Das Erinnern an historische Ereignisse ist nie nur ein neutrales, objektives Gedenken an wichtige Momente, Prozesse und Personen. Viel entscheidender ist die politische Funktion der Inszenierung von Erinnerungskulturen. Mit ihnen werden in oft mythischer Überhöhung und Verdichtung Gründungsprozesse eines Staates als alternativlos unterstellt. Und Verbote von Handlungen, die auf gar keinen Fall auftreten sollten, ausgesprochen und beschworen. Dies war anlässlich der 200-Jahr-Feiern der Französische Revolution so. Dies ist heute mit dem 100. Jahrestag der Russischen Revolution nicht anders.
In beiden Fällen lag und liegt der Schwerpunkt des Erinnerns auf dem Umschlagen der Revolutionsprozesse in Terror, Gewalt und der Errichtung einer Diktatur. Unterstützt wurde gerade diese Sichtweise durch das Zusammenfallen der Erinnerung an die Ereignisse des Jahres 1789 mit den weltpolitischen Ereignissen 1989, dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten und dem Anschluss der DDR an die BRD. Jede Revolution – auch wenn sie mit dem Anspruch auftritt, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu verwirklichen – führe notwendig zu einer Gewaltherrschaft, zu einem Bürger-, ja sogar zu einem Weltbürgerkrieg, so diese Sichtweise.
Dass diese Umschläge stattgefunden haben, ist unbestritten. Doch folgt daraus, dass der liberale Standpunkt im "Wettstreit der politischen Systeme" als einzig rechtfertigbarer Standpunkt nicht nur einfach übriggeblieben ist, sondern dass es zu ihm auch keine Alternative gibt und geben kann? Selbst Francis Fukuyama, einem Chef-Ideologen der amerikanischen Führung, kamen sehr schnell Zweifel daran, ob diese von ihm selbst aufgestellte Behauptung richtig sei.
Zizeks Gerücht: Warum Brandt Gorbatschow nicht empfangen wollte
Der Philosoph Slavoj Zizek erzählt in einem seiner Bücher ein Gerücht, das auf einen wichtigen Punkt aufmerksam macht: Michail Gorbatschow wollte – so das Gerücht – nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Willy Brandt einen unangemeldeten Besuch abstatten. Doch nicht nur habe sich Brandt geweigert, Gorbatschow zu empfangen, er habe ihm noch nicht einmal die Tür aufmachen wollen. Denn Brandt seien die dramatischen Folgen, die sich durch den Zusammenbruch der Sowjetunion gerade auch für die westlichen Staaten einschließlich der wieder zusammengeführten deutschen Teilstaaten ergeben, bewusst gewesen: Weder seien unter den radikal veränderten Bedingungen die sozial- und wohlfahrtsstaatlichen Institutionen gegen die Angriffe der neoliberalen Ideologen zu verteidigen, noch könnten Staaten weiterhin, orientiert am Gemeinwohl, regulierend und gestaltend in das Wirtschaftsgeschehen eingreifen.
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Bernd Oehler
am 06.11.2017