KONTEXT:Wochenzeitung
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Cui bono 4.0

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Allen wird es besser gehen. Den Managern und den Malochern. Alles dank Industrie 4.0. Das sehen auch die Gewerkschaften so und bieten sich als konstruktive Begleiter an. Weil alle den Erfolg der deutschen Wirtschaft wollen. Die Frage ist nur, wem's nutzt.

Wo vermeintlich alle profitieren, verwundert nicht, dass auch alle dafür sind: für die Digitalisierung. Detlef Wetzel, Ex-Vorsitzender der IG Metall, schreibt in seinem Buch "Arbeit 4.0" (Herder-Verlag, Freiburg), dass man mit der Industrie 4.0 der deutschen Volkswirtschaft die "richtige Richtung" geben könne. Für Angela Merkel ist sie "für unseren Wohlstand von entscheidender Bedeutung". Die Konzerne wollen sie so oder so, von Bosch über Siemens bis zu Daimler. Die einzige Frage, die sich Wissenschaft und Journalismus bei solch trauter Einheit zu stellen trauen, ist dann wenig überraschend: "Wie gelingt die digitale Transformation?"

Die Rechnung, die hier von allen Seiten aufgemacht wird, ist denkbar simpel: Was gut für Deutschlands Wirtschaft ist, das ist auch gut für den Einzelnen. Und wie genau das aussehen soll, ist in vielen wissenschaftlichen Büchern nachzulesen, so etwa in dem soziologischen Sammelband "Zukunft der Arbeit in Industrie 4.0", herausgegeben von Alfons Botthof und Ernst Andreas Hartmann. Für den Physiker und den Psychologen haben technische Neuerungen, die in der Logistik beginnen und bei Funktionen des "Managements und der Internetdienste" noch lange nicht aufhören, das Potenzial, "die vielfältigen industriellen Prozesse grundlegend zu verbessern". Klingt wunderbar.

Natürlich hilft die Industrie 4.0 auch gegen den demografischen Wandel, weil die cyber-physischen Systeme – also die Vernetzung verschiedener Maschinen – die Arbeit auch "belastungsmindernd" gestalten können, und so auch 65-Jährige noch in der Produktion schuften können. Klingt noch besser. Überhaupt kann durch die High-End-Digitalisierung die Arbeit so gestaltet werden, dass "die Produktivität älterer Arbeitnehmer in einem längeren Arbeitsleben" erhalten bleibt. Das führe sogar dazu, dass sich auf der einen Seite der Anteil "der von Mitarbeitern auszuführenden (körperlich und ggf. auch geistig) belastenden Tätigkeiten" verringert wird. Auf der anderen Seite werde es aber auch "weiterhin einfache Arbeiten geben". Das klingt beruhigend.

Wohltaten gibt es nur bei Erfolg von 4.0

Das Versprechen der Industrie 4.0 besteht also darin, dass die Arbeit leichter und weniger wird. Diejenigen, die sie verrichten, bleiben noch länger produktiv und Deutschland wettbewerbsfähig. Das klingt verdächtig. Bei der Wettbewerbsfähigkeit handelt es sich den Autoren nach nämlich nicht etwa um einen Vorteil unter vielen, sondern um die Voraussetzung all der Wohltaten für die Beschäftigten. Denn "erst eine wettbewerbsfähige Arbeit lässt eine flexible Arbeitsorganisation zu, die es den Mitarbeitern ermöglicht, Beruf und Privatleben sowie Weiterbildung besser miteinander zu kombinieren und so eine Balance zwischen Arbeit und Familie zu erreichen", schreibt der Arbeitswissenschaftler Klaus-Detlev Becker über die "<link http: studlib.de maschinenbau positionen_sozialpartner external-link-new-window>Positionen der Sozialpartner".

In diesem Zusammenhang wird auch das Risiko der Industrie 4.0 benannt: Wenn Deutschland der Sprung in das "next level" nicht gelingen sollte, wird es auch nichts mit den Heilsversprechen. Aus dieser Sorge folgt stante pede die Frage, die jetzt alle umtreibt: Wie kann deutsche Arbeit konkurrenzfähiger als die in China und den USA werden? Hat nicht eben Donald Trump klargemacht, dass sich Europa schon viel zu lange auf Kosten der United States bereichert habe, und jetzt "America first" gelte? Wie reagiert Deutschland darauf?

Natürlich mit der neuen Technik! Damit nicht genug: "Die Frage der Wettbewerbsfähigkeit entscheidet sich jedoch nicht allein an den technischen und organisatorischen Möglichkeiten der Industrie 4.0", schreibt Klaus-Detlev Becker, "sondern an deren effizienten und produktivitätssteigernden sowie kostengünstigen Anwendung in den Unternehmen". Das Augenmerk sei hier auf "kostengünstig" gerichtet. Auf was es ankommt, ist die möglichst billige Anwendung der Technik und der Arbeitskraft, als Bedingung, etwas von den Segnungen abzubekommen. Das heißt: zuerst die Produktivität der Arbeit steigern, dann durch Technik mehr Leistung des Arbeiters erzeugen. Kostengünstig bedeutet so nichts anderes, als ein für das Unternehmen günstiges Verhältnis aus Produktivitätssteigerung und Kosten zu schaffen. Also eine Verdichtung der Arbeit, damit Deutschland in der Konkurrenz als Sieger hervorgeht.

Letztlich geht es wieder um Druck auf die Löhne

In Deutschland heißt kostengünstige Produktion vor allem: durch Technik die Lohnstückkosten senken. Das Mittel, um Germany also "great again" zu machen, ist das Drücken des hiesigen Lohnes – wenn nicht total, so zumindest der Lohnstückkosten. Sonst heißt es eben "game over" für zahlreiche Angestellte. Wer also kein Unternehmen führt, sondern vom monatlichen Lohn seine Miete bezahlt, sollte sich gründlich überlegen, ob er oder sie in dieser Partie mitspielen will.

Von all den angepriesenen "Chancen" für die Beschäftigten bleibt nur der Traum, die Technik könnte etwas "potenziell Emanzipatorisches" haben. Doch was nützt Emanzipation bloß im Traum? Die meisten wissenschaftlichen, journalistischen und politischen Texte sprechen eine klare Sprache, wenn es darum geht, den tatsächlichen Zweck der Industrie 4.0 zu benennen. Der liegt nicht darin, den Menschen das Leben zu erleichtern, sondern Deutschland in der internationalen Konkurrenz voranzubringen. Das Risiko des Arbeitsplatzverlustes ist für die ArbeiterInnen also nicht nur dann gegeben, wenn das deutsche Kapital gegen die USA unterliegt. Es besteht auch, wenn Deutschland seine "Chance" nutzt. Die liegt nämlich darin, die Unternehmenskosten weiter zu reduzieren, und das wiederum ist das Risiko für die Lohnabhängigen.

Das Tragische an der neuen digitalen Welt ist, dass die Unternehmen heute keine Arbeiterschaft mehr zu befürchten haben, die sich gegen solche Zumutungen wehrt. So ist auch im Vorwort des erwähnten Sammelbands "Zukunft der Arbeit in Industrie 4.0" eine Einsicht zu lesen, die alarmierend ist: "Wenn früher 'Die Weber' ohnmächtig kämpften und später in England noch die 'Maschinenstürmer' drastisch Entwicklungen zu verhindern suchten, so prägen heute konstruktive Debatten um die Zukunft von Arbeit im digitalen Zeitalter die Auseinandersetzung zwischen den Sozialpartnern." Schlimm, wenn die Schicksalsergebenheit des modernen "Humankapitals" auch noch als lobenswerter Fakt daherkommt.

Die Gewerkschaften wollen auf keinen Fall Bremser sein

Die Gewerkschaften kennen alle diese Diskussionen um die Industrie 4.0 und verlangen deshalb die "Arbeit 4.0". Sie erinnern mahnend an die Folgen für ihre Klientel, <link http: www.kontextwochenzeitung.de gesellschaft mensch-oder-roboter-4034.html internal-link-new-window>so wie Julia Friedrich vom DGB das in Kontext (Ausgabe 302) getan hat. Ihre eigene Rolle sehen sie darin, "im Interesse der Beschäftigten" zu gestalten, wie es in dem Artikel heißt. Keinesfalls möchte man als Bremser wahrgenommen werden oder gar so handeln. Denn ein Erfolg der deutschen Industrie soll die Grundlage für eine neue Sozial- und Arbeitspolitik bieten. Das stellt etwa Verdi-Chef Frank Bsirske im Handbuch "Gute Arbeit" von 2016 klar: "Die entscheidende Aufgabe der bevorstehenden Jahre besteht darin, die gewaltigen Zugewinne an Produktivität und Reichtum, die durch den digitalen Umbruch möglich werden, zur Förderung solcher Dienstleistungen in gesellschaftlichen Bedarfsfeldern zu nutzen – nicht nur um Arbeitsplätze zu schaffen, sondern auch, um humanen, sozialen, ökologischen Fortschritt zu ermöglichen." So wird der Industrie 4.0 grundsätzlich zugestimmt.

Jörg Hofmann, Erster Vorsitzender der IG Metall und Constanze Kurz, Leiterin seines Ressorts Zukunft der Arbeit, verlangen im gleichen Handbuch, dass bei aller Profitproduktion auch "gute" Arbeitsplätze für die Lohnabhängigen abfallen müssten. Dieser gesellschaftliche Nutzen, an dem die Gewerkschaften die Industrie 4.0 messen wollen, ist dann auch die objektive Grenze ihrer Intervention. Denn erfolgreich soll die Industrie sein – mit Hilfe der Arbeitnehmervertreter, die Industriearbeit flexibler und mobiler machen, die schlimmsten "Auswüchse" aber verhindern wollen. Bei IGM-Chef Hofmann liest sich das so: "Nur wenn IG Metall, Betriebsräte und Beschäftigte die Arbeitswelt der Zukunft mitgestalten, wird die industrielle Wertschöpfung hierzulande human und nachhaltig profitabel, statt rein profit- und technikzentriert sein." Ihr erklärtes Ziel ist es, "Industrie 4.0" zu einer "Erfolgsstrategie für Unternehmen und Beschäftige" zu machen.

Der Erfolg "der Wirtschaft" ist damit die Voraussetzung des gewerkschaftlichen Kampfes um bessere Arbeitsbedingungen und erfolgreiche Sozialpolitik. Und so prüft die Gewerkschaft kritisch, ob jede Entlassung aufgrund neuer Rationalisierung, ob jede Verdichtung von Arbeit und Flexibilisierung von Arbeitszeiten tatsächlich notwendig für den Erfolg des Unternehmens ist – und kritisiert ihn dort, wo sie ihn für überflüssig hält.

Das geht soweit, dass gegen die körperliche Vernutzung der Beschäftigten nur noch dort etwas eingewendet wird, wo das Streben nach Gewinn seine eigene Grundlage zu untergraben droht: "Wenn die Menschen bis 67 arbeiten sollen, dann können wir es uns schlicht nicht leisten, dass sie mit 50 schon körperlich oder psychisch verschlissen sind. Und damit es nicht zu diesem Verschleiß kommt, brauchen wir die richtigen Arbeitsvoraussetzungen. Darum sage ich: Gesunde Mitarbeiter sind die besseren Mitarbeiter. Sie leisten mehr – und das länger."

Da freut man sich, wenn etwa Hans-Jürgen Urban, Vorstandsmitglied der IG Metall, festhält, dass die realen Zumutungen für die Malocher im Gegensatz zu der "Vorstellung eines klassen- und interessenübergreifenden" Interesses an der Digitalisierung der Wirtschaft stehen. Früher hieß das Widerspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital.

 

Peter Schadt (28) promoviert zum Thema Industrie 4.0 an der Universität Duisburg-Essen. Er ist Ortsvorstand der Sozialistischen Jugend – Die Falken Stuttgart.

Ausgewählte Literatur zum Thema:

  • Botthof, A., Hartmann, E.A. (2015). Zukunft der Arbeit in Industrie 4.0. Heidelberg, Springer Vieweg.
  • Bsirske, F. (2016). Digitalisierung und Beschäftigung: Prognosen und Perspektiven. In L. Schröder, H.-J. Urban. Gute Arbeit 2016 Digitale Arbeitswelt - Trends und Anfordertungen. Frankfurt, Bund-Verlag.
  • Hofmann, J., Kurz, C. (2016). Industrie 4.0 - Industriearbeit der Zukunft im digitalen Wandel. In L. Schröder, Dr H.-J. Urban.
  • Kollmann, T., Schmidt, H. (2016). Deutschland 4.0. Wie die Digitale Transformation gelingt. Wiesbaden, Springer Gabler.
  • Syska, A., Lièvre, P. (2016). Illusion 4.0. Deutschlands naiver Traum von der smarten Fabrik. Herrieden, CETPM Institut an der Hochschule Ansbach.
  • Wetzel, D. (2016). Arbeit 4.0. Was Beschäftigte und Unternehmen verändern müssen. Freiburg, Herder.

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2 Kommentare verfügbar

  • M. Stocker
    am 06.02.2017
    Antworten
    Also gut, Industrie 4.0 denn. Was war nochmals Industrie 2.0? 3.0? Gab es irgendwann mal 3.1 oder 3.5 davor?
    In erster Linie ist Industrie 4.0 ein gelungener Marketing-Gag der deutschen Maschinenbau-Industrie, die auf einmal so tut, als hätte es in den letzen 30 Jahren keine Automatisierung…
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