann, von Land zu Land verschieden ist und keinem allgemeinen Modell, keiner Gesetzmäßigkeit folgt. So erwartete Lenin, dass eine Revolution zumindest im kaiserlichen Deutschland, deren Erfolg für ihn unabdingbare Voraussetzung des Gelingens der Revolution im zaristischen Russland war, anders und unter Nutzung der parlamentarischen Bedingungen erfolgen werde.

Es ist das Scheitern einer sozialistischen Revolution in Deutschland, das – neben vielen anderen Faktoren wie insbesondere der militärischen Intervention ausländischer Truppen ab 1918 – den zunehmend gewaltförmigen Verlauf des russischen Revolutionsprozesses erklärt. Die Einführung der "Neuen ökonomischen Politik" durch Lenin und Trotzki 1921 unterbrach zwar den "Bürgerkrieg" zunächst, führte zugleich aber auch zur Mischform einer sozialistischen und einer privatwirtschaftlich-kapitalistischen Gesellschaft.

Der Neoliberalismus attackiert sich von innen

Leben wir heute in einer im Leninschen Sinn "revolutionären Situation"? Ich meine: Ja! Die Hegemonie und Führungsfähigkeit des Neoliberalismus ist gebrochen. Die Bewegung von Donald Trump und sein Wahlerfolg gegen Hillary Clinton und die Demokratische Partei, aber auch gegen den große Teile der Republikanischen Partei zeigen einen Fraktionskampf innerhalb der Herrschenden. Und machen deutlich, dass ein Weiterherrschen wie bisher zunehmend schwieriger, wenn nicht sogar schon unmöglich geworden ist.

Die vielen weltweit operierenden sozialen Bewegungen, vom "Arabischen Frühling" über Occupy und die spanischen Indignados, aber auch die Erfolge rechtspopulistischer und rechtsextremer Gruppierungen und Parteien zeigen den Unwillen und aktiven Widerstand gegen ein Weiter-so-beherrscht-werden an. Auch wenn es so zu sein scheint, dass in dieser Situation rechte Bewegungen die Profiteure in der politischen Auseinandersetzung sind: Es muss beachtet werden, dass mehr als die Hälfte derjenigen, die Trump in den USA oder die AfD in Deutschland gewählt haben, dies nicht aus Überzeugung taten, sondern aus Enttäuschung über die anderen Parteien. Genau das sollte in den Mittelpunkt unserer Diskussionen gestellt werden, wenn wir politisch ein emanzipatorisches und – ja! – ein neues kommunistisches Projekt verfolgen möchten.

Wenn wir uns nur vergegenwärtigen, dass in Bezug auf die drei Leitworte seit der Französischen Revolution die Liberalen betonen, dass die Forderung nach Gleichheit die Freiheit des Einzelnen verunmögliche; und dass spiegelverkehrt in der linken Tradition gefordert wird, erst die Gleichheit aller ermögliche die Freiheit des Einzelnen, niemand aber zu erläutern versucht, was eigentlich mit "Brüderlichkeit" gemeint ist, dann haben wir da, in dem mit "Brüderlichkeit" Gemeinten, doch vielleicht einen bisher nicht versuchten, anderen Anfangspunkt.

Kommunismus ist Bewegung, nicht Endzustand

In der "Deutschen Ideologie" schreiben Marx und Engels: "Der Kommunismus ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach sich die Wirklichkeit zu richten haben [wird]." Um polemisch die Spannweite anzudeuten: Von Ernst Bloch bis Stalin wurde aber der Kommunismus als ein herstellbarer Zustand imaginiert und zugleich als ein so hohes Ziel, dass der Versuch seiner Herstellung den Gebrauch eines jeden Mittels, insbesondere auch den Gebrauch jedes Gewaltmittels rechtfertige. Es ist genau ein solches Verständnis von Kommunismus, dass revolutionäre Prozesse in Terror und Gewaltexzesse umschlagen lässt!

Für Marx und Engels aber war der Kommunismus etwas völlig anderes: "Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung." Den Kommunismus als wirkliche Bewegung finden wir hier und heute, nicht erst als irgendwie heilsgeschichtlichen Zustand in einer fernen und unbestimmten Zukunft.

Woher aber wissen wir und können wir wissen, ob eine der vielen sozialen und politischen Bewegungen diese wirkliche Bewegung ist? Denn für Marx und Engels zeichnet sich eine Bewegung dadurch als wirkliche Bewegung aus, dass sie den gegenwärtigen Herrschaftszustand sowie die damit verbundenen Formen der Unfreiheit, Ungleichheit und Ungerechtigkeit aufgehoben haben wird. Da aber bis jetzt von keiner der vorfindlichen Bewegungen die gegenwärtigen Herrschaftsverhältnisse aufgehoben worden sind, sollte jeder von uns als Akteur in einer Bewegung wie überhaupt im Umgang mit Personen untereinander die Ziele der Anderen anerkennen – selbstverständlich nicht jede beliebige andere Meinung, jedes beliebige andere Ziel. Denn welche Meinungen und Ziele einen Rückschritt hinter den erreichten gegenwärtigen Zustand darstellen, lässt sich doch relativ leicht erkennen.

Anerkennungsverhältnisse sind Momente einer Sozialform, die in der Antike mit Freundschaft oder in der Französischen Revolution mit Brüderlichkeit benannt wurden. Die Wirklichkeit einer solchen Sozial- oder Lebensform ist Voraussetzung für die Bestimmungen von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit; oder anders formuliert: Der Kommunismus als wirkliche Bewegung in unserer jeweiligen Gegenwart ist in seinem Anfang genau dadurch gekennzeichnet, dass wir uns um das uns Gemeinsame bemühen, dass jeder von uns in seinem individuellen Tun zugleich auch einen Beitrag leistet zu dem uns allen Gemeinsamen. Diesen Streit um das uns Gemeinsame und dessen Ausgestaltung als Lebensform können wir heute führen und setzen so schon einen anderen Anfang im Unterschied zum neoliberalen Egoismus.

Michael Weingarten lehrt als Professor für Philosophie in Stuttgart und Marburg. Er ist Mitbegründer des Hannah-Arendt-Instituts für politische Gegenwartsfragen. Der vorliegende Text ist die gekürzte Fassung eines Vortrags, den er im Stuttgarter Theater am Olgaeck gehalten hat. Am 11. November spricht Weingarten im Hegelhaus über "Platons Höhlengleichnis" – und warum der griechische Philosoph damit das Grundmodell aller totalitären Herrschaftsformen entwickelt habe.


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10 Kommentare verfügbar

  • Bernd Oehler
    am 06.11.2017
    Antworten
    Ich empfehle den Kauf der Süddeutschen Zeitung von heute (6.11.2017), zur Lektüre der Paradise Papers. Wenn dann noch jemand meint, man könne von einer »im Leninschen Sinne« revolutionären Situation reden, kann das Gesumse vom Kommunismus ja weitergehen. Ansonsten empfiehlt sich die Beschäftigung…
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