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Die Mühen der Ebene

Die Mühen der Ebene
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Mehr als auswendig lernen und atmen: im zweiten Teil ihrer Innenschau berichtet die Dramaturgin Beate Seidel von der Arbeit mit den Laienschauspielern im Stuttgart-Drama des Schauspiels.

Zwei Probenwochen liegen hinter uns. Der Theorie folgt die Praxis, und das sind die Proben. Die sind anstrengend. Am Vormittag versuchen die Schauspieler auf einer dunklen Probebühne, die Canyonwelt des Mittleren Westens zu imaginieren, mit vier Autositzen und zwei Lenkrädern Verfolgungsjagden zu simulieren oder auf drei Meter hohen Holztribünen schwindelerregende Abgründe zu erahnen und dabei Debatten zu führen, die um das moralische Recht auf Gewalt oder Mitbestimmung kreisen, darum, wie man sich wehrt, wenn das Establishment zuschlägt.

Am Abend trainieren die neu engagierten Choristen, von denen die meisten keine Bühnenerfahrung haben, zunächst einmal das gemeinsame chorische Sprechen. Dafür braucht es Geduld und  hohe Konzentration: Wie laut darf ich sein? Wie erreiche ich einen spielerischen Ausdruck, der über das fehlerlose Aufsagen eines Textes hinausreicht? Was heißt das, "auf der Bühne etwas mitteilen" wollen? All diese Fragen müssen bei einer Probe, die täglich um 18 Uhr beginnt und um 22 Uhr endet, immer wieder aufs Neue beantwortet werden. Der Zeitaufwand, den unsere inzwischen 27 SpielerInnen investieren müssen, ist enorm. Denn das eine sind die abendlichen Proben, das andere ist das Textpensum, das sich von Tag zu Tag vergrößert. Auswendig lernen ist, wenn man es nicht gewöhnt ist, zumindest für die Älteren unter den Beteiligten kein Pappenstiel. "Fragt die Schauspieler, wie sie den Text in den Kopf kriegen", fordert Regisseur Volker Lösch auf.

Der Chorleiter Bernd Freytag ermutigt, spricht vor, hört den Sprechversuchen genau zu, verändert ihren Ausdruck. Er tut dies mit großer Beharrlichkeit und Geduld. Jedes Atmen, jede Zäsur ist festgelegt. Für lockere Improvisation ist in diesem Arbeitszusammenhang kein Raum, chorisches Sprechen ist Präzisionsarbeit. Wenn die jedoch gelingt, kann der Zuschauer eine gemeinsame Kraft spüren. Das ist das Ziel. Aber es ist hochgesteckt und liegt mindestens noch sechs Wochen entfernt.

Drei Erzählstränge wollen in dieser Inszenierung miteinander verbunden sein. Der dritte, der direkte Stadtbezug, entsteht gerade in den Gesprächen, die wir inzwischen nicht nur innerhalb unserer Gruppe führen, sondern auch mit Menschen, die sich in der K21-, aber auch der S21-Bewegung exponiert haben.

Wir sind auf der Suche nach verschiedenen Antworten auf das Großthema: Wem gehört die Stadt? Und: Wie soll sie uns gehören?

Der alte Bahnhof als sinnlich fassbares Symbol

"Basisdemokratisch" ist eine immer wieder vorgebrachte Forderung, was für die meisten unserer Befragten bedeutet: die Möglichkeit, mit Volksentscheiden und Bürgerbegehren an den zukunftsweisenden Entscheidungen in der Stadt wirklich teilhaben zu können. Und das heißt wiederum: die Hürden, die einen Volksentscheid im Land zu einem kräfte- und zeitraubenden Unternehmen mit geringen Erfolgsaussichten machen würden, zu senken.

Der alte Bahnhof ist zu einem sinnlich fassbaren Symbol geworden, an dem sich über Jahre hinweg angestauter Unmut Luft macht.

Die Finanzkrise mit den darauf folgenden Milliardendeals zwischen Bund und Banken war, so einer unserer Interviewpartner, Zündstoff genug. Trotzdem: die Unvorstellbarkeit von zig Milliarden, die nur als Zahlen existieren, deren Nullenanzahl man gar nicht so ohne Weiteres erfassen kann, machte eher müde und zynisch als zornig und aktiv. "Die da oben" hatten wieder etwas entschieden, was absurderweise dem Wohl  des Volkes dienen sollte, und "die da unten" winkten sarkastisch ab. Man war es einfach leid.

Nun aber, da es um die Perspektive eines Ortes, also des Bahnhofs, geht, den fast jeder auf irgendeine Art nutzt, wird unübersehbar und eben direkt erlebbar, wie in die Lebensplanung der Bürger dieser Stadt hineinregiert wird. Das, so die überwiegende Meinung unserer Gesprächspartner, kann man von "oben" nach "unten"  doch nicht so unwidersprochen durchziehen. Da sammelt sich Widerstand, der sich gegen Konkretes wendet: gegen zu teure Tunnel, Gleise und Mauern, die mit dem Zukunftskonzept höher/schneller/weiter verknüpft sind, das von vielen, Alten wie Jungen, nicht mehr fraglos geteilt wird.

Das Team des Schauspiels fühlt sich in einer Art Wartezustand

Denn was bringt die Einsparung von Reisezeit zwischen Stuttgart und Ulm oder Stuttgart und München wirklich an gewonnener Lebensqualität? Es ist, meint ein Unternehmer gegen Stuttgart 21, doch nur Zeit, die wir wieder zum Arbeiten verwenden und nicht zur Muße, zu der uns eine längere Zugfahrt aber möglicherweise zwingen würde.

Wir, das Team, befinden uns während unserer Arbeit in einer Art Wartezustand. Einerseits erleben wir ein großes Selbstbewusstsein bei den Beteiligten, denn ein Großziel ist ja geschafft, die Abwahl einer Regierung vollzogen.

Andererseits beschäftigt uns, wie es weitergehen  wird – nun, nach der Wahl. Wie werden die Koalitionsverhandlungen ausgehen? Gegen wen oder was richtet sich nun der Protest, der vitale Motor einer solchen Theaterproduktion, die ihren Inhalt aus einem Konfliktfeld beziehen soll, das sich aber möglicherweise aufgelöst hat?

Bliebe die affirmative Selbstfeier. Das wäre zu wenig.

Bilder dem Filmstoff "Metropolis" entlehnt

Also recherchieren wir weiter. Denn die Meinung, dass Stuttgart eine ökonomische Apokalypse drohe, wenn die Bürgerschaft ein beschlossenes Bauprojekt stürzen sollte, ist ja nicht plötzlich verschwunden. Sie artikuliert sich nur vorsichtiger. Etwa in der Frage, was es bedeuten würde, sich von der städtebaulichen Vision einer neu gewonnenen Stadtfläche zu verabschieden – für den Fall, dass das Gleisbett oben bliebe? Oder in der Behauptung, dem ganzen Aufbäumen gegen das Modernisierungsprojekt S 21 läge Rückwärtsgewandtheit zugrunde.

Ja, mehr Urbanität in der Tallage ist ein Traum, den ich mitträumen könnte, befürchtete ich nicht, dass diese Urbanität ein ebenso lebloses Gesicht wie das Betonviertel hinterm Bahnhof hätte.  So bewegen wir uns augenblicklich im Offenen, häufen interessante Materialien und Texte an, die vom Aufbruch erzählen, aber auch von einer neuen Skepsis, die einerseits ein Gemeinschaftsgefühl beschwören, andererseits Vertrauensverluste beschreiben. Alldem Raum zu geben – neben dem einer skurrilen Cowboygeschichte und expressionistisch aufgeladenen, dem Filmstoff "Metropolis" entlehnten Bildern – ist die Aufgabe für die verbleibende Zeit.

Wir versuchen, den Kopf oben zu behalten.

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