KONTEXT:Wochenzeitung
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Romantik S 21

Romantik S 21

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Erotik ist ihr nicht fremd. Und die Fallen des Bürgertums sind ihr vertraut. Die Stuttgarter Schriftstellerin Anna Katharina Hahn seziert schonungslos das schwäbische Bürgermilieu. Den Protest gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 hält sie in erster Linie für Romantik. Gegen die Macht der Finanzwelt zu demonstrieren sei sinnvoller und wichtiger, als Bahnhöfe zu beschützen. Ein Gipfelgespräch auf dem Dach des Stuttgarter Linden-Museums.

Anna Katharina Hahn auf dem Dach des Linden-Museums. Sie hat in Berlin und München gelebt und ist nach Stuttgart zurückgekehrt.

Wir sind dem Linden-Museum aufs Dach gestiegen, das in seiner völkerkundlichen Sammlung die Vielfalt der Kulturen abbildet. Hier haben Sie im Sommer gelesen aus einem Text, den Sie über ein erotisches Netsuke aus der hiesigen Sammlung geschrieben haben. Was verbinden Sie mit diesem Ort?

Das Linden-Museum ist ein Ort, in den mich meine Eltern mitnahmen. Und als ich dieses Angebot bekommen habe ...

... einen literarischen Text zu verfassen über ein Objekt Ihrer Wahl aus der Sammlung ...

... da dachte ich, dass es einfach toll ist, wieder hierherzukommen und zu schauen, was sich verändert hat. Und das Angebot war verlockend, hinter die Kulissen dieses Hauses treten zu können, in diese dunklen Räume mit den afrikaniscTaucherin und Krake, ein Netsuke aus Japan. Foto: Anatol Dreyer, Linden-Museum Stuttgart.hen Masken, die mich als Kind so fasziniert haben. Es ist ja ein Privileg, diese Schätze in die Hand nehmen zu dürfen, das hat mich gereizt. 

Warum haben Sie sich von den 850 Netsukes, diesen japanischen Handschmeichlern, die es auch in den Varianten faule Frucht oder liebevoll geschnitzte Ratte gegeben hätte, ausgerechnet das erotischste ausgesucht?

In "Fluss ohne Ufer" von Hans Henny Jahnn gibt es eine Szene, da geht der Held in einen chinesischen Laden, einen antiken obskuren Laden, und bekommt eine chinesische Schnitzerei, ein Brautgeschenk gezeigt. Rotes Gift wird sie genannt, und sie soll bewirken, dass Fleisch an Fleisch kleben bleibt. Das wird sehr plastisch beschrieben. An diese drastische Darstellung musste ich sofort denken. Denn bei Jahnn ist die ganze Gewalt der Erotik thematisiert. Schlechten und billigen Sex kann man heute an jeder Ecke kaufen. Und ich dachte, wenn ich jetzt hier die Gelegenheit habe, in solch einer umfangreichen Sammlung zu stöbern und tatsächlich etwas zu berühren, da blitzte die Erfahrung dieser Lektüre in mir auf, und ich dachte mir: Ja, das schnappst du dir, auch wenn du gar keine Zeit hast. Tatsächlich war das Netsuke "Taucherin und Krake" ein tolles Erlebnis.

Die Figur hat ja ein Geheimnis. Von vorne sieht man nur den Kraken, der die Brüste der Frau umschlingt. Aber wenn man das Netsuke umdreht, sieht man das Geschlecht der Frau und was der Krake mit seinen Tentakeln alles sonst noch tut. Bei der Lesung hier im Linden-Museum beklagte sich eine Frau, sie hätte eine erotische Geschichte erwartet und nicht so einen amüsierten Text, wie Sie ihn verfasst haben. Enttäuschen Sie gerne Erwartungen?

Es ist das Beste, was man tun kann. Dass man den Leuten nicht nach dem Mund redet, sondern dass man sie dazu bringt, Dinge anders zu sehen, als sie es erwarten. Das ist doch unsere Aufgabe als Schriftsteller.

Und vielleicht, um im Symbol des Netsuke zu bleiben, das Unsichtbare sichtbar zu machen?

Ja. Manchmal werden Dinge ja auch unsichtbar, weil man sie schon zu oft gesehen hat. Wenn man liest, sieht man die Welt durch den Kopf des Autors und kann die Dinge auch einfach einmal umdrehen. Ich fand die Reaktion dieser enttäuschten Frau toll, weil sie gezeigt hat, dass der Text sie geärgert hat. Mehr kann man sich als Autor nicht wünschen, als dass sich jemand aufregt und nicht etwa wohlig zurücklehnt. Erotik oder Sexualität ist ja nichts Gemütliches. Erotik und Sexualität – das ist eine unterschätzte Gewalt, weil sie so präsent und so abgenudelt ist, dass man sich überhaupt nicht mehr klar macht, welche Macht sie hat und wie gefährlich sie ist. Sexualität ist inzwischen so stark kommerzialisiert, dass mit einem nackten Körper alles verkauft werden kann. Und was die Erotik angeht, ist das Versteckte sicher aufregender als das Offensichtliche.

Hier im Linden-Museum sind verschiedene Kulturen versammelt, die japanische ist ein Teil davon. Sie sind unterschiedlich, aber gibt es auch so etwas wie Konstanten? Eine anthropologische Kultur?

Ich denke schon, dass es Grundmuster menschlicher Erfahrung und Gefühle gibt, die rund um die Welt alle teilen. Die großen Probleme sind bei allen Völkern gleichermaßen mit Riten belegt, die tiefen Einschnitte in jedem menschlichen Leben wie Geburt, Liebe, Tod, Hochzeit, Sterben, Krankheiten. Die Gefühle, die dadurch hervorgerufen werden, sind wahrscheinlich überall ähnlich.

Stuttgart hat eine starke evangelisch-pietistische Prägung, sagt Anna Katharina Hahn.

Dann müssten sich doch alle Kulturen und Völker gut verstehen, was ja offensichtlich nicht der Fall ist?

Ich frage mich, ob die Dinge, weswegen die Menschen sich nicht verstehen, nicht auch überall die gleichen sind. Letzten Endes geht es doch um Profit, um Geld, auch wenn ein Konflikt etwa als Religionskrieg verkauft wird. 

Es gibt auch in der Literatur Grundmuster. So Dinge wie Ich und Du, das Personelle, es gibt die Zwischenräume, es gibt die Frage, wie ich denke, ob linear oder zyklisch. Wie zeitlos sind diese Grundmuster?

Es gibt vielleicht 20 verschiedene Geschichten, die man erzählen kann, und die sind alle schon in vielen Varianten erzählt worden. Es gibt nicht so viele Dinge, die zwischen Menschen passieren. Es geht darum, dass man sie in der eigenen Sprache erzählt und durch die eigene Brille sieht.

Sie sind hier geboren, haben in Hamburg und Berlin gelebt und sind wieder zurückgekommen. Was ist für Sie schwäbische Kultur?

Ich habe gemerkt, dass ich schwäbischer bin, als ich dachte. Als ich hierher zurückgekommen bin, musste ich mich neu verorten. Und ich stellte fest, dass ich schreiben kann in Stuttgart, dass hier Stoffe mich umgeben, und das gefällt mir sehr gut.

Was haben Sie bei Ihrer Rückkehr anders gesehen?

Der Dialekt, diese starke evangelisch-pietistische Prägung und die Stadt mit ihrer Geschichtlichkeit, das hat mich früher überhaupt nicht interessiert. Jetzt ist es die Stadt, in der ich meine Kindheit verbracht habe. Sie ist vielleicht nicht so reizvoll wie Paris oder Wien, aber es ist ein Ort, gefüllt mit Erinnerungen. Dadurch wird jeder Ort zum Stofflieferanten für den Autor. Da sind wir wieder bei der subjektiven Brille.

Bleiben wir beim Pietismus, der die Stadt prägt. Gibt es denn eine schwäbische Erotik?

(lacht). Darüber hab ich noch nie nachgedacht. Ich glaube nicht, dass die Macht der kirchlichen Institutionen bis ins Schlafzimmer reicht. Nein, ich kann mir unter schwäbischer Erotik nichts vorstellen.

Schwäbische Erotik? Darunter kann sich Anna Katharina Hahn nichts vorstellen.

Wie wär's mit Schwimmen am Warmbadetag?

Sie spielen auf Klaus und Judith an, eines der Ehepaare aus meinem Buch "Kürzere Tage". Na ja, ich stelle mir unter Schwimmen am Warmbadetag eine langweilige, eingeschlafene, in Routine erstarrte erotische Beziehung vor. Aber das ist sicher nicht nur schwäbisch.

Ihre Romanfiguren sind nicht eben sympathisch. Sie leben ein wenig selbstbestimmtes, von außen dominiertes Leben, ein gemietetes Leben. Wie kommt es dazu?

Judith ist vollkommen von Angst besetzt und flüchtet sich mit ihren Kindern in die Waldorfwelt wie in eine Ersatzreligion. Ich denke, unsere Gesellschaft ist sehr angstbesetzt, viele Leute fürchten sich, vor allem, wenn sie Kinder haben. Da lastet ein enormer Druck auf allen.

Sie beschreiben mit scharfem Blick nicht nur das schwäbische Bürgermilieu.

Ob man die richtigen Lebensmittel kauft oder die richtigen Heilmittel parat hat, das sind alles Dinge, an denen man sich festhalten kann, um irgendwie unbeschadet durch dieses Leben zu gehen. Für die einen sind das Markenartikel, für die anderen die Ernährung. Es gibt verschiedene Leuchttürme, an denen sich die Leute orientieren, weil es ihnen fehlt an Selbstbestimmung und Sinngebung. Die Verunsicherung im riesigen Markt der Möglichkeiten ist groß; dann hilft es, wenn man sich über die Farbe des Zuckers keine Gedanken machen muss.

Woher kommt diese Angst, die uns nach Geländern Ausschau halten lässt?

Die Menschen hier haben, obwohl sie keine fürchterlichen Katastrophen oder Kriege erlebt haben, das Gefühl, dass alles zusammenbricht. Sie haben Angst vor der Klimakatastrophe, vor demDas Bürgertum hat Abstiegsängste, und diese sind berechtigt, sagt Anna Katharina Hahn. Bankencrash, und sie bedauern, dass die schön-ordentliche Schwarz-Weiß-Teilung Ost-West nicht mehr existiert, die die Welt so wunderbar geordnet hat. Heute gibt es unendliche Möglichkeiten und so viele Dinge, mit denen umgegangen werden muss. Und das Bürgertum – ich finde es schwierig, immer mit diesen Schubladen zu arbeiten, aber sonst kommt man ja gar nicht zurecht – also das Bürgertum hat Abstiegsängste, und die sind berechtigt. Viele Menschen brauchen zwei, drei Jobs, um zu überleben. Der kleine Ausschnitt Bürgertum, den ich in meinem Roman thematisiere, baut auf diesen Ängsten auf, die die Leute jeden auf seine Art zucken lassen wie unter Stromstößen.

Inwieweit teilt unser kapitalistisches Wirtschaftssystem diese Stromstöße aus?

Ob die Freiheit, die wir hier genießen, nur eine wirtschaftliche ist oder ob wir uns auch immer noch frei fühlten, wenn wir nicht wüssten, wie wir unsere nächste Miete und unsere nächste Mahlzeit bezahlen würden – das ist eine Frage, die sich vielleicht in einem oder mehreren Jahren beantworten lässt. Wenn wir darüber sprechen können, wie Europa sich in der Krise bewährt hat. Ich kann nur mutmaßen und beobachten und beschreiben.

Sie beschreiben ja so genau, dass sich Ihre Nachbarn zum Teil ausgespäht fühlen. Schauen Sie bei Recherchen in die Fenster der Nachbarn?

Ich schreibe nicht über Leute, die ich kenne, außer über mich selbst. Ich habe nicht über meine Nachbarn geschrieben, obwohl viele meinen, dass sie gemeint sind. Das ist oft traurig und auch unangenehm, weil immer wieder Leute verärgert sind. Aber es gibt nun mal sehr viele Menschen, die auf Waldorfpädagogik schwören und aus Prinzip nie weißen Zucker kaufen. Dafür muss ich nicht bei meinen Nachbarn durchs Fenster schauen. Sicher wird auch in meinem neuen Buch wieder jemand sagen: Das bin ja ich. Das ist auch in Ordnung, weil es viele Dinge gibt, die universell sind.

Sie haben einen schonungslosen, direkten Blick auf die Welt. Und eine Schwäche für absurde Alltagsgeschichten wie in "Sommerloch". Mögen Sie Einzelgänger?

Ich bewundere den Mut, sich auszuklinken aus allen Zusammenhängen. Obwohl das die meisten nicht freiwillig tun. Aber ja, ich bin schon ein großer Freund von verschrobenen Gestalten.

Weil diese verschrobenen Gestalten das Leben bereichern?

Es ist vor allem ein Spiegel. Weil wir alle gefährdet sind, herauskatapultiert zu werden aus den gewohnten Gleisen, abzugleiten, selbst verschroben zu werden. Man kann mit den Einzelgängern zeigen, wie jemand herausfällt aus allen gesicherten Zusammenhängen.

Herausfallen ist das eine, aber brechen diese Menschen nicht auch auf? Machen sich auf die Suche nach einem anderen, einem eigenen Weg?

Jeder muss diesen Weg für sich rausfinden, es gibt keine ideale Lösung. Auch Aussteigen ist Hahn sieht in den S-21-Protesten viel Romantik: eine Sehnsucht nach heiler Welt, nach Wald und Bäumen.nicht der Königsweg. Ich kann nur wie ein Filter diese Dinge beobachten und beschreiben. Aber ich bin auch nicht der Mensch, der sagt, das ist der allerbeste Weg. Das wäre vermessen.

Sind Ihre Romanfiguren glücklich?

Bestimmt nicht! Aber wer ist schon glücklich? Ich glaube nicht an Glück. Das halte ich für eine Illusion. Es gibt so etwas wie Zufriedenheit, höchstens Glücksmomente. Glücksversprechen halte ich für eine verlogene Angelegenheit.

Wir haben im deutschsprachigen Raum tausende Bücher über Glück. Warum?

Weil eine große Sehnsucht geblieben ist, dort, wo die kirchlichen Institutionen mit ihren Heilsversprechen weggefallen sind und einen Leerraum hinterlassen haben. Und mit Glücksversprechen lässt sich wie mit Kochbüchern viel Geld verdienen.

Welche Sehnsucht nehmen Sie derzeit in Stuttgart wahr?

Ich entdecke in den Protesten gegen den Bahnhof sehr starke romantische Komponenten. Eine Sehnsucht nach heiler Welt, nach Wald und Bäumen. Diese romantischen Wurzeln interessieren mich mehr als die konkrete Forderung nach mehr direkter Demokratie.

Wir haben von Brüchen und Aufbrüchen gesprochen. Ist der S-21-Protest so ein Aufbruch?

Auf den Demonstrationen war ich oft und fand schon erstaunlich, wie sich der Protest potenziert hat und wie viele kreative Einfälle und bunte Gestalten dabei waren.

Worin liegt für Sie die Romantik des Protests?

Viele wünschen sich so sehr, dass alles bleibt, wie es ist. Das ist auch romantisch. Ich bin sehr oft gebeten worden, Position zu beziehen, und habe es nie getan. Ich möchte nur beschreiben, was mich daran fasziniert hat. Wie die Bäume verherrlicht wurden, wie die Menschen die Bäume, mehr oder weniger, ans Herz gedrückt haben. Wie Altäre entstanden sind im Schlossgarten, wie sehr die Leute sich mit Fleisch und Blut auch an diese Bäume gehängt haben und in ihnen gewohnt haben. Wie stark die Sehnsucht nach Gemeinschaft war, wie alte und ganz junge Menschen plötzlich eine Ersatzfamilie gefunden haben, das hat mich wirklich berührt. Da ist ein großer Strom von Sehnsucht, nicht allein zu sein, sich gebraucht zu fühlen, sich mit dem ganzen Sein vor etwas zu werfen, etwas zu beschützen, sich zu engagieren oder einfach dabei zu sein. Was da an Kraft und Energie für diesen Bahnhof kanalisiert wird! Das hat mich fasziniert und gleichzeitig geärgert. Da stand dann Taliban, Platz des himmlischen Friedens, Montagsdemo, und das halte ich für zu große Schuhe.

Wenn das Leben nur Rationalität verlangt, dann bedeutet die Romantik des Protests doch auch eine Chance?

Es ist ein bisschen wie Woodstock. Wir sind die Guten, und wir marschieren jetzt alle für das Gute. Was für eine Verschwendung von Zeit und Kraft. Es gibt brennendere Probleme, doch die sind zu weit weg: der Krieg in Afghanistan, Hunger in Afrika. Wir Menschen, da nehme ich mich nicht aus, sind nur zu mobilisieren, wenn der eigene Kittel brennt.

Das klingt ziemlich hoffnungslos. Wie gefährlich ist es, wenn Sehnsucht nicht gestillt wird?

Eine Gesellschaft wird zusammengehalten davon, dass die Kluft zwischen Arm und Reich nicht zu groß ist und dass es eine einigermaßen funktionierende Mittelschicht gibt. Womit wir wieder beim Bürgertum wären und den Sehnsüchten. Man kann natürlich als Resultat des S-21-Protests ganz rational sagen, wir brauchen mehr direkte Demokratie. Und es wird sicher eine vernünftige Idee sein, sich in der Hinsicht zu bewegen. Es muss eine gewisse Verteilungsgerechtigkeit herrschen, für die eine Stadt zu sorgen hat. Und das wird in den nächsten Jahren und Jahrzehnten nicht einfach werden, auch nicht in Europa.

Stuttgarter Aufbrüchle: diese Formulierung findet Anna Katharina Hahn herrlich.

In Israel und in den USA gibt es diesen Aufbruch schon, der mehr ist als das Stuttgarter Aufbrüchle am Bahnhof. 

Aufbrüchle ist herrlich.

"Occupy Wall Street" heißt die Devise in den USA. Am vergangenen Wochenende gab es Demonstrationen in London, Rom, Berlin, Frankfurt und Stuttgart. Verändert sich gerade unser Leben?

Ich hoffe, so pessimistisch mein Grundcharakter auch ist, dass in dem derzeitigen Schlamassel die Chance besteht, Dinge zu verändern, zu verbessern. Es macht mich froh, zu sehen, wie viele Leute auf die Straße gehen und wie stark der Wille ist, politisch zu handeln. Das halte ich für sinnvoller und wichtiger, als Bahnhöfe zu beschützen.

Könnte das ein Aufbruch werden wie in den 60ern? Auch in Deutschland?

Bei uns ist der Leidensdruck noch nicht so groß wie in den USA. Wenn's einem an den Kragen geht, dann geht man auch auf die Straße. Ich hoffe nicht, dass das hier passiert. Aber ich bin kein Prophet. Wie soll ich das wissen?

Wir verlangen keine prophetischen Fähigkeiten. Bleiben wir bei Ihrem Roman "Kürzere Tage". Wie wird Judith in zehn Jahren leben?

Ach, Judith! Judith wird immer Tabletten nehmen. Das ist eben ihre Lösung. Aber Sie wollen wissen, wie ich mir Stuttgart in zehn Jahren vorstelle? Ich traue mir solche Prognosen nicht zu. Wer hätte denn vor zwei Jahren an einen arabischen Frühling gedacht?

Gedanken über die Zukunft macht sich die Menschheit, seit sie denken kann. Und seit Jahrhunderten wird das auch in der utopischen Literatur aufgeschrieben. Utopien haben einen Fahrplan, sagt Ernst Bloch. Sie sagen etwas über die Zeit aus, in der sie geschrieben werden. Sie transportieren Wünsche und Hoffnungen, aber auch Ängste. In diesem Sinne bitten wir um einen Blick in die Zukunft.

Ich denke, das gesellschaftliche Zusammenleben wird in zehn Jahren noch stärker davon bestimmt sein, dass sehr viele alte und sehr wenige junge Leute miteinander klarkommen müssen. Außerdem werden wir zurückstecken und bescheidener leben müssen. Es gibt die Chance, das "Immer höher, schneller, weiter, besser" zu durchbrechen. Aber die größte Herausforderung wird die demografische Problematik sein. Und sehr spannend finde ich, wie es mit den neuen Medien weitergeht und wie sich die virtuelle Realität entwickelt.

Fürchten Sie sich davor, dass Bücher nur noch elektronisch zu haben sind?

Vielleicht haben meine Kinder einmal ein Kindle und Platz für andere Sachen. Aber Bücher nicht mehr anfassen zu können, nicht mehr blättern zu können, finde ich erschreckend. Das hat doch eine starke erotische Qualität. Ich hoffe, dass sich das nicht durchsetzt. Und um den Bogen zur Erotik zu schlagen: Cybersex hat sich auch nicht durchgesetzt.

Das Gespräch führten Rainer Nübel und Susanne Stiefel. Fotografiert hat Martin Storz.

Anna Katharina Hahn hat sich einen roten Pulli für den Fotografen angezogen. Doch auf dem Dach des Linden-Museums weht an diesem Herbsttag ein kalter Wind. Die schmale Anna Katharina Hahn mit den Kontext-Redakteuren Susanne Stiefel und Rainer Nübel. Frau schlingt die Arme um sich, lächelt entschuldigend: Der Mantel bleibt an. Die Stuttgarter Schriftstellerin hat sich für das Interview mit der Kontext:Wochenzeitung losgeeist von ihrem zweiten Roman, dessen Fahnen sie im Moment überarbeitet. Im März soll er auf den Markt kommen. Nur so viel will die 40-Jährige verraten: "Es geht um die Liebe zwischen zwei Männern, eine Art Wahlverwandtschaft. Es geht um zwei Generationen und ihre Sehnsüchte. Es geht um Mörike und wieder um Stuttgart, mein ganz eigenes Stuttgart."

Von Anna Katharina Hahn sind erhältlich: "Sommerloch" (Hamburg 2000), "Kavalierdelikt" (Frankfurt 2004) und "Kürzere Tage" (Suhrkamp 2009). Sie wurde ausgezeichnet mit dem Literaturförderpreis der Stadt Hamburg, einem Stipendium der Kunststiftung Baden-Württemberg und dem Roswitha-Preis. Dies ist der älteste Literaturpreis, der nur an Frauen verliehen wird und den bereits Birgit Vanderbeke, Luise Rinser und Herta Müller erhalten haben. (sus)


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8 Kommentare verfügbar

  • Jue.So Jürgen Sojka
    am 23.08.2020
    Antworten
    „Die Fallen des Bürgertums …“ Jetzt darf sich Bürgerin und Bürger nicht ge~fallen lassen, was STAATSDIENERN aufgetragen wird, bei diesen jedoch auf _ihr_ Miss~fallen stoßen muss, und also von _ihnen_ abzulehnen ist! Wie hier … [1]
    Schließlich: Staatsdiener haben ihren AMTSEID _nicht_ gegenüber…
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